Anna-Lena Wenzel

Dr. Anna-Lena Wenzel* ist Autorin und Künstlerin. Nach ihrem Studium der Angewandten Kulturwissenschaften in Lüneburg promovierte sie über „Grenzüberschreitungen in der Gegenwartskunst“. Sie betreibt das Online-Magazin 99 % Urban und den Radiosalon für Alltägliches und ist in unterschiedlichen kollektiven Zusammenhängen unterwegs.

Objekt des Monats im Märkischen Museum

10.12.2019
Foto: Stadtmuseum Berlin

Das Märkische Museum gibt Einblick in seine umfangreiche Sammlungen durch ein neues Vermittlungsformat: Das Objekt des Monats.

Ein Besuch des Märkischen Museums ist wie eine Zeitreise. Das liegt nicht nur daran, dass hier Berliner Geschichte von der Eiszeit bis zur Gegenwart präsentiert wird, sondern auch daran, dass das Gebäude Vorbilder aus verschiedenen historischen Epochen zitiert. Der Architekt Ludwig Hoffmann orientierte sich beim Bau an der Geschichte der Mark Brandenburg und entwarf ein Gebäude, das unter anderem mittelalterliche und gotische Architekturelemente enthält und Räume beherbergt, die durch ihre Gestaltung verschiedene historische Epochen wachrufen.

War das Museum zur Zeit seiner Eröffnung 1908 das erste Gebäude der Welt, das speziell als Stadtmuseum konzipiert war, ist es nun selber Geschichte – und steht kontinuierlich vor der Herausforderung sich zu aktualisieren. Seitdem Paul Spies 2016 den Direktorenposten des Hauses übernahm, hat er zahlreiche Versuche in diese Richtung unternommen: es gibt eine neue Dauerausstellung mit dem Titel BerlinZEIT, neue Formate, wie das Objekt des Monats, und zahlreiche Vermittlungsangebote. Das Motto: „Bestand hat in Berlin nur die Veränderung. Berliner Geschichte ist dabei immer die Geschichte seiner Bewohnerinnen und Bewohner. Selbst jene, die normalerweise nicht im Zentrum einer Stadtgeschichte stehen, kommen hier zu Wort.“ Der Anspruch ist, das Haus stärker zur Stadt hin zu öffnen und gleichzeitig mehr Einblick in die Sammlungen des Stadtmuseums Berlins zu gewähren.

Um zum Objekt des Monats zu gelangen, durchquert man das halbe Haus und gewinnt schnell einen Eindruck davon, wie gut es dem damaligen Architekten gelungen ist, historische Räume nachzubauen – und die Besucher*innen durch die Gleichzeitigkeit historischer Epochen und Raumelementen zu verwirren. Deutlich wird aber auch sofort der Wunsch spürbar, das Haus zu „modernisieren“, an die Gegenwart anzudocken und einen Ort des Verweilens zu schaffen. Spätestens bei den Fotografien von Annette Frick im Foto-Grafischen Kabinett ist man im Heute gelandet: es zeigt unter dem Titel Abriss, Trümmertunten und internationale Individuen Schwarz-Weiß Bilder von 1991 bis 2010. Im nächsten Raum mit der Überschrift Menschen – Berliner Zimmer kann man Interviews mit Berliner*innen lauschen. Auf knarzendem Fischgrätparkett geht es weiter zum Objekt des Monats, das mit einem Schriftzug an der Wand angekündigt wird. Hier waren bisher unter anderem eine Porzellanfigur von Eisbär Knut, ein Wollnashorn-Kieferknochen aus der Eiszeit und ein Werbeaufsteller des Café Regensburger aus den 1930er Jahren zu sehen.

Gleisdreieck, gefaltet, Foto: Esther Ernst

Die Künstlerin wohnt in unmittelbarer Nachbarschaft zum Park und hat dessen Transformation über Jahre verfolgt: „Als ich 2003 in die Berliner Möckernstraße zog, war das ehemalige Bahngelände eine wilde Stadtbrache mit dichter, abwechslungsreicher Vegetation. An den Kreuzberger Rändern versammelte sich informelles Autogewerbe, in Schöneberg dubiose Diskotheken. Ein Golfabschlagplatz folgte, Zirkuszelte wurden aufgebaut, eine touristische Riesenradanlage geplant. Schlussendlich setzte sich aber eine Bürgerinitiative mit der Idee des Naherholungsgebiets durch.“

Die subjektive Kartierung des Parks füllt aber nicht die ganze Fläche aus – an den Rändern ist ein Teppich angedeutet. Ich frage die Künstlerin, wie sie auf dieses Motiv gekommen ist: „Ich mag, wie in Teppichen Geschichten erzählt werden, wie sie genutzt werden, um Räume nachzubilden. Wie auch meine Kartierung, erzählen Teppiche Geschichten. Aber es ist keine reine Abbildung, es sind Assoziationen, die hier drin verwoben sind.“ Sie erzählt, dass die Zeichnung in einem Zeitraum von fast einem halben Jahr entstanden ist, der allerdings von einem drei-monatigen Stipendium in Kairo unterbrochen wurde. „Aber ich bin nicht jeden Tag unterwegs zum Zeichnen,“ sagt sie noch. „Man muss auch in der richtigen Stimmung sein, um sich auf den Ort einlassen zu können und das Gesehene zu transformieren.“

Gleisdreieck, Detail, Foto: Esther Ernst

Im Dezember ist das Objekt des Monats die Arbeit Gleisdreieck der Künstlerin Esther Ernst. Auf einer schrägen Platte befindet sich eine großformatige Zeichnung, die sich aus mehreren Din-A4 Zetteln zusammensetzt, die man zusammenfalten kann. Im Ausstellungstext ist nachzulesen, dass die Künstlerin auf der Zeichnung botanische, architektonische und historische Elemente mit persönlichen Geschichten vermengt, die sie im zwischen Mitte, Kreuzberg und Schöneberg gelegenen Park vorgefunden und kartiert hat. Mit Bleistift hat sie detailgenau Häuser und Straßenzüge, Volleyballfelder und Kleingärten festgehalten und dann mit unterschiedlichen Farben einzelne Areale markiert: die Grünflächen in Grün, die Neubaugebiete in Rosa, einzelne Siedlungen aus den 1970er Jahren sind orange gehalten, in Blau zieht sich der Landwehrkanal durch die Szenerie. Entstanden ist ein Wimmelbild, an dem man sich nicht satt sehen kann, und auf dem sich konkret Beobachtetes mit assoziativen Motiven vermischt – so ist der Straßenstrich in der Kurfürstenstraße kurzerhand in eine Herzdame verwandelt worden. Auch stimmen die Maßstäbe nicht immer. An einer Stelle sind Blätter und Samen, die die Künstlerin in den Schrebergärten gefunden hat, übergroß einzeichnet; auch einige Figuren stechen ob ihrer Größe und ihren ungewöhnlichen Verkleidungen hervor. Die Künstlerin erzählt, dass diese auf Brauchtümer verweisen, wie es sie in der Schweiz und anderen Ländern gibt, zu denen sich die Menschen verkleiden, um Geister zu vertreiben. An einer Stelle sind mehrere kleine Häuser aufeinander gestapelt. Was hat es damit auf sich? „Das sind die ganzen Kleingartenhäuschen, die ich noch mal übereinander gelegt habe. Ich habe dabei an Appenzeller Darstellungen von Landschaften gedacht, die man als naive Malerei bezeichnen kann, weil es eher Sammlungen von Objekten sind, als dreidimensionale Räume. Ich mag diese Zeichnungen, weil sie diesen subjektiven Blick haben und ganz offen zur Schau stellen.

Ergänzt wird die Kartierung des Gleisdreieckparks von zwei Zeichnungen, die auf dem gleichen Konzept beruhen: Auch sie bestehen aus einzelnen Blättern, die hier allerdings noch kleiner gefaltet werden. Auf diese Weise lassen sie sich einfacher transportieren, was wichtig ist, wenn die Künstlerin draußen oder auf Reisen zeichnet. Für die Zeichnungen pendeln – railway und pendeln – airway hat die Schweizerin, die seit 2003 in Berlin lebt, aber häufig hin und her pendelt, ihre Reisen zwischen Berlin und dem Schweizer Solothurn kartiert.

Ich möchte wissen, wie die Arbeit in das Stadtmuseum gekommen ist und Esther Ernst erzählt, dass 2018 die Ankaufskommission der Senatsverwaltung für Kultur und Europa bei ihr im Atelier zu Besuch war. Martina Weinland, Beauftrage für das kulturelle Erbe im Stadtmuseum und Mitglied der Ankaufskommission fand meine Arbeit toll und wollte gerne eine Arbeit für das Stadtmuseum erwerben, die aber einen Stadtbezug haben sollte. „Daraufhin habe ich die Karte zum Gleisdreieckpark begonnen, und dabei mehrere Arbeitsweisen kombiniert: das tägliche tagebuchartige Zeichnen, das Anfertigen von raumfüllenden ortsbezogenen Wandzeichnungen und die kartografischen Zeichnungszyklen.“

Wer sucht sonst die Objekte im Märkischen Museum aus, will ich wissen, und werde an Frau Randy Rathenow, Museologin und ab nächstem Jahr für das Objekt des Monats zuständig, verwiesen. Sie sitzt in Spandau, dort wo sich Büros und das Zentraldepot des Museums befinden. Ich frage sie zunächst wie die Objekte ausgewählt werden: „Die Objekte werden von den Kolleg*innen aus den Sammlungen vorgeschlagen.“ Wie groß ist denn ihr Depot, will ich daraufhin wissen. „4,5 Millionen Objekte umfasst die Sammlung!“ sagt sie und ergänzt: „Mit diesem Format gibt es die Gelegenheit Objekte zu zeigen, die sonst nicht gezeigt werden, weil sie weder in die Dauerausstellung passen noch für temporäre Ausstellungen ausgewählt werden.“ Es gibt mehrere Kategorien wie Gegenwärtig: erworben, Gegenwärtig: restauriert oder Gegenwärtig: Geburtstag, die von der bisherigen Projektleiterin und Sammlungskuratorin Irina Tlusteck entwickelt wurden. Ist ein Objekt neu in der Sammlung, wurde es frisch restauriert oder feiert irgendein Jubiläum, dann besteht die Möglichkeit das Objekt hier auszustellen und in einem kurzen Film seine Geschichte zu erläutern. Eine schöne Gelegenheit exemplarisch an einem einzelnen Gegenstand Einblick in die Vielfalt der Sammlungen und die Museumsarbeit zu geben – und tolle Objekte auszustellen!

Märkisches Museum

Am Köllnischen Park 5

10179 Berlin

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