Herkömmliche Ausstellungstexte vermitteln Fakten, sind sachlich und informativ geschrieben. Im Pergamonmuseum gibt es nun Aufsteller mit Texten, die plötzlich andere Aspekte stark machen: „Nach so vielen Jahren strahlen sie so eine Wärme aus, ein Wohlbefinden und etwas Sinnliches aus“, heißt es über das Fragment eines Teppichs aus dem 16. Jahrhundert. Ein ungewohnt emotionaler Ton. Eine Schale aus dem Iran aus dem 10./ 11. Jahrhundert wird kommentiert mit: „Für die damalige Zeit muss das ein relativ mutiger Gestalter gewesen sein.“ Dass sich jemand in das Mindset des Gestalters einer Schale hineinversetzt, ist ebenfalls ungewöhnlich. Vor dem Ischtar-Tor heißt es auf dem Aufsteller: „Ich habe die Bilder des Ischtar-Tors und der Prozessionsstraße in meiner Kindheit in meinem Lehrbuch gesehen.“ Persönliche Bezüge oder die Rezeptionsgeschichten von Objekten kommen in Infotexten normalerweise auch nicht vor.
Die Aussagen stammen von Aufsichten, die nicht aufgrund ihrer fachlichen Qualifikation im Museum arbeiten, sondern dafür verantwortlich sind, die Kunstwerke zu bewachen. Das heißt, sie sind keine Kunsthistoriker*innen oder Expert*innen für islamische Kunst. Dennoch haben sie täglichen Kontakt zu den Objekten und verbringen dadurch mehr Zeit mit ihnen als jede*r Sammlungsleiter*in. Sie bekommen mit, wie die Besucher*innen auf sie reagieren und wie sie kommentiert werden („Einmal kam ein Ehepaar rein und die Frau sagte zu ihrem Mann, indem sie ihn anstupste: ‚Siehste, wie die Nase des Mannes, so sein Johannes‘“ – ist eine der Anekdoten, die Volker Schmidt, Oberaufsicht im Alten Museum, beisteuert).
Durch ihre Präsenz in den Ausstellungsräumen, ihre diversen kulturellen Hintergründe und ihre vorherigen Berufe bringen die Aufsichten Wissen mit, das durch das Projekt Jeden Tag im Museum für die Dauer einiger Monate mit den Besucher*innen geteilt wird. Zu insgesamt 34 Objekten in den Dauerausstellungen im Pergamonmuseum, im Neuen Museum, im Alten Museum und in der Gemäldegalerie (sowie Kunstgewerbemuseum, Museum europäischer Kulturen und Schloss Köpenick) wurden Aussagen von Aufsichten gesammelt und werden nun in Form von Aufstellern präsentiert, die neben den jeweiligen Objekten aufgestellt sind. Darauf befinden sich neben einem prägnanten Zitat, Name, Foto und Kurzinfo der Aufsichten. Auf einem kostenlosen Flyer, den man mitnehmen kann, kommen die Aufsichten noch etwas ausführlicher zu Wort. So erfährt man, dass Sergey, dessen Lieblingsobjekt das Ischtar-Tor ist, Grafikdesigner und Kunstlehrer war, bevor er angefangen hat, im Museum zu arbeiten. Auf dem Flyer ist nachzulesen, warum er den Altar ausgewählt hat: Dort ist zu lesen: „Ich komme aus Lettland. In meiner Jugend habe ich eine Ausbildung gemacht als Kunstlehrer, in Zeichnen und Malerei gemacht, aber ich viele Jahre als Grafikdesigner gearbeitet. Ich habe die Bilder des Ischtar-Tors und der Prozessionsstraße im meinem Lehrbuch gesehen, in meiner Kindheit. Für mich war es eine Überraschung, dieses Werk in Realität in Berlin, im Zentrum Europas, zu treffen.“
Informationen wie diese heben die Aufsichten aus ihrer Anonymität hervor, werten ihre Perspektive und ihre Zugänge auf. Dass die Aufsichten selber Künstler*innen sind oder sich für Kultur interessieren, kommt dabei gar nicht so selten vor, wobei es eigentlich egal ist, woher sie kommen, entscheidend sind die unterschiedlichen Perspektiven, die sie mitbringen. So interessiert sich Christian Pischel, der eigentlich vom Bau kommt, „sehr für die Eigenschaften der Objekte, also sprich deren Haltbarkeit, ihre Materialien.“ Andere sind besonders von den kleinen, unscheinbaren Objekten fasziniert, die erfrischende Fragen aufwerfen: „Ist das ein Stempel, ist unten drunter vielleicht ein Symbol von Marduk? Ist das Merchandising?“
Insgesamt 30 Personen haben mitgemacht, wobei nicht alle ihren vollen Namen nennen, Angaben zu Ausbildungen oder früheren Jobs machen oder mitteilen wollten, wie lange sie schon für die Museen arbeiten. Catalin Heroven, die das Projekt zusammen mit Lisa Botti konzipiert hat, erzählt, dass die Resonanz am Anfang eher verhalten war, aber dann durch Mund-zu-Mund-Propaganda immer größer wurde. Die anfängliche Skepsis kann auch damit zusammenhängen, dass die Aufsichten, die zum Sicherheitspersonal gehören, nicht bei der Stiftung Preußischer Kulturbesitz angestellt sind, sondern für externe Firmen wie Dussmann oder Bewa arbeiten. Vorkenntnisse bräuchten sie keine, erzählt Thomas Burghardt, um als Sicherheitspersonal eingestellt werden zu können. Man müsse lediglich einen zweiwöchigen Jobvorbereitungs-Kurs belegen (Kostenpunkt für die angehenden Aufsichten: ca. 350,00 Euro) und könne dann direkt anfangen. Eine inhaltliche Einführung würde es dabei nicht geben, auch weil es explizit nicht zur Aufgabe der Aufsichten gehöre, auf inhaltliche Fragen zu antworten. Wenn sich die Mitarbeitenden informieren würden, dann aus privatem Interesse. So würde er schon mal etwas nachlesen oder sich mit älteren Kolleg*innen austauschen, um etwas mehr über die ausgestellten Objekte zu erfahren.
Die Tatsache, dass sich das Projekt auf so viele Häuser verteilt, ist Fluch und Segen zugleich: Werden dadurch möglichst viele Museen einbezogen, kann es schnell passieren, dass man sehr lange laufen muss, um das erste Mal einem Aufsteller zu begegnen. Ein weiterer Wehmutstropfen: die Ausstellungsintervention ist nur temporär angelegt. Zeitlich befristetet ist auch das Projekt „Diversität als Narrative“, das die Sonderpräsentation unterstützt. Es ist Teil des überregional angelegten Programms 360° der Kulturstiftung des Bundes und verfolgt das Ziel „Kulturinstitutionen dabei [zu unterstützen], sich intensiver mit den Themen Migration und kulturelle Vielfalt als chancenreiche Zukunftsthemen auseinanderzusetzen und neue Zugänge und Sichtbarkeiten für Gruppen der Gesellschaft zu schaffen, die bislang nicht ausreichend erreicht wurden.“[1]
Catalin Heroven übersetzt das so: „Es geht darum, mit diesem Projekt ein Spotlight auf die Vielfalt der Perspektiven zu setzen, die in den Museen zusammenkommen.“ Das Bewusstsein für die Dringlichkeit einer Multiplizierung der Perspektiven zeigt sich parallel auch noch in anderen Berlin Museen, wie dem Projekt Kinder kuratieren_Takeover imMartin-Gropius-Bau (bis 14. 8.2022) oder dem partizipativen, digitalen Sammlungsexperiment zum Anthropozän Natur der Dinge desMuseums für Naturkunde. Verfolgt letzteres einen Citizen Science-Ansatz, was bedeutet, dass Bürger*innen aufgerufen werden, Teil der Forschung des Museum zu werden, basiert ersteres auf Kooperationen des Museums mit verschiedenen Schulen. Das gehört mittlerweile zur Vermittlungs- und Outreacharbeit fast jeden Museums, dass jedoch die Kinder dabei die Rolle der Kurator*innen einnehmen und die Ergebnisse der Kooperation mit den Besucher*innen geteilt werden, ist erstaunlich.
Es bleibt zu hoffen, dass die Projekte trotz ihrer zeitlichen Begrenzung nachhaltig und strukturell in die Museen wirken. Dass es sich lohnt, Museen zu Orten machen, die offen sind für die Aktivierung der (historischen) Objekte und Kunstwerke durch die diversen Lebens- und Erfahrungswelten der Besucher*innen und Beteiligten, belegt das Projekt „Jeden Tag im Museum“ durch die bereichernden Zugänge, die dort vermittelt werden.
[1] https://www.360-fonds.de/programm/
“Jeden Tag im Museum. Aufsichten präsentieren ihre Lieblingswerke”
17. Juni – 2. Oktober 2022
Eine Sonderpräsentation im Pergamonmuseum, Neues Museum, Altes Museum, Gemäldegalerie u.a.
https://www.smb.museum/ausstellungen/detail/jeden-tag-im-museum/