Anna-Lena Wenzel: Für das Archiv der Flucht hast du zahlreiche Interviews geführt. Nun tauschen wir die Rollen. Wie fühlt sich das für dich an?
Mohammad Sarhangi: Es ist beides angenehm. Das Schöne ist, ich muss jetzt weniger machen als du, also ist es für mich ein bisschen gemütlicher [lacht].
ALW: Bevor wir anfangen: Wie viel Zeit hast du mitgebracht?
MS: So viel du brauchst.
ALW: Das ist sehr großzügig! Zunächst möchte ich sagen, wie beeindruckt ich von dem Archiv war. Ich finde bemerkenswert, wie divers die Fluchtgeschichten sind, die ihr eingefangen habt – was die Personen, die Herkunftsländer und die Fluchtgründe betrifft. Es gibt Personen, die von ihrer Vertreibung während des Zweiten Weltkrieges erzählen und einige, deren Fluchtgeschichte jünger ist, weil sie über die Balkanroute nach Deutschland kamen. Es gibt Menschen, die als Vertragsarbeiter*innen aus Vietnam in die DDR kamen und mehrere, die aus der DDR in die BRD geflohen sind. Es gibt Intellektuelle, die aus politischen Gründen ins Exil mussten und Menschen, die aus Perspektivlosigkeit ihre Länder verlassen haben. Manche wurden zur Einreise ermutigt – wie die Frau aus Kolumbien, der Asyl in der DDR angeboten wurde, oder die sogenannten Russland-Deutschen – während anderen möglichst viele Hürden in den Weg gelegt wurden. Waren die Flüchtlingsbewegungen im Jahr 2015 Ausgangspunkt des Projektes?
MS: Ich glaube ja. Alles hat mit Carolin Emcke angefangen, die 2016 bereits erste Gespräche mit meiner Doktormutter Stefanie Schüler-Springorum geführt hat. Ich wurde dann im Sommer 2017 als Interviewer angefragt, weil Carolin Emcke nicht nur bei den Gesprächspartner*innen auf Diversität gesetzt hat, sondern auch mit einer diversen Gruppe von Interviewer*innen arbeiten wollte, was die ethnische Herkunft, Religiosität, aber auch sexuelle Orientierung und Identität sowie Klasse und soziale Herkünfte betraf. Die Frage war, wie wir die Menschen finden, die uns ihre Geschichten erzählen und uns ihre Zeit zur Verfügung stellen? Sie hat mich gefragt, ob ich mir vorstellen könne, ihr bei der Suche zu helfen. Ich hatte gerade meine Dissertation abgegeben und plötzlich war ich angestellt im HKW und war verantwortlich für die Suche unserer Gesprächspartner*innen und involviert bei wissenschaftlich-kuratorischen Fragen! Richtig angefangen hat es dann mit ersten Workshops im Jahr 2017 und abgeschlossen war es, als die Website online ging, das war im Herbst diesen Jahres.
ALW: Was ist zwischen 2018 und 2021 passiert?
MS: So wie wir lernen mussten, wie wir die Leute finden, mussten wir auch lernen zu drehen. Das war ja jeweils ein richtiger kleiner Filmdreh! Dafür mussten wir mit den Gesprächspartner*innen und den Interviewer*innen Termine machen, im HKW einen Raum organisieren und ein Team zusammenstellen. Weil wir nicht alle am Stück drehen konnten, haben wir zum Drehen einen Staffel-Modus entwickelt, der jeweils circa eine Woche dauerte. Die erste Staffel wurde 2018 und die letzte, die siebte, 2020 während der Corona-Zeit unter erheblichen Sicherheitsbedingungen gedreht. Bei einer Staffel haben wir sieben bis zehn Personen interviewt. Es musste zeitlich gut abgestimmt sein, damit nicht zu viel Zeit zwischen Anfrage und Gespräch lag.
ALW: Das ist ein langer Zeitraum. Aber man merkt dem Archiv an, wieviel Sorgfalt drin steckt – zum Beispiel weil ihr euch extrem viel Zeit für die Gespräche genommen habt. Aus den begleitenden Texten wird zudem deutlich, wie viel Gedanken ihr euch bei der Auswahl der Personen und der Art des Interviewens gemacht habt.
MS: Ein Grund für den langen Zeitraum ist, dass wir bei der Suche der Gesprächspartner*innen immer wieder nachjustiert haben. Während wir in der ersten Staffel noch recht divers waren, haben wir bei der zweiten und dritten Staffel gemerkt, dass wir sehr viele Männer hatten. Um gezielt an bestimmte Gruppen zu kommen, haben wir mit aktivistischen und akademischen Bereichen zusammengearbeitet, wobei wir an einige Leute, wie Liao Yiwu, nur über Carolin Emcke herangekommen sind. Die Vorbereitung war sehr zeitintensiv. Carolin hat immer gesagt, wir brauchen Zeit, um zu reflektieren, zu schauen, wen wir suchen und wie wir suchen. All diese Netzwerkaufbau- und Kontaktarbeit, Vertrauen schaffen, hat Zeit gebraucht. Auf diese Art des Arbeitens hat Carolin von Anfang an bestanden. Nicht nur, dass wir uns bei dem Projekt Zeit lassen, es war eine Art Grundphilosophie des Archivs.
ALW: Ich kann mir vorstellen, dass es immer mehrerer Gespräche und eventuell Treffen bedarf, um Menschen dazu zu bringen, vor der Kamera öffentlich zu sprechen. Das braucht eine besondere Einlassung, vor allem wenn es sich um marginalisierte Gruppen handelt, die im Umgang mit Institutionen oder Presse schlechte Erfahrungen gemacht haben. Der Aufwand, der da geleistet wird, ist kaum sichtbar, ist aber elementar für das Gelingen des Projektes. Wie viele Leute habt ihr angefragt, die dann wieder einen Rückzieher gemacht haben?
MS: Also wir haben jetzt 41 Interviews im Archiv und wir haben bestimmt 100 angefragt. Manche haben kurz vorher abgesagt, manche kamen gar nicht oder haben während des Gesprächs gemerkt, dass sie nicht möchten und haben nach längerem Zögern wieder abgesagt. Auf der einen Seite waren sie froh, dass es so etwas gibt, auf der anderen Seite haben sie gesehen, dass es sich beim HKW um eine große, eher weiße, bürgerliche Institution handelt, mit der sie sich nicht identifizieren konnten. Sie hatten vorher einfach keine richtige Vorstellung davon, wie es werden wird. Uns war immer wichtig, dass sie sich wohl fühlen. Ich glaube, das kommt bei den Gesprächen auch rüber. Wir haben eine richtig schöne, kleine Kuschelecke eingerichtet, mit Couch, handverlesenen Süßigkeiten, Knabberzeug, Café und Tee. Es war uns wichtig, ihnen zu vermitteln, dass wir sie nicht nur einladen, um sie zu befragen, sondern dass wir an ihren Geschichten interessiert sind. Mit einigen von ihnen bin ich immer noch im Kontakt.
ALW: Es war bestimmt sehr wertvoll, dass in eurem Team Leute waren, die selber Migrationserfahrungen haben und sich auf diese Weise Berührungspunkte und Anknüpfungsmöglichkeiten ergaben.
MS: Ja, absolut. Bei der Suche hat es mir auf jeden Fall den Zugang erleichtert, dass ich selber eine Fluchtgeschichte habe. Ich habe gespürt, dass es ein anderes Zueinandergehen ist und ich einen Vertrauensvorschuss habe. Dieses Vertrauen zu schaffen hat viel weniger zu tun mit dem, was wir akademisch konnten, sondern mit dem, was wir als Menschen sind.
ALW: Was ich bei den Gesprächen herausgehört habe, dass einige sehr geübt darin waren, über ihre Geschichte zu sprechen und andere weniger.
MS: Das stimmt. Wir haben zum Beispiel die Autorin Sasha Marianna Salzmann interviewt, die das auf ganz brillante Weise konnte, aber wir hatten auch einige, die zum ersten Mal ihre Geschichte erzählt haben, wie Samra Habta, der aus Eritrea geflohen ist, oder Fatima Youssouf. Da entstehen ganz unterschiedliche Erzählungen. Bei einigen muss man mehr nachfragen, aber meistens ist es so, dass es einen Punkt gibt, an dem sie einfach erzählt haben. Es war auch ein bisschen therapeutisch. Viele fühlten sich danach sehr beflügelt – ich glaube, es tut uns allen gut, wenn uns jemand zuhört und das ernst nimmt.
ALW: Ja, und gleichzeitig konnte man auch spüren, dass es den Menschen nicht immer leicht fiel, von ihren Geschichten zu erzählen, die ja zum Teil sehr schmerzhaft sind.
MS: Ja, wobei wir, wenn wir gemerkt haben, dass es den Menschen unbehaglich wurde, nicht weitergefragt haben. Die großen Leitmotive unserer Arbeit waren Zeit-lassen und dass die Gesprächspartner*innen sich wohlfühlen. Es gab von Anfang an die Möglichkeit, Fragen unbeantwortet zu lassen oder die Interviews zu unterbrechen. Bei dem Interview von Carolin Emcke mit EricMbiakeukann man das gut sehen. Er hat eine sehr schmerzhafte Geschichte und bei einigen Punkten wusste er nicht, ob er das sagen möchte. Da haben wir das Interview unterbrochen, sind eine rauchen gegangen und ich habe ihm gesagt: Wenn du es sagen willst, dann sag es, aber wir werden dich dazu nicht drängen. Als er dann darüber gesprochen hat, war es für ihn befreiend. Kurz gesagt: Wir haben den Gesprächspartner*innen viel Raum gelassen, zu erzählen, was sie möchten. Bei einigen, die erst später gemerkt haben, dass sie das Gesagte nicht veröffentlichen möchten, weil es Familienangehörige entweder schaden oder beleidigen könnte, war klar, dass wir diese Teile des Gesprächs rausnehmen. Wir haben sogar einige mit in den Schnittraum genommen, damit sie selber entscheiden konnten.
ALW: Aber ihr habt sie nicht eigenständig redaktionell bearbeitet und gekürzt. Das finde ich bemerkenswert, weil man schnell dazu verleitet wird, Gespräche zu glätten, indem man Pausen, Versprecher oder Missverständnisse rausschneidet. Auf diese Weise sind die Gespräche bis zu fünf Stunden lang und fordern den Zuhörer*innen viel Zeit ab.
MS: Ja, die Zeit ist der Vorteil von Oral-History Interviews. Es ist ein Luxus, die Stille, das Schweigen und Zögern drin lassen zu dürfen. Da steckt ein großer Respekt gegenüber den Personen drin, die wir befragen.
ALW: Hast du früher schon solche Interviews geführt?
MS: Ich hatte theoretisch während meiner Dissertation damit zu tun, in der ich mich mit dem jüdischen Widerstand während des Holocaust beschäftigt habe. Meine ersten Interviewerfahrungen habe ich über Alltagsrassismus geführt, das war 2016 für eine Ausstellung im Hygiene-Museum in Dresden. Tatsächlich habe ich es im Projekt gelernt. Es gab extra Workshops zur Interviewführung, in denen darüber gesprochen wurde, wie wir was machen.
ALW: Wir haben viel über die Entstehungsgeschichte der Interviews erfahren, nun würde ich gerne mehr über die Inhalte des Archivs sprechen. Hat sich dein Verständnis von Flucht und Migration mit dem Projekt verändert? Was hast du gelernt?
MS: Das ist eine gute Frage. Allein durch die Suche und das Kennenlernen hat sich mein Verständnis von Flucht verändert, dahingehend dass es für mich nicht mehr eine klare Definition von Flucht gibt. Fluchtursachen gibt es mannigfaltige und ich denke, dass das, was gesetzlich in der Verfassung verankert ist und juristisch und politisch verhandelt wird, nichts damit zu tun hat, wie ich Flucht verstehe. Wir haben auch Vertragsarbeiter*innen interviewt, die durch einen Umschwung in ihrem Herkunftsland nicht mehr zurück konnten. Dieser versperrte Weg ist auch eine Kategorie von Flucht. Flucht heißt nicht unbedingt, dass man über die Balkanroute nach Deutschland gekommen ist. Das kann auch über ein Stipendium während des Studiums passieren. Ich halte auch nichts von dem Begriff Wirtschaftsmigration, denn wenn jemand aus wirtschaftlichen Gründen sein Land verlassen muss, dann ist es auch eine Flucht.
ALW: Das hat gut funktioniert. Hatte ich mich zuerst gefragt, wie ihr Flucht von Migration abgrenzt, hat sich mit der Zeit mein Verständnis erweitert. Ich finde das einen guten Effekt, die eigenen Vorstellungen zu befragen.
MS: Ja, wir wollen das Fluchtverständnis erweitern und haben deswegen auch Personen wie Gudrun Lintzel interviewt, die aus Schlesien vertrieben wurde, in die DDR kam und von dort in die BRD flüchtete. Das fanden einige andere der geflüchteten Gesprächspartner*innen nicht so gut, aber genau die Auseinandersetzung darüber kann ein produktiver Moment sein.
ALW: Ich finde, es gelingt euch ausgezeichnet, Flucht als universelles Phänomen darzustellen und nicht als Ausnahmesituation, auch weil einige die Geschichten ihrer Vorfahren erzählen, die ebenfalls geflüchtet sind.
MS: Die Frage wäre, ob es in einem anderen Land andere Arten des Erzählens und der Aufzeichnung von Flucht gibt. Eine unserer Gesprächspartnerinnen, Zeynep Kivilcim, hat uns bei einer Ringvorlesung gefragt, warum wir die Sachen auf diese Weise aufnehmen würden, das sei ein europäischer Blick auf Flucht. Ich hatte darauf keine gute Antwort. Dieses Archiv reproduziert eine bestimmte Art des Sprechens, aber man kann es auch als Beitrag verstehen, darüber nachzudenken, wie wir Geschichten über Flucht hören möchten. Auf der einen Seite reproduzieren wir bestimmte Erzählweisen, auf der anderen Seite wird die Erzählung dadurch aufgebrochen, dass Flucht nur ein Teil des Gesprächs ist. Je nachdem wie lange die Menschen hier sind, stand entweder das Leben im Herkunftsland im Vordergrund oder die Zeit in Deutschland nach der Flucht. Da ging es oft um Rassismus und um Gefühle der Zugehörigkeit.
ALW: Ich hatte in den Gesprächen öfter das Gefühl, dass ihr versucht, die zum Teil eingeübten Erzählungen zu unterbrechen, unter anderem, in dem ihr immer wieder nach sinnlichen Eindrücken fragt, danach wie das Essen geschmeckt hat, ob sie sich an Gerüche erinnern können, oder wie ein ganz normaler Tag aussah. Ich bin manchmal fast ein bisschen ungeduldig geworden, weil ihr z.T. wirklich viele Schlaufen dreht, bis ihr auf die Fluchtursachen und -wege zu sprechen kommt.
MS: Ja [lacht]. Aber es gibt die Sequenzierung, mit deren Hilfe man den Verlauf des Gespräches nachvollziehen und vor- und zurückspringen kann.
ALW: Mir ist besonders bei dir aufgefallen, dass du versuchst, möglichst offen zu fragen, also die Erinnerung anzuregen ohne eine Interpretation mitzuliefern.
MS: Ja, das habe ich versucht. Es gab diesen Leitfaden, aber das Schöne war, dass die Interviewer*innen alle verschiedene Hintergründe und Erfahrungen mitbrachten und sehr unterschiedliche Arten hatten, die Interviews zu führen. Gabriele von Arnim zum Beispiel ist ein Super-Profi und ihre Art unterscheidet sich natürlich von meiner Art zu fragen. Ich habe mich auch weniger als Interviewer denn als Gesprächspartner verstanden und auch mehr als jemand, der zuhört und Impulse gibt.
ALW: Ich fand das toll, weil man dadurch nicht nur Geschichten zur Flucht gehört hat, sondern im Vergleich auch auf unterschiedliche Arten des Interviewens gestoßen wird und anfängt zu reflektieren, was die jeweiligen Besonderheiten sind. Die Reflexionsarbeit, die ihr in Workshops etc. intern geleistet habt, transportiert sich dadurch nach außen – ohne explizit Thema zu sein.
Ich habe noch eine Frage zum Archivcharakter des Projekts. Ist es jetzt abgeschlossen oder versteht es sich als offenes Archiv?
MS: Das Projekt an sich ist abgeschlossen, aber es wird noch in andere Institutionen wie dem Goethe-Institut in Athen wandern. Aber genaueres weiß ich nicht, da meine Arbeit am HKW abgeschlossen ist.
ALW: Was machst du jetzt?
MS: Ich habe meinen Traumjob gefunden, von dem ich vorher noch gar nichts wusste! Ich dachte zunächst, ich würde in der Uni bleiben oder in einer Kulturinstitution arbeiten, aber jetzt bin ich bei ufuq.de, das ist ein Bildungsträger für politische Bildung, die mit Islamismusprävention angefangen haben und sensibilisieren für alles, was mit Islam zu tun hat. Die machen das schon seit 15 Jahren an Schulen, machen Multiplikator*innenausbildung und gehen in Betriebe. Ich fühle mich da total wohl, weil die Atmosphäre sehr schön ist, und ich in einem sehr diversen Team arbeite.
ALW: Wie schaust du rückblickend auf das Projekt?
MS: Ich bin sehr glücklich dabei gewesen zu sein. Die Arbeit war nicht immer leicht, aber es war eine tolle Erfahrung. Besonders die Filmdrehs sind mir in Erinnerung geblieben, weil es so intensive und warme Situationen waren.
ALW: Vielen Dank für das offene Gespräch!
Die Installation im Haus der Kulturen der Welt ist noch bis zum 20. Dezember 2021 zu sehen.