Maike Brülls

Maike Brülls arbeitet als Journalistin in Berlin. Sie hat Kulturjournalismus studiert. Ihre Texte sind unter anderem in der taz, bei VICE, ZEIT Online, DUMMY und MISSY erschienen. Außerdem arbeitet sie an Videos für verschiedene Formate des funk-Netzwerks.

Eine Soundkulisse vieler Fragen

05.02.2019
Die silberne Hand von Young Paint auf Actress' Schulter. Foto: Presse
Die silberne Hand von Young Paint auf Actress' Schulter. Foto: Presse

Die diesjährige transmediale und das CTM-Festival trafen in einem gemeinsamen Konzert aufeinander. Auf der Bühne: eine künstliche Intelligenz.

Es gibt Momente, da sieht man sich ganz unverhofft und ungeplant mit großen Fragen des Lebens konfrontiert. „Domm domm“ dröhnt der Bass, während der Mann auf der Bühne sein Handy vor einer Box hin- und herbewegt. Ein solcher ist dieser CTM-Samstag im noch ganz frischen Februar. Das CTM-Festival, das früher einmal „club transmediale“ hieß, ist ein Festival für experimentelle und elektronische Musik. Es begleitet die transmediale, ein Festival für Kunst und digitale Kultur. An diesem besagten Samstag kreuzen sich das CTM und die transmediale bei einem gemeinsamen Konzert im Haus der Kulturen der Welt. Ein Rauschen legt sich über die Zuschauerränge, ein Rauschen wie das eines elektronischen Regenmachers. Actress, der Mann mit dem Handy, steht dabei auf der Bühne, vor ihm ein Tisch mit Laptop, Synthesizer und Mischpult, zu seiner Linken ein Keyboard. Aber Actress, britischer Produzent elektronischer Musik, ist heute nicht allein. Ihn begleitet Young Paint, eine vom Musiker erschaffene Künstliche Intelligenz. Gemeinsam performen sie live auf der Bühne. Nun grollen Töne aus den Boxen, ähnlich einem sich nähernden Gewitter, dazwischen dröhnt immer noch ob und zu der Bass „Domm domm“. Einem gemeinsamen Takt folgen die Geräusche nicht, jedes gibt ein eigenes Tempo vor.

Ja, richtig gelesen. Künstliche Intelligenz, abgekürzt KI, die bald unsere Autos fahren und unsere Alten pflegen soll, kann offenbar auch Musik machen. Über ein Jahr hat Actress den Algorithmus dafür trainiert. Hat ihm seine eigene Musik gelehrt, die Maschine darauf reagieren lassen. Mittlerweile kann Young Paint auch Solos spielen. Ein Mini-Album der beiden ist bereits erschienen. An diesem Wochenende stehen sie das erste Mal gemeinsam auf der Bühne. Die Performance, so heißt es zu Beginn, erzähle aus dem Leben von Actress und von der Geburt von Young Paint. Der soll in naher Zukunft auch alleine auftreten.

Actress und Young Paint zum ersten Mal live auf der Bühne. Foto: Maike Brülls

Plötzlich, nach einigen Minuten wirrer Soundkulisse, gibt der Bass einen technoiden Rhythmus vor, schnell und hart, um den sich kurz eine Melodie schwingt. Erste Köpfe im Publikum nicken im Takt. Endlich etwas, was man kennt, auf das man zu reagieren weiß. Dann ein schrilles Fiepsen, die Sequenz endet, zurück ist die abstrakte Kulisse aus Klängen. Hinter dem Künstler aus Fleisch und Blut leuchten zwei große Leinwände. Sie zeigen Bilder, so abstrakt wie die Musik. Die Muster und Formen muten organisch an. Vielleicht das Innere eines Bauches, eine Gebärmutter?, fragt sich die*der nach Sinn suchende Zuschauer*in. Immerhin soll die Performance ja Actress’ Leben darstellen. Und an dessen Anfang steht ja logischerweise eine Geburt. Aber nein, keine Geburtsszene, stattdessen erscheint das Bild eines Zimmers, auf dessen Bett in der Mitte eine silbern glänzende Figur liegt. Ah, Young Paint! Ein schrilles Klimpern taucht immer wieder auf und ab, untermalt von einem blechernen Trommeln. Dazwischen ein Schaben und Ratschen. Keiner dieser Klänge wirkt, als würde er mit den anderen zusammengehören oder gar zusammengehören wollen. Was macht Musik eigentlich zu Musik? Braucht sie immer Rhythmus und Melodie, ist es sonst nur Geräusch?

Der Mann auf der Bühne, also Actress, trägt einen offenen Wintermantel. Er steht mal rechts am Laptop, mal links am Keyboard, tippt eine Taste, schiebt einen Regler. Welchen Sound er macht und welchen die KI Young Paint, ist nicht erkennbar. Das Publikum wirkt irritiert, guckt angestrengt, einige Menschen laufen geduckt durch die Gänge Richtung Ausgang. Young Paint, diese silberne Figur auf dem Bildschirm, ist mittlerweile aus dem Bett aufgestanden und tanzt vor einem roten Hintergrund. Wieder ein Bruch, die Soundkulisse bricht ab, abermals ertönt ein dumpfer Beat, poppig, aber tanzbar, dazu sphärische Klänge. Statt im HKW könnte man in einem Berliner Club sein. Wieder nicken Köpfe, eine Frau mit Locken mittig im Raum wirft die Arme in die Luft. Doch dann, wieder: Abbruch. Geräusche, Sounds, Töne, minutenlang überrollen sie sich gegenseitig. Überrollen auch die Stuhlreihen. Ist die Musik lauter geworden? Einzelne Menschen halten sich die Ohren zu, noch mehr schleichen sich raus. Was soll das? Diese Frage im Kopf wird mit jedem Fiepen aus den Boxen lauter. Dann ein Gedanke: Ist dies, diese Abwechslung aus Musik und Störgeräusch, nicht vielleicht eine Metapher auf Actress’ Leben, ja, auf das Leben aller, das immerhin auch mal tanzbar und mal schwer erträglich ist?

Kaum gedacht, peitscht erneut Fiepen durch den Saal. Dann kommen noch mehr Geräusche dazu, bis es so klingt, als hätte man am Computer mehrere Tabs geöffnet und sie alle spielen ein anderes Video ab. In einem knattert ein Maschinengewehr, in dem anderen brettert ein Techno-Song, und wieder einem anderen quietscht Kreide an einer Tafel. Die Suche nach der Geschichte, nach der Sinnhaftigkeit, ist längst vergessen. Spiegelt dieser Abend den Zustand, in dem sich die Menschheit befindet? Oder ist das der Sound der Zukunft? Werden in geraumer Zeit Menschen zu so etwas tanzen, so wie es heute für ältere Generationen unverständlich ist, dass man zu Techno Nächte durchtanzen kann?

Längst hat sich der*die nach Sinn suchende Zuschauer*in ergeben, gibt sich den Geräuschen hin. Ist allein mit all den Fragen, teilt die Verwirrung mit dem Publikum. Doch dann erscheint sie, die eine Frage, die der*die Zuschauer*in zu beantworten vermag: Kann Künstliche Intelligenz Sinn für Schönheit haben? Nein, offenbar nicht. Oder… Oder kann mensch Schönheit bloß nicht als solche erkennen, wenn sie außerhalb von Gewohntem liegt?

Noch mehr Leute aus dem Publikum gehen. Die Frau mit den Locken steht vor der Bühne und tanzt. Young Paint sieht mittlerweile aus wie ein Gerippe. Bestimmt der Tod, das Ende, denkt der*die nach Sinn suchende Zuschauende und verlässt den Saal in die Samstagnacht. Nimmt all die großen Fragen unbeantwortet mit.

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