Die Ankündigung des Kunstvereins, sich als lebendiger Organismus präsentieren zu wollen, klang erstmal so vage wie waghalsig, aber das Ergebnis ist überzeugend. Durch den konzeptuellen Ansatz und die radikale Raumumgestaltung hat sich die Institution in einen Begegnungsraum transformiert. Zunächst fällt das ungewöhnliche Display ins Auge. Der Künstler Marten Schech hat durch seine Raumgestaltung den „White Cube“ in ein Depot verwandelt. Dafür hat er die Wände mit Fotos tapeziert, auf denen die Kellerräume des Kunstvereins zu sehen sind. Um diesen Eindruck zu verstärken, wurden die Gegenstände, die üblicherweise im Depot lagern, in den Galerieraum transferiert, so dass Kartonrollen, Verpackungsmaterialien und Holzleisten herumstehen und sich dazwischen Kataloge stapeln. Strukturiert wird das Ganze durch Tische und Standard-Regale, die als Display für die Jubiläumspublikation dienen.
Das Jubiläum als Dankeschön
Die konzeptuelle Idee von RE:VISION ist folgende: Zur Ausstellung ist eine Publikation entstanden, in der insgesamt 2193 Personen und Institutionen alphabetisch aufgelistet sind, die in den letzten 20 Jahren hier gewirkt haben (davon 1303 Künstler*innen und 890 weitere Beteiligte wie Kooperationspartner*innen, Fördergeber*innen, Mitarbeiter*innen und Kurator*innen). 520 Künstler*innen sind der Einladung gefolgt, eine Abbildung einzureichen. Die 660 Seiten starke Publikation ist limitiert und unverkäuflich. Ihre Auflage orientiert sich an der Zahl der Beteiligten, denn: „Das Jubiläumsprojekt ist ein Dankeschön an alle, die vor und hinter den Kulissen der Galerie Nord gearbeitet, Projekte unterstützt und finanziert, Einsatz gezeigt, keine Zeit und Mühen gescheut, sich auf vielfältige Weise für den Erhalt des Kunstvereins Tiergarten eingesetzt und damit zu seiner Stahlkraft beigetragen haben“[1], heißt es im Vorwort. Und nun kommt der Clou: Die Künstler*innen sind eingeladen, während der Ausstellungsdauer künstlerische Arbeiten, die von der Größe ungefähr einer Seite entsprechen, gegen „ihr“ Katalogbelegexemplar einzutauschen.
Befinden sich zur Eröffnung noch überall Kataloge, in denen eifrig geblättert wird, wurden nach einer Woche schon zahlreiche Kunstwerke gegen die Bücher getauscht. Es sind Malereien, Fotografien und Zeichnungen, aber auch dreidimensionale Objekte; sie hängen an den Wänden, stehen auf den Regalen oder werden über einen der zwei Screens abgespielt. Zusätzlich gibt es die Möglichkeit im Tausch gegen eine Publikation eine Performance durchzuführen. Dafür hat sich der aus der Ukraine stammende Vitalii Shupliak entschieden, der am 21. September zu seiner Performance Blind View in den leergeräumten Keller der Galerie einlud. Mit einer VR-Brille auf dem Kopf, aus der mehrere schwarze Kabel herausragen, einem umgehängten iPad, auf dem Fackeln zu sehen sind, sowie einem Handy mit blankem Bildschirm, bewegte sich Shupliak durch den Raum und zwischen den Menschen hindurch. Trotz (oder wegen?) des technischen Equipments ergaben sich keine kommunikativen Situationen, Shupliak wirkte wie ein Fremdkörper in der Menge. Die Performance endete mit dem Anzünden einer schwarzen Kerze und dem Knallen einer Partykanone. Die Verbindung zur russischen Invasion wird durch einen QR-Code hergestellt, der auf einen kleinen Zettel gedruckt ist, der aus der Partykanone geflogen kam. Vor diesem Hintergrund wird die Performance noch einmal anders lesbar – wird der Eindruck von Isolation und Dystopie als politisches Statement interpretierbar.
Shupliaks Performance findet am zweiten Ausstellungswochenende statt, parallel zum dreitägigen Festival Ortstermin, und die Ausstellung ist gut besucht. Das liegt auch daran, dass immer wieder Künstler*innen vorbeikommen und ein Kunstwerk tauschen wollen. Dafür wird das Kunstwerk zunächst inventarisiert und dann von den Künstler*innen an einem Platz ihrer Wahl aufgehängt – selbstständig oder zusammen mit einer der drei Kuratorinnen. Durch das Kommen und Gehen herrscht eine geschäftige und kommunikative Atmosphäre im Raum, die blätternden Besucher*innen unterstreichen den Eindruck, dass es sich hier um ein partizipatives Projekt handelt.
Eine partizipative Ausstellung
Verantwortlich für das kuratorische Konzept sind Veronika Witte, die seit 2017 künstlerische Leiterin der Galerie Nord ist sowie Julia Heunemann und Ulrike Riebel, den beiden Vorstandsvorsitzenden. Sie kennen die Institution bereits seit ihren Volontariaten im Fachbereich Kunst, Kultur und Geschichte im Bezirksamt Mitte, während denen sie auch im Kunstverein Station gemacht haben. Seit ein paar Jahren engagieren sie sich ehrenamtlich im Vorstand. Witte und Heunemann sind vor Ort und beständig im Gespräch mit Besucher*innen, Mitarbeiter*innen und Künstler*innen. Dennoch kann ich ihnen ein paar Fragen stellen und möchte zunächst wissen, wie die Eröffnung war – das muss doch ein sehr aufregender Moment sein? „Ja, das war es! Für den Abend haben wir uns überlegt, dass nur die Bücher ausliegen, und die Kunstwerke erst ab dem nächsten Tag getauscht werden können. Genau genommen verändert die Ausstellung sich also erst seit dem Samstag vor einer Woche. Wir sind sehr gespannt, wie es am Ende aussehen wird.“ Julia Heunemann ergänzt: „Es war ein sehr besonderer Moment, weil es eine Ausstellung für alle Beteiligten ist. Wir haben uns daher als Kurator*innen bewusst zurückgehalten und eine Ausstellung konzipiert, die partizipativ angelegt ist.“
Ich hake nach, was den beiden beim Rückblick auf 20 Jahre Kunstverein aufgefallen ist. Veronika Witte antwortet: „Ich finde es interessant zu realisieren, dass bestimmte Themen wie Gender, Migration oder auch Identität schon seit 2004, als der Kunstverein gegründet und von Ralf Hartmann geleitet wurde, verhandelt werden. Gleichzeitig ist mir aufgefallen, dass wir gerade wieder ein Revival der Krise haben, auch Kürzungen, die den Kulturbereich betreffen.“ Ich möchte wissen, wo ihr Schwerpunkt in den letzten sieben Jahren lag: „Mir ist es wichtig, spartenübergreifend international und lokal zu arbeiten. Das 2-Jahresprogramm VOICE:over, in dessen Rahmen neun Ausstellungen stattfanden, ist dafür ein gutes Beispiel. Es ging darum, der sich verändernden Bedeutung der menschlichen Stimme als physischem, künstlerischem und sozialem Instrument nachzugehen. Eine andere Reihe ist Grenzgängerinnen. Hier präsentieren wir seit 2018 Künstlerinnen, die sich über Grenzen und Genres hinwegsetzen und diese erweitern und bieten ihnen ihre erste institutionelle Einzelausstellung in Berlin. Da haben wir unter anderem Käthe Kruse, Catherine Lorent und Penelope Wehrli gezeigt.“
Kunstverein und Bezirksamt: Eine einzigartige Kooperation
Zum Ende interessiert mich noch, was es mit dem „kooperativen Regiemodell“ auf sich hat, dass zwischen dem Fachbereich Kunst, Kultur und Geschichte und dem Kunstverein Tiergarten e. V. vereinbart wurde. Heunemann erläutert: „Das ist ein ziemlich einzigartiges Modell, denn normalerweise bist du entweder eine Kommunale Galerie (wie die Galerie Wedding oder der Bärenzwinger) oder ein Kunstverein (wie das Haus am Lützowplatz, die nGbK oder der Schinkel Pavillon). Diese zeichnen sich durch eine Mitgliederstruktur aus, die über Beiträge und ehrenamtlichen Einsatz den Kunstverein mitträgt. In unserem Fall werden wir im Rahmen einer Kooperation vom Fachbereich finanziell unterstützt. Neben Projektzuwendungen und der entgeltfreien Raumnutzung sind das u. a. Honorarmittel für die künstlerische Leitung. Außerdem unterstützen die Galeriearbeit wissenschaftliche Volontär*innen aus dem CAMPI (Curating and Management in Public Institutions)-Fellow-Programm des Fachbereichs. Die Kooperationsverträge werden regelmäßig neu ausgehandelt – das betrifft auch die Nutzungsmöglichkeit dieser Räume.“ „Ist das deine Rolle als Vorstandsvorsitzende?“, hake ich nach. „Ja, unsere Aufgabe im Vorstand ist es, dafür zu sorgen, dass der Verein läuft und gut arbeiten kann.“
Weil es den Kuratorinnen ein Anliegen ist, Anlässe zum Zusammenkommen und für Debatten zu schaffen, gibt es auch im Rahmen dieser Ausstellung ein vielfältiges Begleitprogramm mit Performances und eine Podiumsdiskussion zur Aktualität von Kunstvereinen. Der Ausstellung RE:VISION gelingt es, diese Aktualität unter Beweis zu stellen – weil sich die Institution durchlässig und nahbar zeigt, auf Partizipation setzt und die vielen Beteiligten würdigt, die einen Kunstverein tragen.
Infos:
Galerie Nord | Kunstverein Tiergarten
Turmstraße 75 10551 Berlin
Re:Vision, Ausstellungsdauer: 14.9.–26.10.2024
Di - Sa: 12-19 Uhr
www.kunstverein-tiergarten.de
[1] Re:vision, hrsg.v. Kunstverein Tiergarten, Berlin 2024, S. 11.