Anna-Lena Wenzel: Den Verlag gibt es ja bereits seit 1950….
Martina Wunderer: … ja, und tatsächlich ist der Verlag in Berlin gegründet worden. Peter Suhrkamp hat hier die Verlagslizenz bekommen. Dann war der Verlagssitz bis 2010 in Frankfurt am Main, wobei es schon seit 2006 in Charlottenburg, in der Nähe des Literaturhauses, ein Berliner Büro gab. 2010 zog der Verlag ins ehemalige Finanzamt Prenzlauer Berg in der Pappelallee und 2019 in das neue Verlagsgebäude in der Torstraße. Es wurde vom Architekt Roger Bundschuh entworfen, der auch schon das schwarze, prägnante Gebäude gegenüber gebaut hat und sein Büro direkt am Rosa-Luxemburg-Platz hat.
Das Haus ist an einem sehr urbanen Ort gelegen: durch die U-Bahnstation direkt vor der Tür, die vielbefahrene Torstraße, den kleinen Park um die Ecke und verschiedene Kultur-Nachbarn. Zugleich ist es ein historisch sehr aufgeladener Ort.
Ein Kollege hat mal gesagt, dass er diesen Ort so toll findet, weil es der einzige Ort in Berlin sei, wo man das Gefühl hat, in Manhattan zu sein, wenn man aus der U-Bahn kommt [lacht].
Im Insel Verlag ist vor einem Jahr ein sehr interessantes Buch über das Scheunenviertel erschienen, das im letzten Kapitel auch auf das neue Verlagshaus eingeht. Wie sich in diesem Viertel auf so engem Raum Stadtgeschichte, die Geschichte Deutschlands und ein Stück weit auch Weltgeschichte spiegeln, ist natürlich wahnsinnig spannend.
Dadurch, dass man plötzlich mittendrin ist, bekommt man noch mal einen anderen Blick auf die Orte und Gebäude, von denen man hier umgeben ist. Und wenn man sich mit der Geschichte des Scheunenviertels beschäftigt, merkt man schnell, dass diese Ecke ein sehr passender Standort ist für einen Verlag, der einerseits Literatur publiziert, aber auch Wissenschaft und Sachbuch, den Jüdischen Verlag und den Verlag der Weltreligionen. Vieles, was in unseren Programmen verhandelt wird, findet sich hier im Scheunenviertel in der Stadtgeschichte wieder; die Schauplätze gehen als literarische Orte in die Bücher ein, und die Bücher überschreiben die realen Orte und so weiter.
Der Verlagsneubau hat eine der letzten Brachen geschlossen, die es hier noch gab. Gab es auch Kritik vonseiten der Nachbarschaft?
Ja, es gab durchaus auch Proteste, weil die Ecke nicht als Brache wahrgenommen wurde, sondern als eine der letzten Grünflächen. Sich darüber Gedanken zu machen finde ich wichtig. Das war eine merkwürdige Erfahrung: Man versteht sich als ein gesellschaftlich engagierter Verlag, und plötzlich wird man für Teile der Nachbarschaft zum Feindbild. Aus ihrer Perspektive zählten wir zu denen, die zur Gentrifizierung beitragen und letzte Freiräume zerstören.
Was ich am Gebäude besonders finde, ist seine Transparenz. Man kann nicht nur in die Küchen, sondern auch in die Büros schauen. War das eine bewusste Entscheidung?
Der Verlag soll auf keinen Fall wie eine Trutzburg wirken. Die Offenheit und Transparenz des Gebäudes sollen auch für das Wirken des Verlages in die Stadt hinein gelten.
Wie fühlt es sich an, da drin zu arbeiten?
Ich mag die Gestaltung und verwendeten Materialien sehr, Sichtbeton, Glas, Holz. Das Haus ist dabei auf die Bedürfnisse des Verlags abgestimmt. So nutzen wir etwa die Innentreppen als Bibliotheken, alle Wände sind auch Bücherregale. Dadurch wird das Archiv für alle zugänglich gemacht, auch alle Übersetzungen unserer Bücher im Ausland, das gab es so in der Pappelallee nicht.
Zur Linienstraße hin gibt es Freiflächen, wo die Mitarbeiter*innen an verschiedenen Inseln arbeiten können, die durch Bücherregale voneinander abgetrennt sind. Zusätzlich gibt es kleine Rückzugsräume, wo man sich zum Beispiel zum Telefonieren zurückziehen kann. Zur Torstraße hin liegen die Einzelbüros, in einem von ihnen sitze ich gerade.
Es ist ein sehr helles und intelligentes Haus, das Frischluftzufuhr und Lichteinfall durch Jalousien auch automatisch regelt. Trotz der großen Fenster ist man also nicht der direkten Sonneneinstrahlung ausgesetzt. Und zur Torstraße hin gibt es dreifach verglaste Fenster gegen den Straßenlärm.
Von der Terrasse im sechsten Stock schaut man über die ganze Innenstadt. Man sieht den Fernsehturm, die Volksbühne, den Dom, den Bundestag und bis zum Potsdamer Platz, der Ausblick ist wirklich unglaublich.
Das Gebäude folgt keiner Blockrandbebauung, sondern ist zur Linienstraße und Volksbühne hin offen. Obwohl die offizielle Adresse Torstraße ist, befindet sich die Eingangstür auf Seite der Linienstraße. Hier gibt es auch einen kleinen Hof mit Bäumen und Fahrradständern sowie der Terrasse des Restaurants Remi im Erdgeschoss.
Gibt es Kooperationen mit Nachbar*innen wie der Volksbühne?
Auf jeden Fall gibt es Kooperationen zwischen unseren Autor*innen und der Volksbühne, da ist schon sehr viel in Planung, was jetzt erst mal stecken geblieben ist aufgrund der aktuellen Situation. Auch zum Kino Babylon gibt es Verbindungen, da haben wir immer mal wieder Premieren oder Lesungen.
Schon 2010, kurz nachdem der Verlag nach Berlin kam, haben wir das 60-jährige Jubiläum der edition suhrkamp in einem Pop-Up-Store in der Linienstraße gefeiert. Da haben wir fast jeden Tag Veranstaltungen gemacht und so einen ersten Ankerpunkt in Berlin-Mitte geschaffen.
Die erste Veranstaltung wiederum, die wir hier im Haus hatten, war eine Lesung von Lutz Seiler aus seinem Roman Stern 111, der hier in der unmittelbaren Nachbarschaft spielt. Er hat im 6. Stock aus dem Fenster gezeigt und auf die im Buch genannten Schauplätze verwiesen.
Oder Rafael Horzon, der ebenfalls Suhrkamp-Autor ist und seine beiden Läden hier in der Torstraße hat, worüber er auch in seinen Büchern schreibt. So hat man das Gefühl, unmittelbar am kulturellen Leben der Stadt teilzuhaben.
Der Ortsteil Mitte gehört zum ehemaligen Osten der Stadt. Spielt das heute noch eine Rolle?
Im Verlag waren immer schon starke Stimmen aus der ehemaligen DDR und aus dem Osten der Stadt vertreten, etwa Christa Wolf, Angela Krauß, Heiner Müller oder Volker Braun. Diese Orientierung hin zu einer nicht rein westdeutsch geprägten Literatur hat den Verlag immer begleitet. Darüber hinaus gibt es einen großen Schwerpunkt zu osteuropäischer Literatur, den Katharina Raabe über Jahrzehnte hinweg etabliert hat. Von Berlin aus sind die osteuropäischen Länder viel weniger weit weg als von Frankfurt.
Man kann letztlich nicht in Berlin leben und arbeiten, ohne die Teilung der Stadt mitzudenken oder zu spüren. Ich persönlich habe in Berlin immer entlang des Mauerstreifens gewohnt und die Veränderungen ganz aus der Nähe verfolgen können – mittlerweile sind fast alle Brachflächen bebaut. Und man findet diese Entwicklungen auch in den Texten wieder, die hier geschrieben werden.
Ich würde gerne noch etwas mehr über den Verlag erfahren. Im Vergleich zu den bisherigen Verlagen, die ich für die Reihe porträtiert habe, sticht der Suhrkamp Verlag ja nicht nur aufgrund seiner langen Geschichte, sondern auch aufgrund seiner Größe hervor, was die Anzahl der Mitarbeitenden (130) und Neuerscheinungen (ca. 350 im Jahr) betrifft. Das hat auch damit zu tun, dass er aus verschiedenen Verlagen bzw. Programmreihen besteht, wie Sie schon angedeutet haben. War es schon immer so, dass alle Verlage unter einem Dach waren, oder ist das neu?
Der Theaterverlag war immer schon im Haus angesiedelt, auch der Insel Verlag (seit 1963), der Jüdische Verlag (seit 1990) und der Verlag der Weltreligionen (seit 2007). Neu dazugekommen ist 2016 der Elisabeth Sandmann Verlag, der zwar weiterhin unabhängig ist und seinen Sitz in München hat, aber Suhrkamp/Insel hat eine Beteiligung von 51 Prozent erworben und die Vertrieb- und Pressearbeit von Berlin aus übernommen.
Der Vorteil, wenn alle unter einem Dach sind, ist, dass sich Synergien zwischen den einzelnen Verlagen und Programmreihen und zwischen den verschiedenen Abteilungen ergeben. So betreue ich durchaus auch Titel, die im Insel Verlag erscheinen, etwa wenn eine*r meiner Autor*innen eine kürzere Erzählung für die bibliophile Insel-Bücherei schreibt. Die Bereiche Herstellung, Presse und Veranstaltungen, Verkauf / Vertrieb, Werbung, Rechte und Lizenzen, Buchhaltung, Webredaktion, IT sind alle reihenübergreifend für das Gesamtprogramm zuständig. Hier greift alles wie bei einem Maschinenwerk ineinander. Das Besondere ist, dass Suhrkamp trotz seiner Größe noch ein unabhängiger Verlag ist und nicht Teil eines Konzerns wie beispielsweise Random House.
Sie haben erzählt, dass Sie seit 2010 im Verlag sind, als Suhrkamp nach Berlin umzog. Was unterscheidet Berlin von Frankfurt außer der größeren Nähe zu Osteuropa?
Da ich in Frankfurt noch nicht an Bord war, kann ich nur über Berlin sprechen. Ulla Unseld-Berkéwicz hat einmal gesagt, Berlin sei ein Labor. Das ist meiner Meinung nach ein gutes Bild, weil hier kulturell, gesellschaftlich und politisch so viel passiert, und da ist es natürlich spannend, mittendrin zu sein. Gerade im Sachbuchbereich wird unmittelbar auf das politische Geschehen und auf gesellschaftliche Entwicklungen reagiert, da setzt die Nähe zum politischen Zentrum Deutschlands neue Kräfte und Verbindungen frei. Und Literatur ist immer auch gesellschaftspolitisch – manchmal impliziter, manchmal expliziter.
Außerdem haben viele unserer Autor*innen ihren Wohnsitz in Berlin, und die örtliche Nähe ist für den Austausch sehr fruchtbar. Zudem haben wir zwar eine große Backlist, sind aber immer auch auf der Suche nach neuen spannenden Stimmen und haben unsere Fühler ausgestreckt, um auch das aufzuspüren, was gerade im Entstehen ist, um es mitzugestalten und abzubilden. Und in Berlin und von Berlin aus gibt es da viel zu entdecken.
Ich kann mir vorstellen, dass so ein Umzug einige Veränderungen mit sich bringt – nicht nur das Umfeld verändert sich, es gibt auch die Chance, sich nach innen neu zu strukturieren.
Tatsächlich war es so, dass nicht alle Mitarbeiter*innen aus Frankfurt mitgekommen sind und dadurch Stellen frei geworden sind, die neu besetzt wurden. Das war für jene, die in Frankfurt geblieben sind, aber auch für jene, die mitumgezogen sind, sicher keine leichte Situation. Für mich persönlich war es aber ein großes Glück – so bin ich überhaupt erst in den Verlag gekommen. Durch den Umzug haben neue Menschen angefangen im Verlag zu arbeiten, das Umfeld hat sich geändert, es sind neue Autor*innen dazugekommen. Es gab zudem im Lektorat eine gewisse Neustrukturierung, indem Programmleiter*innen benannt wurden und damit die einzelnen Programmbereiche gestärkt wurden – das ist sicher auch einer größeren Ausdifferenzierung des Marktes geschuldet. Neu aufgebaut und gestärkt wurde auch die Webredaktion, die für das Online- und Leser*innenmarketing zuständig ist. Das ist etwas, worauf heute kein Verlag mehr verzichten kann.
Was hat sich durch Corona verändert? Gerade als Lektorin arbeitet man eng mit den Autor*innen zusammen, geht in den persönlichen Austausch …
Ja, die persönlichen Begegnungen und gemeinsamen Veranstaltungen fehlen schon sehr. Mit den Autor*innen, aber auch mit den Kolleg*innen. Wir hatten uns so darauf gefreut, das Gebäude gemeinsam nutzen zu können. Ich erinnere mich noch gut an die erste Weihnachtsfeier 2019. Dass solche Momente fehlen, ist schade. Klar gibt es Telefon, Mail, Videocalls, und so versucht man miteinander im Gespräch zu bleiben, aber es ist doch etwas anderes.
Was ist ihr Eindruck, wie sich Corona auf die Autor*innen auswirkt?
Das ist sehr unterschiedlich. Ich kenne Autor*innen, die das Gefühl haben, festzustecken, weil ihnen Austausch und Input fehlen, weil Recherchereisen und Stipendien nicht angetreten werden können. Andere dagegen können die Zeit im Lockdown gut nutzen. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass viele auch Existenzängste haben. Die Veranstaltungen sind zum großen Teil weggefallen, auch wenn sich viele Veranstalter*innen wahnsinnig bemüht haben, Online-Formate möglich zu machen. Die erneute Absage der Leipziger Buchmesse und die lange Schließung der Buchläden außerhalb Berlins fordern ebenfalls ihren Tribut. Für freie Autor*innen ist es auch ohne Pandemie oft schwierig – wenn man nicht gerade Bestseller schreibt –, und wenn man mit akuten Existenzängsten konfrontiert ist, wird auch das Bücherschreiben schwieriger.
Viele finden es schwer, dass plötzlich dieser ganze Echoraum wegfällt, dass es so leise ist, nachdem ein Buch erschienen ist, dass es keine Buchpremiere gibt und keine analogen Veranstaltungen, bei denen man ins Gespräch mit Leser*innen kommt. Wichtige Möglichkeiten der Buchvermittlung sind dadurch weggefallen.
Fehlen Ihnen die Messen?
Ich glaube, dass die erneute Absage der Leipziger Messe schon eine große Lücke reißt, auch wenn versucht wird, es ein Stück weit durch Online-Formate zu kompensieren. Messen haben eine große Strahlkraft und schaffen eine Öffentlichkeit für Bücher, die ein Buch alleine niemals herstellen kann. Auch die Begegnungen zwischen Menschen fehlen sehr. Idealerweise nimmt man in Zukunft das Beste aus den digitalen Formaten mit, gibt aber die unmittelbare Begegnung von Menschen und den Austausch vor Ort nicht auf. Es sollte kein Entweder-Oder sein, sondern die Frage gestellt werden: Was kann ein analoges Format, was ein digitales nicht kann, und umgekehrt.
Woran arbeiten Sie zurzeit?
Ich schließe gerade mit Sibylle Lewitscharoff den vierten Teil der Pong-Reihe ab, der voraussichtlich im April in der Insel-Bücherei erscheinen wird. Parallel dazu lektoriere ich politische Essays von Nora Bossong, die im Juni in der edition suhrkamp erscheinen werden. Und dann sitze ich bereits an den Vorschautexten für die Herbstbücher.
Anhand dieser Beispiele wird schnell deutlich, was für einen vielschichtigen Job Sie machen und in was für unterschiedliche Themen Sie sich jeweils einarbeiten müssen!
Ja, das ist wirklich schön, dass man mit jedem neuen Manuskript eine neue Welt entdeckt. Nicht nur, was Themen und Stoffe angeht, sondern auch, was die Sprache, den Rhythmus und den Ton betrifft. Man wird laufend mit neuen Perspektiven und neuen Wahrnehmungen konfrontiert – das ist schon sehr besonders.