Eine Migration der Formen zwischen Berlin und Philadelphia.
Was machen denn diese Bisons und Elche im Tierpark? Es sind keine heimischen Tiere und aus einem Märchen oder einer Allegorie sind sie auch nicht bekannt? Was mag Kaiser Wilhelm Anfang des 19. Jahrhunderts bewogen haben, acht dieser großen Tierskulpturen am Floraplatz aufstellen zu lassen? War es seine Leidenschaft für die Jagd? Aber dafür sehen die Tiere viel zu gelassen aus, wie sie da auf ihren Sockeln liegen und ihre Pfoten nach vorne strecken. Und tatsächlich waren die Skulpturen gar nicht für den Berliner Tiergarten, sondern für das George-Washington-Denkmal in Philadelphia/USA entwickelt worden. Ihr Schöpfer war allerdings ein Berliner, nämlich der Bildhauer Rudolf Siemering (1835-1905) Kaiser Wilhelm hatte bei ihm im Atelier die Skulpturen gesehen und Nachgüsse für den Tiergarten in Auftrag gegeben.
Nachdem das Ensemble im Krieg stark beschädigt und die übrig gebliebenen Skulpturen an verschiedene Orte im Park verteilt wurden, reifte im Landesdenkmal über längere Zeit die Idee, die kaiserzeitliche Gestaltung des Platzes zu rekonstruieren. 2009 wurde vom Landesdenkmalamt Berlin schließlich ein Masterplan für den Denkmälerbestand im Großen Tiergarten in Auftrag gegeben und fünf Jahre später eine vorbereitende Untersuchung durchgeführt, die durch konkretere Recherchen zum Verbleib der Tierskulptur und zu Untersuchungen der Sockelfundamente ergänzt wurde.
Mit der Planung und Organisation der einzelnen Schritte wurde das Büro Restaurierung am Oberbaum beauftragt, das bereits den Masterplan erarbeitet hatte. Thomas Lucker berichtet am Telefon von seinen Aufgaben, zu denen die Grundlagenermittlung und die Entwurfs- und Ausführungsplanung ebenso gehören wie das Einholen von Genehmigungen und das Organisieren von Ausschreibungen für Vermessungsbüros und Archäolog*innen, auf die die Beauftragung und Begleitung der Arbeiten folgt – alles in enger Absprache mit der Abteilung Gartendenkmalpflege im Landesdenkmalamt. „Zunächst haben wir versucht zu rekonstruieren, wo genau sich die Tierskulpturen befanden, denn von den historischen Granitsockeln galten vier als verloren – sie waren entweder zerstört oder befanden sich an anderen Stellen im Tiergarten.“
Bettina Bergande vom Planungsbüro TOPOS Landschaftsplanung war als eine der ersten involviert. Sie stieß im Rahmen der Aktualisierung eines Parkpflegewerks für den Großen Tiergarten in Berlin im Gebüsch im Umfeld des Floraplatzes auf einen Granitsockel. Ihr war klar, dass der Sockel zum ursprünglichen Ensemble gehören musste, das sie von historischen Abbildungen kannte. Eine Grabung, bei der sie auf eines der Fundamente stieß, gab Aufschluss über den ursprünglichen Standort einer der Tierskulpturen.
Thomas Lucker berichtet vom weiteren Vorgehen: „Es folgten geophysikalische Untersuchungen, die ich durch das Büro für Geophysik Lorenz 2018 hab durchführen lassen. Dabei wurden die zwei mittleren nördlichen Fundamente ermittelt. Die zwei übrigen Fundamente waren nicht mehr auffindbar, sie sind vermutlich in der Nachkriegszeit grundtief zertrümmert und nahezu vollständig entfernt worden und mussten messtechnisch ermittelt werden.“
An dieser Stelle kam Annett Dittrich von der Archäologie-Agentur ins Spiel. Ihr Auftrag war, zu klären, wo genau im Gelände die Skulpturen gestanden haben: „Wir waren 2019 eine Woche vor Ort mit dem Auftrag einer archäologischen Baubegleitung, das heißt zu retten, was noch zu retten ist. Das beginnt mit einer Art Anamnese: was gibt es noch? Wir sind darauf spezialisiert, Spuren zu lesen. Im Fachjargon spricht man bei dem Auftrag im Tiergarten von einem CAD-basierten Aufmaß der noch vorhandenen Fundamentreste und dessen Einhängung in den Bestandsplan des Tiergartens. Bei den gartenarchäologischen Untersuchungen können zum Beispiel unterirdische Strukturen nachvollzogen werden, werden Spuren und Reste aufgespürt, die Aufschluss über frühere Gestaltungen geben können. Im Falle des Floraplatzes war das deshalb so schwierig, weil es zwar Fotos gab, aber die Anhaltspunkte, die darauf zu sehen sind, zumeist im Krieg oder bald danach zerstört wurden, als der Tiergarten im wahrsten Sinne zu einem Garten wurde. Weil im Tiergarten eigentlich nichts mehr ist wie im Original, war unsere Arbeit ein bisschen wie ein Detektivspiel. In diesem Fall haben wir die fehlenden Positionen für die Sockel über die Radien der Außen- und Innendurchmesser in Anlehnung an die Originalvermessung ermittelt.“
Eine entscheidende Vorarbeit bei den Recherchen lieferte die Kunsthistorikerin Nicola Vösgen mit der Dittrich im Anschluss einen Artikel über die Wiederaufstellung schrieb, in dem es neben der Suche nach den ursprünglichen Standorten auch um die Tiere ging, die verschollen oder beschädigt waren.[1] Auf dem Infoschild am Floraplatz heißt es zum Verbleib der Tiere: „Nach dem Zweiten Weltkrieg waren einige der durch Einschlusslöcher beschädigten Plastiken von ihren Sockeln geworfen. Bär und Stier gingen, vermutlich durch Metalldiebstahl, zwischen 1949 und ca. 1951 verloren. Die sechs verbliebenden Figuren wurden Anfang der 1950er Jahre ins Grünflächenamt, später dann an verschiedene weit verstreute Orte im Tiergarten verbracht, darunter die beiden Hirsche, die Ende der 1970er Jahre im Rosengarten aufgestellt wurden.“ Man hatte es also mit verstreuten, teils beschädigten und teils verschollenen Tierskulpturen zu tun, die es zu restaurieren und in zwei Fällen zu rekonstruieren galt. Die Verantwortung hierfür lag wieder bei Thomas Lucker.
Dabei war es von entscheidender Hilfe, dass sich die Originalfiguren seit 1897 in Philadelphia befinden. Mithilfe von 3D-Scannern wurden Bär, Stier und andere Details wie die Elchschaufeln in den USA eingescannt und als Datenmaterial nach Berlin geschickt. Auf Basis dieses Materials wurden anschließend 3D-Modelle angefertigt, die abgeformt wurden und für die Herstellung der Bronzegüsse genutzt wurden. Aus mehreren Einzelteilen wurden die Skulpturen abschließend zusammengefügt und von Hand nachbearbeitet. Ich frage Herrn Lucker, ob er für die Recherchen nach Philadelphia reisen durfte, aber er verneint. „Nein, das haben wir alles auf digitalem Weg auf den Weg gebracht. Aber Sie können sich vorstellen, was für riesige Datenmengen bei dem 3D-Scan angefallen sind! Die wurden von TrigonArt in Berlin aufgearbeitet und dann an die Skulpturengießerei Knaak weitergeleitet, die die Skulpturen gegossen und aufgestellt hat. Auf ein bildhauerisches ‚Nachschärfen‘ der im Vergleich zum Original herstellungsbedingt etwas weicher zeichnenden 3D-Drucke wurde in Abstimmung mit den Denkmalbehörden verzichtet, um kenntlich zu machen, dass es sich um Nachgüsse handelt. Zusätzlich wurden auf den Nachgüssen Datum und Gießerei vermerkt.“ Nicht erst jetzt, wird mir klar, was für eine komplexe Angelegenheit die Wiederaufstellung ist. „Ja, das ist eine klassische Bauleitung, bei der man alle mitnehmen muss, obwohl es manchmal widerstreitende Interessen gibt. Kommunikation ist dabei das Zauberwort.“
Christa Ringkamp vom Büro Hortec kam als eine der letzten mit ins Boot. Sie hat im Auftrag des Landesdenkmalamtes die Informationstafeln konzipiert und aufgestellt. Dabei kooperierte sie wiederum mit verschiedenen Partner*innen wie Grafiker*innen, die das Layout übernahmen, Übersetzer*innen, die die Texte ins Englische übersetzten, einer Druckerei, die die Siebdrucke für die Tafeln erstellt, und Metallbauer*innen, die die Gestelle bauen, aufstellen und im Boden verankern. „Das ist eine sehr interdisziplinäre Angelegenheit“, sagt Ringkamp, die von Haus aus Landschaftsarchitektin ist und seit 1987 in diesem Bereich arbeitet, „deswegen ist es auch die Abstimmung, die am meisten Zeit einnimmt“. Ihre Aufgabe sei es, in enger Abstimmung mit dem Landesdenkmal die Texte so zu formulieren und Bilder auszuwählen, dass auch Nicht-Fachleute verstehen, worum es geht. Das bedeutet, die richtigen Worte zu finden und vor allem zu kürzen. Aber auch die Schilder so zu gestalten, das sie möglichst barrierearm sind, das also die Schriftgröße gut lesbar ist, die Schilder eine rollstuhlgerechte Höhe haben und die Sprache möglichst verständlich gehalten wird.
Dass die Arbeit am Ensemble noch nicht beendet ist, darauf macht Bettina Bergande aufmerksam. Sie appelliert an das Grünflächenamt Mitte, „die gärtnerische Platzgestaltung zu vollenden, und endlich mit ausreichendem Personal, finanzieller Ausstattung und Fachkenntnis die abgestimmten Ziele und Maßnahmen aus dem Parkpflegewerk im wichtigsten und ältesten Berliner Parks umzusetzen.“ Unabhängig davon sind die Tiere bereits jetzt eine große Attraktion bei Groß und Klein.
[1] Dittrich, Annett und Nicola Vösgen (2021): Rückkehr der Elche. Tiergruppe am Floraplatz im Berliner Tiergarten wiederaufgestellt. In: Archäologie in Berlin und Brandenburg 2019, S. 152–156. Vösgen war es auch, die bei ihren Recherchen auf die Berliner Bärenfreunde stieß, wo ein ausführlicher Beitrag über die Wiederauferstellung erschien, vgl. Christa Junge: Bär und Stier neu am Floraplatz im Berliner Tiergarten, 28. Juni 2020, https://www.berliner-baerenfreunde.de/web/baer-und-stier-neu-am-floraplatz-im-berliner-tiergarten/, Stand: 15.4.2021
Wo sich weitere Tierskulpturen in Belin befinden, erzählt Nicholas Grindell in seinem Beitrag für Stadt im Kopf des Kultur-Mitte Magazins: https://kultur-mitte.de/die-stadt-im-kopf/