Ben Wagin, Jahrgang 1930, wohnte im Hansaviertel, gestaltete Wandbilder am S-Bahnhof Tiergarten und am S-Bahnhof Savignyplatz, realisierte Ausstellungen in einem ehemaligen Straßenbahn-Tunnel Unter den Linden, hatte eine Galerie im Europa-Center, nutzte die AEG-Hallen der TU Berlin in der Ackerstraße als Atelier und Werkstatt und hat in unmittelbarer Nähe des Bundestages eine Freifläche unter dem Namen Das Parlament der Bäume als Erinnerungsort sichern können. Als wäre das nicht genug, hat er an unzähligen Orten Bäume gepflanzt. „Wo Ben ist, ist Chaos und Kompost“, mit diesen Worten beginnt Astrid Herbold ihre Einführung in die Biografie von Ben Wagin – und fasst damit ein ganzes Leben kompakt zusammen. Sie fängt damit sowohl die unorthodoxe Macherenergie von Wagin ein und verweist zugleich auf sein Engagement für die Stadtnatur.
Parlament der Bäume gegen Krieg und Gewalt / Schiffbauerdamm
„Das Parlament der Bäume ist ein lebendiges Wesen. Eine Erinnerung an einer Stelle, wo es das Sterben gegeben hat.“[1] Ben Wagin
Direkt im Herzen der Macht, zwischen den beiden Parlamentsgebäuden und dem Haus der Bundespressekonferenz und doch versteckt durch eine jahrelange Baustelle, befindet sich das Parlament der Bäume. Bei google maps wird es als „letztes komplettes Stück der Berliner Mauer“ bezeichnet und tatsächlich befindet sich hier ein Stück Mauer, eingebettet in eine größere Grünanlage, die Ben Wagin erst einfach besetzt und dann peu á peu gestaltet hat. Dazu gehören diverse Bäume, die er gepflanzt hat, Gedenksteine für Mauertote, Wandbilder und eine kleine Ausstellung im schmalen Zwischenraum der beiden Mauerabschnitte, mit Informationen und Werken von Künstler*innen wie Joseph Beuys, Günter Grass oder Klaus Staeck. Hinzukommen einige seiner spezifischen Installationen aus gefundenen Materialien. Nach seinem Tod, im Jahr 2021, ging das Gelände, das seit November 2017 unter Denkmalschutz steht, in die Obhut der Stiftung Berliner Mauer über, und kann von April bis Oktober jeden Sonntag von 12 bis 17 Uhr besichtigt werden. Die Betreuung erfolgt ehrenamtlich durch Mitglieder des von Wagin gegründeten Baumpatenvereins. Als ich vorbeikomme, ist Brigitte Sens vor Ort und erzählt, wie sie Wagin begegnet und sofort beeindruckt von seiner Persönlichkeit gewesen sei. Sie führt mich zu einigen Infoschildern mit Fotos und zeigt mir eines, auf dem das Gelände zu Mauerzeiten zu sehen ist. Auf dem nächsten Foto sieht man eine erste Baumpflanzung mit Politikern, mit dem das Parlament seinen Anfang nahm, sie muss aus dem Jahr 1991 stammen. „Er legte diesen Ort zu einem Zeitpunkt an, als sich sonst niemand für das einstige Niemandsland zwischen Ost und West verantwortlich fühlte und schuf damit einen unkonventionellen Nachdenk- und Gedenk-, Erinnerungs- und Erkundungs-Ort“, heißt es auf Wagins Website. [2]
Wie erfolgreich Wagin darin war, Politiker*innen und Entscheidungsträger*innen von sich und seinen Plänen zu überzeugen (und das oft auf direktem Wege, indem er sie anrief oder direkt ansprach, mühsame und verlangsamende Antragstellungen und Genehmigungen dadurch umgehend), belegen die 16 Ministerpräsidenten, die im Parlament Bäume pflanzten. Es erscheint wie ein Wunder, dass dieser Ort trotz aller räumlichen Begehrlichkeiten bis heute als privat initiierter Gedenkort erhalten geblieben ist, der eine ganz eigene Art der Erinnerungskultur pflegt. Basis sind die eigenen Gewalterfahrungen, die Wagin im Zweiten Weltkrieg erlebte, seien es Deportationen von Jüd*innen oder seine Flucht aus aus Jastrow in Pommern (heute Jastrowie in Polen) vor der vorrückenden Roten Armee Richtung Westen. Das Besondere ist jedoch, dass er diese Erlebnisse mit seinem Engagement für die Natur kurzschließt. So heißt es auf einer Wand: „Das Fundament eines gemeinsamen europäischen Hauses muss eine intakte Umwelt sein.“ (Zitat von Klaus Töpfer) Oder: „Wer Bäume pflanzt, der wurzelt.“ (Zitat von Rita Süssmuth) Das Ergebnis ist eine eigenartige Mischung aus grüner Oase, spielerisch, poetischen Eingriffen und mitunter sehr direkten Darstellungen von Gewalt und agitatorischen Sprüchen, wie man sie aus den 1980er Jahren kennt. In dieser Widersprüchlichkeit und Nicht-Fassbarkeit ist das Parlament ein typisches Kind Wagins, der nicht nur sich selber immer wieder neu erfand, sondern bekannt war für seine unkonventionelle, direkte und mitunter herzliche Art, mit der er nicht nur Politiker*innen, überzeugen, sondern auch Begleiter*innen motivieren konnte, sich bis heute um das Parlament zu kümmern.
Wandbilder / Siegmunds Hof, Lehrter Straße und Savignyplatz
Ben Wagin kam 1957 aus Hildesheim, wo er im Theater als Bühnenbildner gearbeitet hatte, nach Berlin. An der Hochschule für bildende Künste wurde er Meisterschüler bei Karl Hartung und arbeitete als dessen Assistent. Anfang der 1960er Jahre gründete er eine Galerie, gab den monatlichen Kalender „Kunst in Berlin“ und die Kunstzeitschrift „Zeit-Punkte“ heraus und initiierte mit „Skulpturen im Freien“ Gruppenausstellungen im öffentlichen Raum.
1975 schafft es Wagin, das erste Berliner Wandbild an der Brandmauer ganz nah am Bahnhof Tiergarten zu realisieren, so dass man es aus der S-Bahn gut sehen konnte. Wagin wohnte zu dieser Zeit schon länger in der Joseph-Haydn-Str. in unmittelbarer Nähe und begann in einem Studentenwohnheim in der Straße Siegmunds Hof seine Galeristentätigkeit. Das Wandbild war eine Gemeinschaftsarbeit mit den Künstlern Peter Janssen, Fritz Köthe, Narenda Kumar Jain und Siegfried Rischard. Weltbaum I – Grün ist Leben „ist das erste große Wandbild im Nachkriegs–Berlin, das nicht kommerzieller Werbung dient. Und es ist sehr aussagekräftig. Im Zentrum steht ein Baum, der vor Schmerzen schreit und das Waldsterben symbolisiert. Daneben ein Auspufftopf, als Beispiel für die Ursache der Umweltverschmutzung. Über allem werden auf einem Frachtschiff neue Bäume importiert, weil die alten dem sauren Regen zum Opfer gefallen sind.“ [3] So beschreibt der Autor Aro Kuhrt das Gemälde. Anlass des Artikels war ein Neubau, der 2018 auf die Freifläche vor das Wandbild gebaut wurde und das Bild seitdem verdeckt. Doch aufgrund seines legendären Rufes wurde es in der Lehrter Straße 27-30 von der Künstlergruppe die dixons, die mit Ben Wagin freundschaftlich verbunden ist, originalgetreu nachgemalt. „Es ist wohl das einzige Wandbild in Berlin, das jemals umgezogen ist“, heißt es weiter im Text.
Zehn Jahre später, 1985, gestaltete Wagin mit der Weltraumgalerie an einer Ziegelsteinwand hinter den Gleisen am S-Bahnhof Savignyplatz erneut eine Brandmauer. Er entwickelte für den Ort eine großformatige Kunstinstallation, bei der er Werke von Künstler*innen wie Frida Kahlo und Joseph Beuys einbezog sowie zahlreiche Schriftsteller zitierte. 2013 überarbeitete Wagin das Wandbild. Glücklicherweise wurde es im Dezember 2022 unter Denkmalschutz gestellt, sodass es auch heute noch existiert.
Joseph-Haydn-Str. / Wohnung
In unmittelbarer Nähe zum Wandbild wohnte Ben Wagin bis zum Ende seines Lebens in der Joseph-Haydn-Straße. Er war schon als Kind von Berlin und der Nachbarschaft von Häusern und S-Bahnen fasziniert. „Natürlich bin ich auch 1957, als ich in Berlin ankam, gleich wieder in die Joseph-Haydn-Straße gegangen, um nach dem Haus an der S-Bahn zu gucken. Da war eine äußerst korrekte und auch sehr ordentliche Hausmeisterin, die sagte, da unten seien zwei Kellerzimmer mit kleiner Kammer zu vermieten. Es kostete 60 oder 70 Mark. Am Hauseingang gab es ein Steckschloss, das hat sie jeden Abend um acht abgeschlossen. Für mich hieß das: Mein Fenster war mein Ein- und Ausgang. Rundherum fingen sie schon allmählich an, fürs Hansaviertel abzureißen. Einerseits hatte ich Sorge, dass das Haus bald auch dran ist. Andererseits war das wiederum ein ganz angenehmer Kitzel, dass man keinen verlässlichen Stuhl unterm Arsch hatte.“ [4] Wagins Wohnung war zur Zeit seines Lebens Treffpunkt und Atelier und existiert noch heute.
Anhalter Güterbahnhof / Atelier und Freiluftausstellung
„Und dann laufen die Besucher des Technikmuseums an meinem Gelände vorbei und sehen dort Brennnesseln und Gleise. Irgendwas steht da auch rum, aber was soll das sein? Die Leute mögen keine ‚verwilderten‘ Brachen, sie wollen Vitrinen und Blümchen, die übliche museale Bundesgartenschau eben. Wie soll ich damit umgehen?“ [5] Ben Wagin
In der ehemaligen Ladestraße des Anhalter Bahnhofs, in unmittelbarer Nachbarschaft des Technikmuseums, hat Wagin einen weiteren Ort genutzt und geformt. Es ist eine lange Halle, die er als Werkstatt, Atelier und Showroom genutzt hat, ergänzt von einer Außenfläche, auf der zwei grüne Eisenbahn-Waggons stehen, verschiedene Installationen platziert sind und das Grün wuchert. Vor dem Zaun hält eine Fahrradrikscha und der Fahrer erzählt seinen Gästen etwas über diesen Ort, der ähnlich wie das Parlament klassische museale Präsentationsweisen verweigert. Betritt man die beeindruckend große Halle, ist man konfrontiert mit Kunstwerken aus allen Schaffenszeiten Wagins, mit Bühnenbildresten, Werkzeugen, Kunstwerken von Freund*innen und Kooperationspartner*innen. Einige Materialien und Motive ziehen sich durch: deformierte Körper, Gipsabgüsse von Zähnen, Ansammlungen von Gießkannen, Einkaufswägen und Stühlen. Es wird schnell klar: Wagin war nicht nur ein vielseitiger Künstler (ohne so genannt werden zu wollen), sondern auch ein Sammler und Aufheber.
Uwe Bohrer hat sich die Zeit genommen, mir dir Räumlichkeiten zu zeigen. Er ist Kameramann und kümmert sich zusammen mit Alin A. Cowan, Wagins Arbeits- und Lebensgefährtin, um den Nachlass Wagins. Bohrer ist Wagin 1975 das erste Mal auf einem Stadtteilfest begegnet. „Der war in der Stadt“, sagt er und ergänzt: „Er war eine Ausnahmepersönlichkeit.“ Näher gekommen seien sich die beiden aber erst 2015, als Bohrer ein Interview mit Wagin machen wollte. „Das große Problem mit dem Nachlass“, sagt er, „sei, dass Ben kein Testament gemacht hat und, da es Verwandte gibt, nun das Nachlassgericht einen Erben finden muss. Und das kann dauern.“ Die sich hinziehende unklare Situation sei für alle eine Belastung, denn zur Unklarheit käme der Umstand, dass man mit dem Nachlass nicht arbeiten, das heißt, Ausstellung machen könne. Auf diese Weise geriete Wagin immer mehr in Vergessenheit. Dennoch plant Bohrer 2024 eine Ausstellung im sogenannten Showroom der Halle, in der Wagin noch zu Lebzeiten mehrere Werke zu einer kleinen Ausstellung zusammengestellt hat. Bohrers Ausstellung möchte die urbane Seite Wagins und speziell dessen S-Bahn Verbindungen beleuchten. Ein Jahr später läuft dann der Mietvertrag aus, das Technikmuseum will sich erweitern und die Hallen selber nutzen. Was mit dem Nachlass Wagins passieren wird, ist komplett offen.
[1] Ben Wagin: Nenn mich nicht Künstler, aufgezeichnet von Astrid Herold, Ch. Links Verlag Berlin, 2015, S. 173.
[2] https://www.ben-wagin.de/ben%20wagin-parlament%20der%20baeme.htm, abgerufen am 10.7.2023.
[3] Aro Kuhrt: Der Weltbaum in der Lehrter Straße, Moabit Online, 8.5.2018, https://moabitonline.de/30791, aufgerufen am 22.6.2023.
[4] Ben Wagin: Nenn mich nicht Künstler, Ch. Links Verlag Berlin, 2015, S. 65.
[5] Ebd. S. 204.
Parlament der Bäume gegen Krieg und Gewalt
Schiffbauerdamm, neben Hausnummer 40, (Bundespressekonferenz), 10117 Berlin
Öffnungszeiten: April – Oktober, Sonntags 12 – 17 Uhr, Eintritt frei
www.stiftung-berliner-mauer.de