Anna-Lena Wenzel

Dr. Anna-Lena Wenzel* ist Autorin und Künstlerin. Nach ihrem Studium der Angewandten Kulturwissenschaften in Lüneburg promovierte sie über „Grenzüberschreitungen in der Gegenwartskunst“. Sie betreibt das Online-Magazin 99 % Urban und den Radiosalon für Alltägliches und ist in unterschiedlichen kollektiven Zusammenhängen unterwegs.

Besuch beim Performance Arts Festival: „Zweimal Eintauchen bitte“

04.06.2019
Steffen Klewar bietet im Rahmen des Performance Arts Festival Touren an, Foto: Paula Reissig

Vom 28. Mai bis zum 2. Juni 2019 fand das Performing Arts Festival statt. Bei dem Format Packages werden von einem Akteur*in der Szene zwei Stücke ausgewählt, die dann gemeinsam angeschaut werden. Package #4 widmete sich Literarischen Klassikern und umfasste ein Stück im Theaterdisounter und im Ballhaus Ost.

Eine kleine Runde hat sich vor dem Theaterdiscounter versammelt und lauscht Steffen Klewar, Regisseur und Schauspieler. Er hat aus der Vielzahl der Angebote des Performing Arts Festivals zwei Stücke rausgesucht, die wir an diesem Abend gemeinsam schauen. Beide Stücke basieren auf literarischen Vorlagen, aber haben diese Vorlagen sehr unterschiedlich aktualisiert und auf die Bühne gebracht. Klewar erklärt, dass es ihn interessiert hat, zwei Formate auszuwählen, die auf Literatur basieren, denn das klassische Sprechtheater ist in den letzten Jahren in der Freien Theaterszene immer mehr in den Hintergrund getreten und von performativen Formaten abgelöst worden, in denen aktuelle Fragestellungen und Themen verhandelt werden. Ihm ist bewusst, dass es sich bei den Autoren um zwei „weiße alte Männer“ handele, aber er sei neugierig, wie die „alten Schinken“ nun aktualisiert werden würden.

Das Package „Literarische Klassiker – Von Hölderlin und Dostojewskij“, das Steffen Klewar zusammengestellt hat, ist ein Angebot des Performing Arts Festivals, das vom 28. Mai bis zum 2. Juni 2019 an diversen Spielorten in ganz Berlin stattfand. Das Besondere ist die Mischung der Orte, denn es sind – gerade in Mitte – sowohl bekannte (wie die Sophiensäle und der Theaterdiscounter) als auch kleinere, eher einem Szene-internen Publikum vertraute Spielstätten (wie der Acker Stadt Palast oder das Studio Verlin) dabei genauso wie solche, die keinen Performance-Schwerpunkt haben (wie das Acud, der Club der polnischen Versager oder Panke Culture).

Die Idee des Festivals ist es, einen vielseitigen Einblick in die freien darstellenden Künste der Stadt zu bieten – quer durch alle Genres: von Theater, Tanz und Performance über Figuren-, Objekt- und Musiktheater zu Neuem Zirkus. Ergänzt wurde das Programm durch Formate wie Stadtrundgänge und Kiez-Treffpunkte sowie Angebote für ein Fachpublikum, das Diskussionsrunden, Austauschformate und Kiez-Touren beinhaltete – so war für jeden etwas dabei. Organisiert wird das ganze vom LAFT – Landesverband freie darstellende Künste Berlin e.V. in Kooperation mit den Spielstätten Ballhaus Ost, HAU Hebbel am Ufer, Sophiensæle und Theaterdiscounter, was bedeutet, dass das Festival aus der Szene heraus entstanden ist. Da macht es Sinn, dass die Auswahl der Stücke über einen Open Call geschieht, bei dem sich professionelle Künstler*innen, Gruppen und Spielstätten mit ihren Beiträgen bewerben können.

Peter Trabner auf der Bühne im Theaterdiscounter, Foto: Paula Reissig

Aber zurück zum Abend. Die Idee des Packages ist es, dass Akteur*innen der freien Szene aus dem Festivalprogramm ihre Highlights zusammenstellen und sie den Besucher*innen nahebringen. Das heißt, man sieht nicht nur die Stücke, sondern lernt auch Akteur*innen der freien Szene kennen und kommt mit anderen Zuschauer*innen über das Erlebte ins Gespräch. Genau das passiert auch: Bevor wir das Stück schauen, gibt uns Steffen Klewar eine kurze Einführung und erzählt, dass das Stück an das gleichnamige Fragment „Der Tod des Empedokles“ von Hölderlin angelehnt ist. Es ist ein Projekt von Peter Trabner, der auch auf der Bühne stehen wird, als einziger Schauspieler. Er hat aus dem Stoff ein „Ökodrama“ gemacht, in dem ab und zu Hölderlin Textstellen zitiert werden, das aber hauptsächlich im Jetzt spielt und auf unser Konsumverhalten genauso zu sprechen kommt, wie auf die Arbeitsbedingungen eines Schauspielers, der per Vertrag dazu verpflichtet wird, vegan zu Essen und nur mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit zu fahren. Durch die Bühnenpräsenz des Schauspielers und sein beeindruckendes Improvisationsvermögen wird das Stück zu einem sehr unterhaltsamen Erlebnis. Und weil ihm das auf der Bühne-Sein so viel Spaß macht, überzieht er das Stück um zwanzig Minuten, was dazu führt, dass die kleine Reisegruppe sich auf dem Weg zur nächsten Spielstätte, dem Ballhaus Ost, beeilen muss. Schnell werden noch Getränke verteilt, dann geht es in die U-Bahn, wo man sich rege über das Gesehene austauscht. Eine aus der Gruppe ist von Trabner auf die Bühne gebeten worden und erzählt nun wie es sich für sie angefühlt hat.

Szene aus „Fleck und Frevel“ im Ballhaus Ost, Foto: Anna Eckold

Das nächste Stück heißt „Fleck und Frevel“ und basiert auf „Verbrechen und Strafe“ von Dostojewskij. Mit der Vorlage wird ähnlich frei umgegangen wie im Stück zuvor, doch das ganze Setting ist ein komplett anderes, unter anderem weil es kein Solostück ist, sondern von einem Regisseur*innenkollektiv inszeniert wurde. Klewar erklärt, dass sich hinter „Prinzip Gonzo“ fünf Personen befinden, die sich vom Regiestudium an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst-Busch kennen. Einige von ihnen spielen auch beim Stück selber mit. Doch statt auf einer Tribüne Platz zu nehmen wie im Theaterdiscounter, wird man einzeln in den Theatersaal gebeten, bekommt die Augen zugebunden und eine Bauchtasche umgehängt, und wird dann hineingeführt in das Geschehen. Als ich die Augen öffne, sehe ich in einen Spiegel, neben dem ein Kalender hängt, in meiner Tasche befinden sich ein Ausweis ausgestellt auf den Namen Raskolnikow, zwei Geldscheine und eine Vorladung aufs Polizeirevier. Nachdem ich mich umgeschaut und im Notizbuch geblättert habe, das vor mir liegt, betrete ich den nächsten Raum, der nur durch ein Tuch abgetrennt ist. Dort stehen mehrere Zuschauer*innen um zwei Schauspieler herum, die sich über irgendetwas zanken. Das Stück ist so angelegt, dass man frei im Setting umherlaufen kann, immer wieder trifft man auf die Schauspieler*innen, die sich ebenfalls frei bewegen, und auf die anderen Zuschauer*innen. Es kann vorkommen, dass man plötzlich angesprochen wird, dass man auf das Polizeirevier gehen soll, oder gefragt wird, ob man schon etwas über den Mord herausgefunden hat, aber es ist gar nicht so einfach, zu „ermitteln“, wenn man nicht weiß, wonach man suchen muss. Immerhin kann man sich zwischendurch austauschen, bei einem der Polizisten bekommt man Alkohol gegen Geld und bei der „Alten“, wie sie nur genannt wird, Kassetten, die man in die herumliegenden Kassettenplayer schieben kann. Das Spiel endet, als alle verhaftet sind und im ersten Stock das ganze Szenario von oben betrachten können. Die Hälfte der Gruppe ist da schon gegangen, aber mit einem weiteren Teilnehmer und Steffen Klewar beginnt eine angeregte Diskussion über das Stück, das als „immersives Verbrechen“ angekündigt war. Der Dritte im Bunde programmiert beruflich virtuelle Escape-Games und hat seine eigene Perspektive auf das Stück. Für ihn ist es nicht interaktiv genug, er hätte sich mehr Anreize gewünscht, um auf eigene Faust nach einer Lösung zu suchen, aber trotz seiner Kritik ist er angetan von der Idee, das Stück so zu zerlegen und den Raum so radikal zu verändern. Mir fällt ein, dass das Setting mich sehr an ein Stück von copy & waste erinnert, dem Theaterkollektiv von Steffen Klewar, bei dem sie den Raum ähnlich unterteilt haben, um verschiedene Geschichten rund um das Humboldt-Forum zu erzählen. Er stimmt mir zu, und findet das Stück trotzdem ganz anders. Als die Schauspieler*innen in den Innenhof des Ballhauses kommen, – Erleichterung und Erschöpfung in den Gesichtern – begrüßen sie Steffen Klewar und wir kommen ins Gespräch. Eine Schauspielerin, die zugleich Teil des Regiekollektivs ist, erzählt, dass es am heutigen Abend bereits die zweite Aufführung war und die Besucher*innen beim ersten Durchgang etwas offener und interaktiver reagiert hätten. Als ich das Ballhaus Ost verlasse, bin ich dankbar um diesen Einblick in die Wahrnehmung der Macher*innen, die anregenden Gespräche, die sich durch die Gruppenkonstellation ergeben haben und den Sachverstand von Steffen Klewar.

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