Eine der Gründungsideen der Berliner Gartenarbeitsschulen war es, kinderreiche und arme Familien in Gemeinschaftsgärten die Möglichkeit zu geben, in kleinem Umfang eigene Lebensmittel im Garten zu erzeugen, um so die schlimmste Not abzumildern. Zwar entstand die Gartenarbeitsschule in der Scharnweberstraße im Jahr 1950, also im Rahmen der zweiten Gründungswelle, die nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzte, doch aus den Aufzeichnungen des ersten Leiters der Gartenarbeitsschule, Gerhard Stüllein, geht hervor, dass nach den Kriegsjahren, nach Hunger und Kältewintern sowie nach überstandener Blockade der Bedarf nach selbstangebauten Lebensmitteln ungebrochen war. „Die Kinder sollen lieber, anstatt auf Hamsterfahrt zu gehen, auf ihrem eigenen Schulgartenbeet Nutzpflanzen für ihre Familien heranziehen“, war das Motto.[1]
Diese Zeiten sind heute zum Glück vorbei. Im Mittelpunkt stehen andere, vor allem pädagogische Ziele: neben der konkreten Vermittlung der Gartenarbeit (einen Garten zu betreten, Erde anzufassen, ein Beet anzulegen etc.) geht es um gesunde Ernährung und die Herkunft von Lebensmitteln, um Artenvielfalt und Biodiversität, um Klimawandel und Stadtökologie. Kinder und Jugendliche sollen dazu angeregt werden, „sich aktiv mit ihrer Umwelt auseinanderzusetzen, ihren Kiez zu erforschen und die eigenen Möglichkeiten spielerisch zu entdecken“, heißt es im Flyer, und dabei „Eigenverantwortung und Teamfähigkeit lernen“.
Betritt man das Gelände durch ein unscheinbares Tor, das etwas zurückgesetzt von der Straße liegt, tut sich eine Gartenlandschaft auf, bei der man aus dem Staunen nicht herauskommt: in unmittelbar urbanem Umfeld befindet sich ein weitläufiges Areal, das Gärtnerei, Natur-Denkmal, verwunschener Kleingarten, Bullerbü-Idylle und Aquaponik-Versuchsstation in einem ist. Während nebenan in einer Baumarktkette reißender Umsatz mit Gartenprodukten gemacht wird, weisen hier mehrere Komposthügel daraufhin, wie langwierig und fruchtbar das Kompostieren von Gartenresten ist. Während der angrenzende Rehberge-Park von Rasen und Bäumen dominiert wird, gibt es hier blühende Wiesen, Äcker zum Gärtnern, Teiche für ökologische Beobachtungen, eine Feuerstelle zum Grillen und mehrere Bienenstöcke, anhand derer vermittelt wird, welche wichtige Rollen Bienen im Naturkreislauf spielen. Und während vom Nachbargrundstück immer wieder der Duft von gebratenem Fisch herüberweht, werden hier nachhaltige Landwirtschaftsmodelle erprobt, die beispielsweise Fischzucht und Landwirtschaft in einer Win-Win-Situation kombinieren, oder wird zum Beispiel in einem „Ketchup-Projekt“ vermittelt, wie viel Zucker eigentlich in unseren Lebensmitteln steckt.
Die Leitung des SUZ ist auf drei Personen aufgeteilt: es gibt eine pädagogische, eine technische und gärtnerische Leitung. Unterstützt werden sie von Pädagog*innen, angestellten Gärtner*innen, Auszubildenden für Zierpflanzen, jungen Menschen, die hier ihr freiwilliges ökologisches oder soziales Jahr machen, und Aushilfen vom Arbeitsamt, von denen einige im Rahmen des Programms „Essbare Stadt“ für die Mitarbeitenden kochen.
Für die Pädagogik ist Juliane Orsenne zuständig, das heißt sie koordiniert die Kooperationen und Projekte mit Kitas, Schulen und Hochschulen und weiteren externen Partnern, erdenkt sich mit ihrem Team Bildungsangebote und Lehrmaterialien für Schüler*innen und Lehrkräfte und sorgt so dafür, dass das SUZ im besten Sinne ein Lehr- und Lernort ist. Die Bandbreite der angebotenen Projekte reicht weit über das Gärtnern hinaus, wenn vermittelt wird, wie man vom Korn zum Brot kommt, wie Wind, Sonne und Wasser als regenerative Energielieferanten genutzt werden können oder wie Pflanzen zu Heilmitteln und Kosmetika werden. Insgesamt werden die drei Standorte des SUZ Mitte jährlich von ca. 40.000 Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen genutzt.
Unsere Führung über das Gelände beginnt mit den Gebäuden, in denen sich für Schulklassen und Kurse ein Klassenzimmer, eine kleine Bibliothek, Küchen und Arbeitsräume für die Mitarbeitenden befinden. In den Werkstatträumen findet gerade der Kurs „Natur im Spiegel“ in Kooperation mit der Jugendkunstschule Berlin-Mitte statt, der für Kinder ab sieben Jahren offen ist. Während die Kinder einen Gang durch den Garten machen, schauen wir uns in der Werkstatt bereits entstandene Arbeiten an. Juliane Orsenne weist mit Begeisterung in der Stimme auf Gipsarbeiten hin, die Pflanzen nachempfunden sind oder in denen Blätter Abdrücke hinterlassen haben. Im Anschluss an den Kurs werden die Arbeiten im SUZ ausgestellt, dagebliebene Objekte aus vorherigen Kursen wie (Tier-)Skulpturen aus Ton finden sich über das gesamte Gelände in den Beeten und zwischen den Pflanzen verteilt.
Wir gehen am Gerätehaus, in dem Werkzeuge, Erde und Baumaterialien gelagert werden, vorbei und betreten zunächst das Gewächshaus, in dem sich neben zahlreichen Setzlingen, Zimmerpflanzen und Töpfen in verschiedenen Größen ebenfalls ein großer Tisch und Stühle befinden, damit auch hier Wissen weitergegeben werden kann. Dahinter befindet sich ein Teil des Gartens, der ein bisschen wie ein Experimentierfeld daherkommt: neben einem hohen Windrad und mehreren hochstehenden Beeten, die mit Kies gefüllt sind und wie Dächer wirken, steht ein kleines rotes Haus, das direkt aus Schweden importiert zu sein scheint. Auf seinem begrünten Dach befindet sich eine Photovoltaikanlage, ein Stück weiter steht ein weiß-blaues Wetterhäuschen, das aussieht wie ein Hochsitz für Kinder. Noch ein Stück weiter dringen Wassergeräusche aus einem weißen Kasten. „In diesem Teil des Gartens geht es um nachhaltiges Gärtnern, um vielerlei Themen rund um das Klima, alternative Energien und Wasserkreislaufsysteme.“ Frau Orsenne öffnet die Tür und sofort kommen die Fische, die sich im Wasserbehälter befinden, nach vorne geschwommen und gucken neugierig nach draußen. „Das hier ist eine Aquaponik-Pilotanlage, die von Studierenden verschiedener Universitäten betreut wird.“ Sie veranschaulicht, wie mit Hilfe von Bakterien die Reste der Fische umgewandelt werden, sodass sie für Salat, Erdbeeren oder Kräuter in den vertikalen „Beeten“ genutzt werden können.
Weiter geht’s entlang der Schulbeete, auf denen Salate, Kartoffeln, Mangold, Kohlrabi und vieles mehr wachsen. „Normalerweise können die Schülergruppen mit unserer Anleitung selbstständig ihre eigenen Beete planen, bepflanzen, pflegen und dann auch abernten und verarbeiten. Allerdings haben wir das wegen der Corona-Pandemie für sie übernehmen müssen. Nun hoffen wir, dass viele Kinder und Jugendliche nach den Sommerferien immerhin zum Ernten kommen und gesunde Ernährung erleben!“
Wir kommen zu einem kleinen Teich, bei dem Frau Orsenne stehen bleibt, um die Molche zu suchen, die hier leben, doch leider können wir sie nicht finden. Wir gehen ein paar Stufen hinauf zur Totholzecke und weiter zum Bienenhaus. Ich werde auf einen weiteren tierischen Mitbewohner aufmerksam gemacht, der zwar ebenfalls unsichtbar bleibt, aber an dem tiefen Loch zu erkennen ist, das sich direkt neben dem Haus befindet. Hier lebt ein Dachspaar, das trotz der umfangreichen unterirdischen Gräben geduldet wird. Neben den Bienen und einem Fuchs gibt es zudem noch einen Waschbär, der am liebsten vormittags in der Astgabel von einem der hohen Bäume herunterschaut.
Aber zurück zur Gartenarbeit: Wir setzen unseren Rundgang fort, kommen an zwei Bauwagen vorbei, von denen einer zu einem Peter-Lustig-Wagen umgebaut werden soll – wenn das denn einfach so machbar wäre. Frau Orsenne zeigt auf den Wagen und berichtet von den vielen Plänen, die sie für das Umweltzentrum hat. Dann holt sie einmal tief Luft und ergänzt, dass dieser Wagen gleichzeitig ein gutes Beispiel dafür wäre, wieviel Geduld diese Arbeit erfordert: „Weil der Bauwagen schon älter ist, ist er nicht mehr sicher. Bevor wir ihn benutzen können, müsste er geprüft und freigegeben werden, das dauert und kostet Geld, das wir zusätzlich beantragen müssen.“ Als bezirkliche Institution seien sie zwar grundfinanziert, aber für besondere Projekte oder Vorhaben müssten zusätzliche Gelder beantragt werden, wobei sich die finanziellen Bedingungen mit der Aufnahme der Gartenarbeitsschulen in das Schulgesetz im Jahr 2016 gebessert hätten. Zuvor wurde vieles über das ehrenamtliche Engagement des Fördervereins des SUZ abgedeckt und möglich gemacht.
Weil sie merklich vor Tatendrang sprüht, frage ich sie, wie lange sie schon hier arbeitet und sie erzählt, dass sie erst im April 2021 die pädagogische Leitung übernommen hat. Zuvor hätte sie als Biologie-Lehrerin am benachbarten Lessing-Gymnasium gearbeitet und sei nun als sogenannte abgeordnete Lehrerin am SUZ tätig.
Wir kommen an einem Teich vorbei, der mit Schilf zugewachsen ist, und bei dem ich auf zwei Kröten aufmerksam gemacht werde. Im Hintergrund beginnt ein kleiner Sandhügel, der mit windschiefen Kiefern bewachsen ist. „Das ist die Düne Wedding. Dabei handelt es sich um ein Relikt aus der Eiszeit – um die einzig erhaltene innerstädtische Binnendüne Berlins und Deutschlands“, erzählt Orsenne. Seit 2012 kümmert sich die Bezirksgruppe Mitte des NABU um die Pflege des einzigartigen Biotops und befreite es „mit schwerem Gerät und sehr viel Handarbeit“ von ihrem dichten Bewuchs, um die Düne soweit möglich, wieder in ihren „ursprünglichen“ Zustand zurückzuversetzen.[2]
Das SUZ wird mit den vielseitigen Eindrücken, die man hier gewinnen kann, seinem Ruf als „grüne Bildungsoase in einer Metropole“[3] mehr als gerecht.
[1] Bildung für Berlin. Berliner Gartenarbeitsschulen. 90 Jahre Grüne Lernorte in den Berliner Bezirken, hrsg. v. der Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung, Berlin 2010, S. 7/8, https://www.suz-mitte.de/images/downloads/90jahre_gartenarbeitsschulen.pdf
[2] Zur Düne Wedding siehe auch die gleichnamige Publikation von Constanze Fischbeck und Sven Kalden, das in diesem Artikel vorgestellt wird: https://kultur-mitte.de/historische-freilegungen-und-taegliche-gedaechtnisspaziergaenge/
[3] Vgl. Grußworte der Bezirksstadträtinnen und Bezirksstadträte, in: 100 Jahre Gartenarbeitsschulen in Berlin hrsg. v. der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie, Berlin 2020, S. 5.
Infos:
Gartenarbeitsschule Wedding
Scharnweberstraße 159
13405 Berlin
Das SUZ ist in der Regel von 8 bis 15 Uhr geöffnet – wenn das Tor geöffnet ist, kann man auf das Gelände laufen, sich im Büro anmelden und kann dann eigenständig den weitläufigen Garten erkunden.
Filiale Seestraße
Seestr. 74
13347 Berlin
Filiale Birkenstraße – Gartenarbeitsschule Tiergarten
Birkenstr. 35
10551 Berlin
Informationen zum SUZ finden sie hier: https://www.schulumweltzentrum.de/
Aktuelle Informationen zu Workshops der Jugendkunstschule hier.