Während eines Rundgangs durch die Ausstellung mit dem Kunsthistoriker und Kritiker Christoph Chwatal entwickelte sich ein Gespräch darüber, nach welchen Kriterien künstlerische Praktiken als relational und institutionskritisch gelten können. Chwatal beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Kunst und Organisation.
Zwei zentrale Fragen kamen auf: Was bleibt vom Politischen übrig, wenn sich Künstler*innen zugunsten eines Modifizierens der gesellschaftlichen Realität von radikalen Gesellschaftsutopien verabschieden? Und wie wirkt das Werk eines Künstlers, der Kunst als Gemeinschaftsprozess und soziale Interaktion versteht, in einer Zeit, in der finanzielle Kürzungen den Berliner Kulturetat aushöhlen und partizipative Projekte existenziell bedrohen? Angesichts dieser Entwicklungen stellt sich die Frage, ob Tiravanijas Arbeiten noch als Kritik gelesen werden können – oder bereits Teil des Problems sind.
Heimo Lattner: Im Lichthof des Gropius Baus in Berlin, der derzeit kostenfrei zugänglich ist, hat Rirkrit Tiravanija zentral die Arbeit untitled 2024 (demo station no. 8) installiert, eine Adaption der Raumbühne von Friedrich Kiesler – einem österreichisch-amerikanischen Künstler, Architekten, Designer und Bühnenbildner, aus dem Jahr 1924. Kiesler entwickelte die Theorie des Correalismus als einen ganzheitlichen Designansatz, in dessen Mittelpunkt der Mensch steht. Kieslers Raumbühne kann als Vorläufer des von dem niederländischen Architekten Constant Nieuwenhuys entworfenen Modells New Babylon (1956–1974) gesehen werden – eine utopische, grenzenlose Stadt, die sich in alle Richtungen ausdehnt und ihren Bewohner*innen eine freie und flexible Entfaltung ermöglichen soll. Constant gehörte in den 1960er Jahren zum engsten Kreis der Siuationistischen Internationale (SI) um Guy Debord, die das Konzept einer „theoretischen und praktischen Herstellung von Situationen“, in denen das Leben selbst zum Kunstwerk werden sollte, verfolgte.
Christoph Chwatal: Tiravanijas „Raumskulptur“ wird täglich ab 15 Uhr für ein von Mitarbeiter*innen des Gropius Bau koordiniertes Programm genutzt. Obwohl die Tribüne scheinbar den Nutzer*innen zur freien Verfügung steht, ist sie keineswegs unkuratiert. Sie erscheint mir weniger als ein Ort der spontanen Begegnung und der „Demonstration“, sondern vielmehr als ein Raum, in dem das Unvorhersehbare ausschließlich als institutionelle Rahmung und Kontrolle stattfinden kann. Ich frage mich, ob und wie Besucher*innen die hier institutionell (und künstlerisch) gesetzten Grenzen überschreiten oder unterlaufen könnten? Haben sie überhaupt Interesse daran? Oder sind sie eigentlich ganz zufrieden mit dem, was ihnen hier geboten wird, was prototypisch für einen Museums-Unterhaltungs-Komplex stehen könnte? Die „demo station“ ist von acht Tischtennistischen umringt, untitled 2024 (tomorrow is the question). Darauf ist jeweils die Aufschrift „MORGEN IST DIE FRAGE“ in unterschiedlichen Sprachen und Schriftfarben zu lesen.
HL: Die roten und schwarzen Tischtennisschläger, versehen mit einem weißen Fragezeichen, sind eine Referenz an eine Arbeit des 2007 verstorbenen slowakischen Künstlers Július Koller. Kollers Ping-Pong Club war ein Underground-Club in der Tschechoslowakei der 1970er Jahre. Der Club hatte zweifellos ein subversiveres Potenzial, das stark mit seinem sozialen Kontext verknüpft war. Auch Koller war Mitglied der SI. Tiravanija eignet sich hier also gleich mehrere Erben zitathaft an.
CC: Bekannt wurde Tiravanija weniger für seine architektonischen Arbeiten, sondern für seine Kochsessions in Galerien und Museen. Untitled (Free) war der Titel von Tiravanijas erster Einzelausstellung, die 1992 in der New Yorker 303 Gallery stattgefunden hat. Dabei verlegte er den Inhalt der Hinterzimmer der Galerie in den Ausstellungsraum. Dazu gehörten Kunstwerke, Schreibtische und der Inhalt der Teeküche – alles ordentlich gestapelt, wobei ein Gang freigelassen wurde, damit das Galeriepersonal weiterhin Zugang hatte. Anschließend nutzte er das leere Büro als Küche, um Thai-Curry zu kochen, das den Galeriebesucher*innen kostenlos angeboten wurde.
HL: In der ersten Etage findet sich wieder ein Anschluss an Constant und die Situationisten: untitled 1993 (rucksack installation), 1993. Tiravanija insziniert sich hier als „artist-traveler“ (James Meyer), als nomadischer Künstler und Apologet einer global vernetzten Gemeinschaft (world wide web!). Das Reisen selbst wird Gegenstand der künstlerischen Praxis. Unterwegs entstehen Kartierungen (mappings), Zeichnungen, fotografische oder filmische (Super 8-)Schnappschüsse und Tagebücher. Aber wohin führt diese Leidenschaft im Zeitalter erhöhter Mobilität?
CC: Wenn wir Deine Beobachtungen aus der Ausstellung kritisch betrachten, wird deutlich, wie Künstler*innen hier zunehmend in die Rolle von Dienstleister*innen und (Klein-)Unternehmer*innen gedrängt wurden. Dadurch entstanden neue Subjektivitäten, die eng mit globalen, politischen und ökonomischen Umwälzungen verflochten sind. Diese Dynamiken spiegeln sich in den Arbeiten der Ausstellung wider, zumindest in Teilen. Es finden sich immer wieder autobiografische Elemente, Reisebezüge und projektbezogene Snapshots.
HL: Das Soziale bekam in den 90er Jahren eine Vielzahl von Konnotationen: Dialog, Kollaboration, Prozess, Improvisation. Der Prozess rückte in den Mittelpunkt, oft sollte ja gar kein „fertiges Kunstwerk“ am Ende herauskommen. Es ging auch oft explizit um Kritik genau daran und an einem historisch damit verbundenen Geniekult, wie er in den 1980er Jahren en vogue war. Eine wichtige Referenz für diesen Ansatz ist sicherlich Yvonne Rainers Continuous Project – Altered Daily, ein Schlüsselwerk institutionskritischer Tanzkunst aus dem Jahr 1970. In ihrer Choreographie vermisst Rainer das Verhältnis von Prozess und Produkt sowie Konzeptionen von Autor*innenschaft und künstlerischer Innovation. Hochaktuell!
CC: In den 1990er Jahren kamen dann insbesondere projektbasierte Großausstellungen wie Culture in Action in Chicago (1993), Sonsbeek 93 in Arnhem und andere auf, die ein neues Verständnis von künstlerischer Arbeit und kuratorischer Praxis erprobten. Der Fokus lag zunehmend auf dem Ermöglichen ortsspezifischer Projekte, die mit einem hohen Maß an internationaler Mobilität verbunden waren. Künstler*innen agierten verstärkt als soziale Akteur*innen, während Kurator*innen als Vermittler*innen, Organisator*innen und Netzwerker*innen auftraten. Mobilität, Flexibilität und Kollaboration wurden zu zentralen künstlerischen Arbeitsweisen. Das war nicht nur eine Ermächtigung, sondern wurde zur Notwendigkeit. Im Gegensatz zum vorhergehenden fordistischen Modell künstlerischer Produktion , das auf Vereinzelung im Arbeitsprozess abzielte, stellt das postfordistische Modell ganz andere Anforderungen: Hier stehen Kooperation, kreatives Arbeiten und Selbstmanagement im Vordergrund.
HL: Der Diskurstreiber dieser Entwicklung war der französische Kunstkritiker und Kurator Nicolas Bourriaud und dessen Relationale Ästhetik.
CC: Bourriaud prägte den Begriff mit seiner Ausstellung Traffic,1996 im CAPC Musée d‘art contemporain de Bordeaux. In der Ausstellung und in Folgeprojekten setzte er sich für künstlerische Arbeiten ein, die soziale und dialogische Situationen ermöglichten – oder vielmehr: inszenierten. Relationale Ästhetik stand also für eine Reihe von Praktiken, die Kunst als einen „state of encounter“, eine Form der Begegnung, konzipierten.
HL: Tiravanija schien sein Steckenpferd gewesen zu sein.
CC: Ja, auf dem Cover seines Buchs ist Tiravanijas untitled 1996 (one revolution per minute) in einer Installationsansicht bei Le Consortium in Dijon abgebildet. Für Bourriaud war Tiravanija vor allem relevant, weil er das Herstellen sozialer Situationen im Galerieraum – später auch im Museumsraum – zu einem zentralen Fokus seiner Arbeit gemacht hat.
HL: War die Relationale Ästhetik letztlich weniger eine ästhetische Theorie, als vielmehr ein Label?
CC: Sie fungierte sowohl als ästhetische Theorie als auch als Sammelbegriff für Praktiken, die Kunst als einen „Zustand der Begegnung“ konzipierten. Als Label und kuratorisches Konzept förderte Bourriaud Projekte, die darauf abzielten, Räume der „Geselligkeit“ zu schaffen, ohne sich einer radikalen Utopie zu verschreiben. Anders ausgedrückt: „Die Rolle von Kunstwerken [bestand] nicht länger darin, imaginäre und utopische Realitäten zu formen, sondern tatsächlich Lebensweisen und Handlungsmodelle innerhalb der bestehenden Realität zu sein.“ Die Kunsthistorikerin Claire Bishop untersuchte sowohl theoretisch (unter Rückgriff auf Chantal Mouffe), als auch anhand konkreter Gegenbeispiele, was sie für Bourriauds zentralen Schwachpunkt hielt: ein fehlerhaftes Verständnis von Öffentlichkeit als Ort des rationalen Austauschs und der Debatte.
HL: Und hier haben wir jetzt eine Verkaufsvitrine mit auf dem Spiegelboden aufgefächerten und großzügig gestempelten Reisepässen des Künstlers, mit dem Titel untitled 2006 (passport no. 3). Wie passt das in Bourriauds Konzept der Relationalen Ästhetik?
CC: Wenn man sich in der Ausstellung umschaut, finden wir keineswegs eine Abkehr von klassischen Werkformen: Man sieht hier sowohl Dokumentationen als auch „reenactments“ vorhergehender Arbeiten, aber zugleich auch viele Werke, die deutlich objekthafter – und marktförmiger – sind. Das Spektrum ist also erstaunlich breit. Tiravanija verfügt über eine eigene Studioorganisation, die seine Arbeiten koordiniert, sowie über mehrere Galerien mitsamt Künstlerbetreuer*innen. Hinter der Produktion dieser Vitrinen und anderen Arbeiten, sowie der ganzen Ausstellung, steht ein ganzer Apparat. Es handelt sich keineswegs um eine einzelne Person, die vor Ort kocht oder ähnliche Tätigkeiten ausführt, sondern um eine komplexe, arbeitsteilige Struktur.
HL: Gegenüber der Chromvitrine mit den Reisepässen, steht ein Büffettisch in der Ecke. Es wirkt fast so, als solle er dem glänzenden Schrein etwas entgegensetzen. Eine Art subtile Verweigerung gegenüber – was denn?
CC: Vielleicht spiegelt sich das Misstrauen, dass Tiravanijas marktförmige und schnell „konsumierbare“ Arbeiten von größeren, politischen Aspirationen befreit sind, gerade in dieser Arbeit, untitled 1992 (consumed): zwei Kochtöpfe, jeweils auf einer Herdplatte, umgeben von Überresten, die auf den ersten Blick nach Chaos wirken, aber in Wahrheit akribisch arrangiert sind – angeblich von einem Essen, bei dem wohl Würstchen gekocht wurden.
HL: Die Gläschen sind ausgewaschen und die Gabeln gespült…
CC: …ein paar Krümel, und an die Wand gelehnt stehen zwei großformatige Schwarz-Weiß-Fotografien, auf Alu-Dibond kaschiert, mit Luftpolsterfolie bzw. Papier, die noch halb herunterhängt und die Vorderseiten der Fotografien teilweise verdeckt. Ich bin fast peinlich berührt, hier der plumpen Geste des noch nicht ausgepackten Werks zu begegnen.
HL: Es ist natürlich eine konzeptuelle Entscheidung, ob ich die Gläser spüle oder die Speisereste wochenlang stehen lasse – eine Frage von Material, Form und Inhalt. Da gab es in den 1990er Jahren wirklich radikalere Ansätze, bei denen alles, was im Lauf des Prozesses anfiel, Teil der Arbeit wurde. Der bloße Gestus des Widerspenstigen führt hier aber immer ins Leere. Bei Tiravanija wird nichts zum Problem.
CC: Wir stehen hier buchstäblich in untitled 1994 (der stand der dinge) von 1994 bzw. 2024: „Möbel und Bürobedarf aus dem Gropius Bau“, vor allem aus der Direktionsetage, die im Raum arrangiert wurden und angeblich tatsächlich gelegentlich genutzt werden.
HL: An der Wand ist ein Zitat von Tiravanija abgedruckt: „Es ging immer darum, den Kontext und die Strukturen zu hinterfragen, die die Kunst ausmachen.“
CC: Hier heißt es weiter, Tiravanijas Arbeit sei eine „Anlehnung an die Praxis der Institutionskritik“. Das ist eine bemerkenswerte Formulierung, denn Künstler*innen wie Andrea Fraser oder Hans Haacke würden vermutlich entschieden widersprechen, Tiravanijas Werk als Institutionskritik zu bezeichnen. Seit den 1960er Jahren gab es verschiedene Wellen der Institutionskritik, doch was sie grundsätzlich verbindet, ist eine tiefgehende kritische Auseinandersetzung mit den Räumen, Institutionen und Orten des Kunstbetriebs sowie mit dem Kunstfeld insgesamt – einschließlich seiner Strukturen und Machtgefüge. Das Ziel solcher Befragungen ist es in der Regel, bestehende Verstrickungen und Machtverhältnisse aufzudecken und sichtbar zu machen.
HL: Wie etwa bei Michael Asher, der davor schon mit ähnlichen räumlichen Eingriffen gearbeitet hat.
CC: Ja, Asher hat zum Beispiel in der Claire Copley Gallery in Los Angeles die Trennwand zwischen Ausstellungsraum und Verwaltungsbereich der Galerie entfernt, Untitled, 1974. Dadurch legte er die verborgenen ökonomischen und logistischen Prozesse offen, die Teil des Kunstsystems und -markts sind. Letztlich muss es bei diesen Offenlegungen auch immer um Machtstrukturen gehen. Das ist, glaube ich, der entscheidende Unterschied. Bei Tiravanija wirkt es eher affirmativ – die Rollen von Künstler*innen, Kurator*innen und Galerist*innen, das Backoffice, all das wird hier inszeniert.
HL: Es ist auch der einzige Raum, in dem das Fotografieren verboten ist.
CC: Das verstärkt unseren Eindruck, dass ein kritischer Blick auf die Institution Gropius Bau und ihre (ökonomischen) Strukturen hier nicht der Ansatzpunkt ist.
HL: Geh‘ doch mal zur Haustelefonanlage, untitled 1999 (telephone), und frage, wann die Flädlesuppe fertig ist, die im Lichthof angeblich ausgegeben wird.
CC: Büro, Durchwahl 108: … Da geht niemand ran.
HL: Mir scheint, die nicht funktionierende Leitung ist symptomatisch für die gesamte Ausstellung…
CC: Wenn man das weiterdenkt, wird deutlich, dass hier jegliche Möglichkeit radikaler Potenziale von vornherein ausgeschlossen wird – Potenziale, die Kunst- und Kulturinstitutionen übernehmen könnten, um tatsächlich zu produktiven Orten zu werden. Orte, die konkret genutzt werden, etwa um Kampagnen zu starten oder transformative Prozesse anzustoßen. Solche Forderungen sind zentral für neuere Strömungen der Institutionskritik, die darauf abzielen, die materiellen und symbolischen Ressourcen von Kunstinstitutionen für andere, oft gesellschaftlich relevante Zwecke einzusetzen. Das wird hier von vorneherein ausgeschlossen. Stattdessen suggeriert Tiravanijas Ausstellung, dass etwas passiert – sei es das gemeinsame Essen, Trinken, Arbeiten oder Produzieren, etwa in Form von Musikaufnahmen. Am Ende bleibt es jedoch eine bloße Inszenierung, die weder produktiv noch transformativ ist.
HL: Und dann greifst du hier zum Telefon, wählst die Nummer vom Büro und meldest dich: „Hallo, Chantal Mouffe am Apparat. Agonismus – Sie wissen schon, der Raum für Dissens. Ich verspüre gerade ein antagonistisch geprägtes Unbehagen. Könnten wir uns hier oben kurz austauschen?“
CC: Sorry, falsch verbunden.
HL: Aus dem Pressetext erfahren wir: „Tiravanijas künstlerische Auseinandersetzung mit Deutschland, westlicher Ausstellungspraxis sowie den Lebensrealitäten und Alltagserfahrungen migrantischer Menschen ist durchzogen von Referenzen aus Kunstgeschichte und Film und bietet kritische, humorvolle und partizipative Zugänge zu gegenwärtigen gesellschaftlichen Debatten.“ Doch gerade Tiravanijas titelgebende Bezugnahme auf Rainer Werner Fassbinders Melodram Angst essen Seele auf (1974), das auf einem kleinen Monitor hinter einem Tresen gezeigt wird, halte ich für problematisch.
CC: Tiravanija hat wenig mit den Lebensrealitäten der Figuren aus Fassbinders Film – dem Gastarbeiter Ali und der Putzfrau Emmi – gemein. Sein Verweis auf Angst essen Seele auf hinterlässt einen faden Beigeschmack; er geht über die Kulisse nicht hinaus. Was mich dabei irritiert, ist die Inszenierung einer Pseudo-Verbrüderung – sie steht exemplarisch für problematische Mechanismen in der Kunstwelt. Es wirkt fast zynisch, wenn man sie im Kontext realer Herausforderungen wie Fremdenfeindlichkeit betrachtet. Fassbinders Film war seinerzeit ein zentraler Beitrag zur Sichtbarmachung von Rassismus und sozialer Ausgrenzung. Mit präziser Analyse legte er die Dynamiken von Fremdheit, Ausbeutung und Intimität in der Nachkriegsgesellschaft der Bundesrepublik offen. Ohne eine eigenständige Auseinandersetzung oder Kontextualisierung erscheint Tiravanijas Referenz jedoch eher wie ein dekoratives Zitat, das kaum als kritisches Moment wirksam wird.
HL: Ein Problem von Retrospektiven ist, dass die Person der Künstler*innen oft stark in den Vordergrund gerückt wird. Der Inszenierung der eigenen Identität in so einer Ausstellung zu entkommen, bleibt auch hier uneingelöst – im Gegenteil. Der Künstler verschwindet keineswegs, sondern ist geradezu überpräsent, da kaum eine Arbeit ohne ihn als „Ermöglicher“ funktioniert. Der Ausweg? Der Künstler liegt im gold-verchromten Orgonakkumulator, untitled 2003 (in the future everything will be chrome). Als fotorealistisch nachgebildete Wachsfigur lächelt er verschmitzt hinter seiner rot getönten Brille hervor, im Hintergrund läuft SpongeBob Schwammkopf – ein Bild zwischen surrealer Künstlichkeit und absurder Selbstinszenierung. Es erscheint fast konsequent, dass das Spiel mit der eigenen Person hier bis zur radikalen Überzeichnung, ja ins Groteske, geführt wird. Und das, finde ich, ist vollkommen in Ordnung.
CC: Hier sind wir wieder im ersten Raum angekommen, den wir zu Beginn unseres Parcours als leer wahrgenommen hatten. Und doch befindet sich hier vermutlich die spektakulärste Arbeit der Ausstellung: untitled 1987 (text in red and black). Das ist eine Arbeit, die Tiravanija als Student gemacht hatte und mit ihr hat er sich auf ein Reisestipendium beworben. Es ist aber nicht klar, ob er es bekommen hat. An der Wand sehen wir mit Vinylfolie folgenden Text: „WE DEMAND THE RETURN OF OUR CULTURAL ARTIFACTS IN THE MUSEUM OF THE ART INSTITUTE OF CHICAGO, OTHERWISE WE WILL BLOW IT UP.” („Wir fordern die Rückgabe unserer Kulturgüter aus dem Museum des Art Institute of Chicago, sonst sprengen wir es in die Luft.“ (Anm.: Übersetzung des Autors))
HL: Ich frage mich, wie wir die Ausstellung gelesen hätten, wenn uns der Satz am Anfang aufgefallen wäre.
CC: Wir hätten vielleicht gesehen, dass er diese Position 1987 formuliert hat und in den darauffolgenden Jahren zur Erkenntnis gelangte, dass Transformation von außen – eine aktivistische Haltung – nicht funktioniert. Vielleicht dachte er sich: „Na gut, dann versuche ich es immanent“ und entschied sich, durch die Institutionen zu gehen, anstatt sich von außen in einer quasi aktivistischen Geste gegen sie zu positionieren.
HL: Sonst würde hier an der Wand vielleicht stehen: Wir fordern die Rücknahme der geplanten Haushaltskürzungen für Kunst und Kultur von 11,6% , sonst besetzen wir den Gropius Bau.
CC: Das wäre ein Risiko!
Christoph Chwatal, Dr. phil., ist Kunsthistoriker und -kritiker. Er ist Mitarbeiter im Forschungsprojekt „Ortskomplexe. Modelle responsiven Handelns für das 21. Jahrhundert“ (Universität Wien/Universität der Künste Berlin). Zuvor war er Lecturer an der Vrije Universiteit Amsterdam, Juliane-und-Franz-Roh-Stipendiat am Zentralinstitut für Kunstgeschichte München sowie Marie-Skłodowska-Curie-Fellow an der Graduate School for the Humanities der Universität zu Köln. Seine Forschung wurde in Zeitschriften wie Stedelijk Studies, kritische berichte und Third Text publiziert. Als Kunstkritiker schreibt er regelmäßig für Publikationen wie Art Papers, springerin und Texte zur Kunst.
Die Ausstellung Rirkrit Tiravanija: DAS GLÜCK IST NICHT IMMER LUSTIG ist noch bis 12.1.2025 im Gropius Bau zu sehen.