Anna-Lena Wenzel: Du hast im Rahmen einer Ausschreibung des Fachbereichs Kunst, Kultur und Geschichte des Bezirksamts Mitte das Konzept der Institutions Extended eingereicht und den Zuschlag erhalten. Wie ist die Idee dazu entstanden?
Marina Naprushkina: Viele junge Künstler*innen finden heute in Berlin nicht mehr die Bedingungen vor, wie die Künstler*innen früher. Wir haben heute keine Grundlage mehr zum Arbeiten, weil uns die Räume und das Geld zum Leben fehlen, und weil wir mit der Kunst meist nichts verdienen. Zudem schrumpfen die Möglichkeiten des Zeigens unserer Arbeiten, weil sich auch Institutionen zwischenzeitlich in einer Ressourcennotlage befinden, zu wenig Geld zur Verfügung haben und personell schlecht ausgestattet sind.
Ich habe Institutions Extended aus meiner Lebenserfahrung als Künstlerin und Raumbetreiberin heraus entwickelt. Ich beobachte bei vielen Künstler*innen, und auch bei mir selber, dass die Zeit für das Kunstmachen immer weniger wird. Wenn du älter wirst oder für eine Familie den Unterhalt sichern musst, wird es noch schwieriger. Als Künstlerin brauche ich Zeit, als Projektraumbetreiberin Raum und Geld, um ihn finanzieren zu können. Beides zu kombinieren ist fast eine unmögliche Aufgabe. Mich treibt die Frage um: Wie kann man mit der künstlerischen Arbeit die eigene Lebensgrundlage sichern? Als ich die Ausschreibung bekam, sah ich hier eine Möglichkeit, durch das Konzept der Institutions Extended neue Impulse und Denkanstöße zu geben.
Vorschläge von Teilnehmenden bei „Zeit für Kunst“
ALW: Das Ziel ist „bestehende Institutionen und Ausstellungsformate zu öffnen und den Austausch mit der Öffentlichkeit im Sinne eines Publikums zu fördern.“ Was genau hast du vor?
MN: Man muss meiner Meinung nach daran arbeiten, wie man das, was da ist, so nutzen kann, dass mehr Menschen etwas davon haben. Mein Gedanke war: weil die Räume in Berlin-Mitte immer weniger werden, können wir sie vielleicht teilen und damit für mehr gemeinschaftliche Nutzung sorgen. Es ich wichtig, dass es Räume gibt, die nicht klar definiert sind, wo sich nicht nur eine Gruppe heimisch fühlt und die anderen nicht.
Der zweite Ansatz ist grundsätzlicher: Wie kann man die Strukturen verbessern? Die Kulturschaffenden müssen für ihre Tätigkeit anerkannt und für ihre Arbeit entlohnt werden. Die Ausstellungshonorare sind für mich erst der Anfang! Die Entscheidung, Künstler*in zu werden, muss gesellschaftlich Unterstützung finden. Besonders im Kulturbereich stehen Arbeit und Bezahlung nicht im Verhältnis zueinander. Die Politik sollte weiter über ein Grundeinkommen nachdenken. Von alleine regelt sich da nichts. Und dass wir den Anteil ausstellender Frauen massiv erhöhen müssen, brauche ich nicht extra zu erwähnen. Da ist viel Nachholbedarf.
Wir müssen über all diese Fragen und Schieflagen nachdenken, uns hierfür Zeit nehmen. In diesem Sinne lud ich im November zu meiner Auftaktveranstaltung für Institutions Extended unter dem Titel „Zeit für Kunst“ ein.
ALW: Es gab fünf Tische mit fünf Themen, und dann ist man als Teilnehmer*in bzw. Gruppe von Tisch zu Tisch gewandert und hat sich ausgetauscht. Begleitet wurde das Programm durch Beide Messies, zwei Performance-Künstler, die die Veranstaltung musikalisch begleitet und die einzelnen Runden der Veranstaltung eingeläutet haben.
MN: Ich habe die Auftaktveranstaltung organisiert, weil ich nicht vorgeben wollte, wie es geht, sondern mich darüber austauschen wollte, was die Dringlichkeiten sind und was für Ideen es gibt. Es war toll, dass sich so viele auf diese Art von Veranstaltung eingelassen haben, wo es kein vorgegebenes, frontales Programm gab, sondern wir miteinander diskutiert haben. Das bedeutete, sich mit anderen zu konfrontieren und sich über zum Teil persönliche Themen auszutauschen. Ich habe Themen vorgegeben wie „Arbeitsräume“, „angemessene Bezahlung“, „Erweiterung und neue Formate in Institutionen“. Da ist sehr viel herausgekommen, was ich in den nächsten zwei Jahren angehen kann (lacht). Letztlich war die Idee dahinter: lasst uns miteinander über diese Themen sprechen. Ich hatte erwartet, dass wir uns relativ einig sind, was diese Grundthemen angeht, und habe dann gemerkt, dass die Teilnehmer*innen doch sehr unterschiedliche Perspektiven und Meinungen hatten. Das hat mich bestärkt darin, dass es wichtig ist, die Leute miteinander ins Gespräch zu bringen.
ALW: Es stimmt, für mich hat es total gut funktioniert! Ich fand es super, sich mit anderen Protagonist*innen auszutauschen, und auch interessant festzustellen, dass man, obwohl man im selben Feld arbeitet, doch unterschiedliche Perspektiven, Anliegen und Dringlichkeiten haben kann. Wie geht es nun weiter?
MN: Die Themen und Vorschläge, die bei diesem Treffen aufgekommen sind, versuche ich nun konkret anzugehen. Das Gute ist, dass ich dafür zweieinhalb Jahre Zeit habe. Da kann man schon probieren, etwas Neues einzuführen und zu entwickeln – und eventuell langfristig die Struktur zu verändern.
Was im Mittelpunkt steht, ist folgendes: wir haben Künstler*innen, Institutionen und eine Öffentlichkeit. Wie kann man diese miteinander verbinden? Und wie kann man in Institutionen neue Formate einführen, damit mehr Bewegung und Austausch passiert?
Dazu habe ich zunächst zwei Arbeitsgruppen zusammengestellt – eine zum Thema „Arbeitsräume“ und die andere zum Thema „Neue Formate“. Aus den Arbeitsgruppen heraus entstehen zwei Open Calls. Ich finde dieses Instrument des Open Calls total wichtig! Die Künstler*innen müssen eine Möglichkeit haben, Institutionen Vorschläge für Ausstellungsformate und weitere Nutzungsoptionen zu unterbreiten.
Ein Open Call bedeutet viel mehr Arbeit und die Institutionen sind überlastet, aber es führt für mich kein Weg daran vorbei. Institutionen sind Ressourcen, und man muss schauen, dass die Künstler*innen, die in einem Bezirk arbeiten oder wohnen, dazu kommen, diese als ihre Institution wahrzunehmen.
Wie einer der Teilnehmer der Diskussionsrunde beschrieben hat: „Die Entscheidung darüber, wer ausstellt, muss nicht unbedingt die Institution treffen.” Es könnte zum Beispiel ein künstlerischer Beirat sein, der jedes Jahr neu ausgeschrieben werden könnte. Ich wohne seit zehn Jahren in Moabit und habe letztes Jahr zum ersten Mal hier ausgestellt. Mein Bekanntschaftskreis kann nicht mit mir nach Warschau zu einer Eröffnung fliegen, aber wenn es in der Nachbarschaft ist, kommen die Menschen. Die Künstler*innen müssen eine Möglichkeit haben, in der und für die Nachbarschaft etwas zu machen.
ALW: Wie waren die ersten Treffen mit den Arbeitsgruppen?
MN: Es gab bereits einen konkreten Vorschlag, um die Situation mit den Arbeitsräumen zu verbessern. Es ist klar, dass wir mehr Arbeitsräume brauchen, hier muss weiterhin politisch viel passieren. Die Räume müssen auch für Künstler*innen bezahlbar bleiben. Auf dem aktuellen Niveau der Künstler*innenhonorare müssten die Räume kostenlos zur Verfügung stehen… Aber solange das nicht gelöst ist, gibt es die Idee, Künstler*innen und beispielsweise Literat*innen zusammenzubringen mit der Option, dass sie sich Arbeitsräume teilen. Das kann sehr interessant werden. Damit sich die Leute untereinander kennenlernen, wollen wir ein Speed-Dating veranstalten. Idealerweise entstehen dabei neue Verbindungen und Freundschaften.
Die zweite Arbeitsgruppe ist zum Thema „Neue Formate“. Wir überlegen, wie man Veranstaltungen für Künstler*innen machen kann, damit sie zeigen können, woran sie arbeiten, und das spartenübergreifend. Wir müssen mehr Künstler*innen Möglichkeiten geben, sich zu präsentieren. Im Februar werden die Open Calls veröffentlicht.
ALW: Wenn ich es richtig verstehe, hast du dir in den ersten 100 Tagen vor allem einen Überblick verschafft, dich ausgetauscht und erste konkrete Ideen entwickelt. Parallel dazu hast du Gespräche mit Künstler*innen geführt, die im Magazin der Kulturplattform Kultur-Mitte veröffentlicht werden.
MN: Die Reihe ist Teil von Institutions Extended. Hier stelle ich Künstler*innen der unterschiedlichen Kunstsparten vor, die in Berlin-Mitte wohnen und arbeiten. Wir sprechen über ihre Arbeit und ihr Leben als Ganzes: Was es heißt, Künstler*in zu sein, in Berlin zu wohnen und zu arbeiten. Wie schafft man das im Alltag? Wofür brennen sie? Es soll eben nicht unbedingt über konkrete Arbeiten und Ausstellungspläne gehen. Bisher erschienen sind Gespräche mit Batoul Sedawi, Egill Saebjörnsson und Tanja Ostijić.
ALW: Wie ist bis jetzt die Zusammenarbeit mit den Institutionen gewesen? Gab es schon erste Kontakte?
MN: Nein. Konkrete Vorschläge für Orte und neue Formate werden aus den Open Calls herauskommen. Ich bin optimistisch, dass die Institutionen dann offen sein werden.
ALW: Ich kann mir vorstellen, dass du mit deinem Konzept bei den Institutionen offene Türen einrennst, weil es mittlerweile ja viele Bemühungen gibt, das Publikum zu diversifizieren. Es wurde in den letzten Jahren viel investiert in Vermittlungs- und Outreachprogramme.
MN: Ja, aber es ist viel Arbeit. Man muss oft umdenken, sich mit den Augen der anderen anschauen. Die Besucher*innen müssen diese Orte für sich entdecken, müssen wiederkommen wollen. Man muss mit ihnen langfristig arbeiten, dann entsteht Austausch, wird Bildung und Vermittlung möglich. Genau das will ja die Kunstvermittlung. Und dann muss man auch unterscheiden zwischen beispielsweise den privaten Off-spaces und den öffentlichen Einrichtungen. Die haben unterschiedliche Ausgangsbedingungen. Ich denke, letztlich können Institutionen nur durch die Diversität leben. Das Soziale zu ermöglichen, ist eine tolle Aufgabe!