„Deutschland ist eine Klassengesellschaft, die so tut, als wäre sie keine. Das macht sie besonders undurchlässig. Darüber zu reden, wie soziale Herkunft Lebenswege bestimmt, ist fast ein Tabu. Diese Scham wollen wir überwinden.“ So heißt es in der Ankündigung der Veranstaltungsreihe Let’s talk about class – Wege aus dem Klassenkrampf, die Daniela Dröscher und Michael Ebmeyer initiiert haben. Sie umfasst fünf Abendveranstaltungen im Acud Studio.
Weil die Klassenherkunft „maßgeblich [bestimmt], wie leicht wir Zugang zum Kulturbetrieb erlangen, welche Werte wir bestimmten Kunstformen zuschreiben und ob die Werke, die wir schätzen, ein Teil des Kanons sind“[1], ist es so wichtig, sich dieser Mechanismen klar zu werden und sie transparent zu machen – in anderen Worten: über sie zu sprechen. Klasse ist eine wichtige Analysekategorie um gesellschaftliche Verhältnisse und Hierarchien zu verstehen, sagt die Autorin Daniela Dröscher. Einen Anfang hat mit ihrem Buch Zeige deine Klasse gemacht. Es ist eine Reise in die Geschichte der eigenen sozialen Herkunft und darin schonungslos ehrlich. Sie schildert darin das Aufwachsen in einer klassischen westdeutschen Mittelschichtsfamilie: „Meine Eltern hatten die ersten „sauberen“ Anstellungsberufe in der Familie. Geld war nie ein Problem, Bildung war vorgesehen und trotzdem habe ich irgendwann gemerkt, dass alle anderen an der Uni Akademikereltern haben. Die Art und Weise, wie gesprochen wurde, schüchterte mich ein – ich habe mich nicht zugehörig gefühlt.“[2] In ihrem Buch geht es neben der Verunsicherung, die mit ihrem Klassen- bzw. Milieuwechsels ins akademisch, bürgerliche Feld einherging, auch viel um die Scham über die eigene Herkunft, über den Dialekt, der in der Kleinstadt gesprochen wird, die dicke Mutter und der dörfliche, zum Teil bäuerliche Hintergrund der Familie.
Zum Auftakt der Veranstaltungsreihe am 20. Februar ist in der Mitte des verwinkelten Raumes im ersten Stock ein großer Tisch aufgestellt, um den die drei Gäste und die Moderator*innen sitzen. Um sie herum hat sich das Publikum angeordnet. Alle Stühle sind belegt, der Andrang ist groß.
Die Schriftstellerin Lucy Fricke macht den Anfang. Sie kennt Armut aus ihrer eigenen Biografie, da sie in einem prekären Elternhaus lebte und mit 16 Jahren in eine betreute Wohngemeinschaft zog. Sie zitiert aus ihrem Buch Töchter einige Stellen, in denen es darum geht, wie schwer es ist, der eigenen Herkunft zu entkommen: „Der Armut der Eltern konnte niemand entkommen, der Geruch blieb haften. Sogar der Gang verriet alles, so aufrecht, steif und stolz, gegen jede Unterdrückung, ohne jede Lässigkeit.“ Ganz konkret bedeutet das, dass die Autorin, während andere Menschen Häuser und Geld erben, ihren Eltern Geld zahlt. Eindringlich berichtet sie von einem Besuch im Sozialamt, bei dem sie im Fahrstuhl von einem Obdachlosen angepinkelt wird und begreift: es geht noch schlimmer. Sie arbeitet sich aus der Armut heraus, sagt jedoch „ich musste immer besser sein als der Rest.“
Paula Fürstenberg, ebenfalls Schriftstellerin hat für den Abend einen kurzen Text geschrieben, in dem sie einen Bogen schlägt vom Umgang mit Geld und Besitz in der DDR und der Künstlerfamilie, in die sie hineingeboren wurde, und der häufig prekär lebenden heutigen Kulturszene, die durch Burn-Out und reiche Gönner*innen und elitäre Freundeskreise geprägt ist. Ihr Umgang mit dem Begriff ist differenziert: „Als ich gefragt werde, welcher Klasse ich mich zugehörig fühle, ist meine erste Antwort nicht ‚ostdeutsch‘, sondern ‚kreatives Prekariat‘ – kaum ökonomisches, aber viel kulturelles Kapital. Unsere mehrschichtigen Herkünfte und Selbst-Neuerfindungen ergeben so wilde wie verwirrende Biografien in den Zwischenräumen der herkömmlichen Klassenbegriffe. Wenn wir in dieser Unübersichtlichkeit über Klasse sprechen, brauchen wir mehr als nur die Ost-West-Unterscheidung – und vor allem die Bereitschaft, überhaupt über Klasse zu sprechen. Die Frage danach zerrt die eigenen Eltern ins Rampenlicht. Wir wollen aber eine Gesellschaft sein, in der egal ist, woher man kommt, und nur zählt, wo man jetzt ist, als hätte das eine nichts mit dem anderen zu tun – eine Utopie, die ich mag, der wir aber nicht näherkommen, indem wir sie einfach behaupten und dabei Unterschiede tabuisieren. Tatsächlich benutze ich das Wort Klasse so selten, dass es sich wie aus einer Fremdsprache anfühlt. Meiner Vokabelliste füge ich das kreative Prekariat hinzu.“[3]
Der dritte Gast ist Aurélie Maurin, die in einer französischen Banlieue aufwuchs und seit 2000 in Deutschland lebt. Sie führt den schönen Begriff „Klassenjetlag“ für das Gefühl des Dazwischen ein und bringt den französischen Autor und Soziologen Didier Eribon ins Spiel, dessen Buch Rückkehr nach Reims über seine proletarische Herkunft zu einem Bestseller wurde. Es brachte zur Sprache, was vorher lange Zeit unsagbar war: die Erfahrungen von Scham und Abgrenzung gegenüber den eigenen Eltern, das Gefühl des Minderwertigkeitseins, des daraus erwachsenen extremen Ehrgeizes und der damit einhergehenden Einsamkeit. Statt ebenfalls einen Text vorzulesen, nimmt Aurélie Maurin ihre Gitarre zur Hand und bezaubert mit selbstkomponierten Chansons, in denen sie liebevoll-ironisch das Thema der Klassenunterschiede umkreist.
Am Ende wird das Publikum aufgefordert, Begriffe zu nennen, die für sie mit dem Thema Klasse verbunden sind. Erst etwas zögerlich, werden dann aus allen Ecken des Raumes munter welche in die Menge gerufen. Kapitalismus, Habitus und die gläserne Decke sind genauso dabei wie Prosecco versus Cremant. Es wird klar: das Thema ist vielschichtig und zeigt sich in vielfältigen Abgrenzungs-, Distinktions- und Diskriminierungsmomenten. Gut, dass endlich darüber gesprochen wird!
Die nächste Veranstaltung von Let’s talk about class #2 am 2. April mit Hatice Akyün und Annett Gröschner wird als Livestream übertragen und wird hier ab 20 Uhr zu hören und sehen sein.
Weitere Termine: 18. Juni, 10. September, 5. November.
[1] https://www.diversity-arts-culture.berlin/woerterbuch/klassismus
[2] „Die Scham treibt uns an“, Daniela Dröscher, Dilek Güngör und Caren Miesenberger im Gespräch, in: Missy Magazin, April/Mai 2020, S. 52-54.
[3] Paula Fürstenberg: Er nennt mich Ospe, in: der Freitag, Ausgabe 11/2020, https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/ich-bin-eine-ospe