Maja „May“ Smoszna & Malte Pieper

Was den Wedding zusammenhält

19.09.2024
Raquel van Haver vor ihrem raumgreifenden Wandbild in der Galerie Wedding. Foto: Wataru Murakami
Raquel van Haver vor ihrem raumgreifenden Wandbild in der Galerie Wedding. Foto: Wataru Murakami

Die Künstlerin Raquel van Haver verwandelt die Galerie Wedding derzeit mit einem großen Wandbild in einen gemeinschaftsstiftenden Ort, der jene Menschen würdigt, die den Kiez mit ihrem Engagement prägen, aber oft wenig Aufmerksamkeit erfahren. Im Gespräch mit den Kurator*innen erklärt sie, was den Wedding mir ihrem Viertel in Amsterdam verbindet und wie sich in ihrer Arbeit die Straßenkunst ihres Geburtslandes Kolumbien und die niederländischen alten Meister zusammenfinden.

In ihrer künstlerischen Praxis beschäftigt sich Raquel van Haver mit sozialen Themen. In kraftvollen und energiegeladenen Gemälden, Zeichnungen und Collagen stellt sie Menschen in alltäglichen Szenen dar, die sich für einen positiven Wandel in ihrer Gemeinschaft einsetzen. Sie erzählen multiperspektivische Geschichten, die in der dominanten Geschichtsschreibung unterrepräsentiert sind. Van Haver stützt sich hierzu auf eine Vielzahl persönlicher Begegnungen und vermittelt zeitgleich ein Gefühl für den Ort und seine soziale Lage, wobei ihr Fokus auf der Karibik und dem globalen Süden liegt.

Ihre dabei gesammelten Erfahrungen überträgt die Künstlerin in der Ausstellung „Rundhalle“, die aktuell in der Galerie Wedding zu sehen ist, nun auf diesen besonders diversen Stadtteil Berlins. Der Titel bezieht sich auf einen besonderen Raumtypus in öffentlichen Gebäuden, der gewöhnlich für Versammlungen und die Ausstellung repräsentativer Porträts genutzt wird.

Raquel van Haver porträtiert während ihres mehrwöchigen Aufenthaltes im Wedding Menschen, die sich für den Kiez engagieren. Im Galerieraum entsteht ein großes Wandbild mit Kreide auf Tafelfarbe. Die Gestaltung erinnert an einen öffentlichen Klassenraum und verweist auf verschiedene Formen des gemeinschaftlichen Lernens, die über die konventionellen, institutionalisierten Typen der Bildung hinausgehen. Die Netzwerke, Gruppen und Einzelpersonen, die die Künstlerin abbildet, repräsentieren Akteur*innen, deren unermüdliche Arbeit und ungebrochenes Engagement für die lokale Gemeinschaft oft sozusagen „hinter den Kulissen“ bleibt und selten dokumentiert, geschweige denn archiviert wird. Diesem Defizit möchte van Haver in der Ausstellung mit künstlerischen Mitteln begegnen. Unterstützt wird sie dabei von dem*der im Wedding lebenden Künstler*in Chie Marquart-Tabel. Chie hat in der Management- und Nachhaltigkeitsberatung gearbeitet und als Künstler*in und Illustrator*in verschiedene Kunstwerke für queere Community-Räume geschaffen.

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Anichten der Ausstellung „Rundhalle“. Foto: Wataru Murakami
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Foto: Wataru Murakami
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Foto: Wataru Murakami
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Foto: Wataru Murakami

Maja „May“ Smoszna & Malte Pieper [MM]: In Amsterdam, wo du derzeit lebst, befindet sich dein Atelier in Bijlmer, einem sehr diversen Viertel mit Bewohner*innen aus Surinam, den Niederländischen Antillen, den ehemaligen niederländischen Kolonien und verschiedenen afrikanischen Ländern. Du hattest bereits erwähnt, wie sehr dich dies bei deiner täglichen Arbeit und bei vielen deiner Projekte inspiriert. Könntest du uns mehr über deinen Ansatz bei der Arbeit im Bezirk Wedding erzählen, der in gewisser Weise in seiner Sozialstruktur dem Bijlmer in seiner Vielfalt ähnelt?

Raquel van Haver [RH]: Im Südosten von Amsterdam, im Bijlmer-Viertel, leben viele Nationalitäten zusammen. Der Bijlmer wurde in den 1960–70er Jahren gebaut. Das Viertel war eigentlich der Traum der Stadt Amsterdam, eine futuristische Vision, in der junge Paare, junge Familien und Expats in riesigen Komplexen aus Beton zusammen wohnen sollten. Heute ist das ganze Gebiet von sozialen Problemen und Vernachlässigung betroffen. Der Bijlmer war früher ein Ort, an dem man sehr günstig wohnen konnte und wurde so auch ein Zuhause für viele Migrant*innen, die aus Surinam, den Niederländischen Antillen und anderen Ländern nach Amsterdam zuzogen. Der Bijlmer ist wahrscheinlich das größte Gebiet in Amsterdam, in dem Menschen mit unterschiedlichen Herkünften leben: Asien, Lateinamerika, die Karibik und Afrika. Das Viertel ist zu einem wunderschönen Schmelztiegel geworden, in dem verschiedene Sprachen, Musikstile und Kochgewohnheiten aufeinandertreffen.

DJ-Set zur Ausstellungseröffnung in der Galerie Wedding am 13.09.2024.

Auch der Bezirk Wedding ist so ein schöner Schmelztiegel, wenn man sich die hier lebende Bevölkerung ansieht. In der Gegend in Amsterdam, wo ich wohne, wohnen auch einige Künstler*innen, und wir organisieren lokal viele soziale Projekte. Wir arbeiten mit den Communities zusammen. Wir versuchen, sie wirklich in unsere Kunstszene zu integrieren, und sie wiederum versuchen, uns in ihre Community zu integrieren. Es ist eine großartige Möglichkeit, mit den Nachbarn und Nachbarinnen ins Gespräch zu kommen, um zu sehen, wie die Künstler*innen und die Community gemeinsam eine lokale Kultur erhalten und schützen können.

Wenn man jetzt einen Schritt weiterdenkt, dann ist die Gentrifizierung schon krass. Jede große Stadt hat damit ihre Probleme, auch Berlin. Es ist wichtig, dass sich die Stadt entwickeln kann, aber ich denke, dass wir heutzutage in der Politik oft die Identität eines Viertels oder einer Gruppe von Menschen vergessen, die diesen Teil der Stadt tatsächlich am Leben halten. Ich finde, dass sich alles so schnell verändert, deswegen verlieren wir die Seele der Stadt, die Seele der Nachbarschaft, die Seele der Gemeinschaft. Wenn man die Seele einer Gemeinschaft zerstört, wird auch die Gemeinschaft selbst zerstört. Das Projekt, das ich jetzt in den Niederlanden durchführe, und auch das, das ich hier im Wedding machen werde, wird von dem Wunsch angetrieben, die Geschichten von all jenen Menschen zu archivieren, die wirklich versuchen, diese bestimmte Seele eines Viertels zu retten, zu schützen bzw. zu erhalten.

MM: Du möchtest Porträts von Personen der lokalen Anwohnerschaft zeichnen. Die Porträtmalerei hat in der europäischen, insbesondere in der niederländischen Kunstgeschichte eine lange Tradition. Von historischen und politischen Porträts bis hin zu Familienporträts oder privat angefertigten Skizzen des Alltagslebens schaffen sie oft eine gewisse Intimität zwischen dem Künstler bzw. der Künstlerin, d. h. zwischen der betrachtenden und der porträtierten Person. Wie siehst du die Beziehung zwischen dir und den Menschen, die du in deinen Werken darstellst?

Gemälde von Raquel van Haver: „Esperanza, Fe y amor. La madre, la hija y la sabiduria.“ Öl auf Sackleinen und Teer. Foto: Justin Livesey, mit freundlicher Genehmigung des Bonnefantenmuseums, Maastricht

RH: Bei meinen Malereiprojekten, aber auch bei allen anderen Projekten, die ich bisher durchgeführt habe, sehe ich mich als Vermittlerin oder als Brücke zwischen der Leinwand und dem, was ich beobachtet habe, den Menschen, denen ich begegnet bin. Normalerweise führe ich, sagen wir mal, hunderte von Interviews für ein Gemälde. Die Recherche kann bis zu einem Jahr dauern, manchmal sogar zwei, drei Jahre. Ich setze mich mit den Leuten zusammen und wir reden. Ich muss unsere Gespräche verarbeiten und entwerfe eine Geschichte. Was sollte ich weglassen? Was kann ich hinzufügen? Ich versuche, die Energie aus meinen Begegnungen zu übertragen. Am Ende wird das Werk meine Handschrift tragen, aber es bleibt immer noch die individuelle Geschichte der Menschen.

Meine kolumbianischen und niederländischen Wurzeln spielen bei diesem Prozess eine große Rolle. Wenn man sich die kolumbianische Kunst anschaut, sieht man eine Menge Straßenkunst und Wandmalerei. Sie ist „brutaler“, schroffer, und ich mag das. Ich kombiniere gerne meine Erfahrungen aus meiner Kindheit und Jugend in den Niederlanden mit meinem Geburtsort in Kolumbien, um daraus etwas Neues zu schaffen. Ich bin ständig am Experimentieren und Ausprobieren, ich mache meine eigenen Rahmen, manchmal meine eigenen Öle. Das ist Handwerkskunst. Ich setze gerne neue Techniken ein, aber immer auch mit einem Augenzwinkern hin zu den sogenannten alten Meistern der niederländischen Malerei des 16. und 17. Jahrhunderts.

Gemälde von Raquel van Haver: „One drop… your heart might skip a beat for many reasons.“ Foto: Gert Jan van Rooij, mit freundlicher Genehmigung des Stedelijk Museums, Amsterdam

MM: Deine Art zu malen ist mehrdimensional, raumgreifend, vielschichtig, wie ein Relief, oft großformatig und bezieht oft verschiedene Medien und Elemente jenseits von Leinwand und Ölmalerei (wie Kohle, Harz, Perlen) mit ein. In der Galerie Wedding konzentrierst du dich auf die Zeichnung als Technik. Kannst du uns etwas über deinen Ansatz beim Zeichnen erzählen?

RH: Das Zeichnen ist für mich, wie für die meisten Maler und Malerinnen, ja für die meisten Künstler und Künstlerinnen, der Anfang von allem: die kleine Skizze. Das Zeichnen geht leicht von der Hand, und es ist eine wunderbare Art, Menschen zu studieren. Die Tatsache, dass ich die Menschen als Modell vor mir habe, der Akt des Zeichnens und die Schnelligkeit des Zeichnens mit Kreide geben allem ein bisschen mehr Körperlichkeit. Man kann den Linien der Kreide folgen, selbst wenn ich einen Fehler mache und sie wieder ausradiere. Dieser Aspekt des Zeichnens zeigt den „Kampf“ mit der Beobachtung, aber ich glaube auch, dass er viel mit der Stärke und Lebendigkeit der Gemeinschaft zu tun hat. Man kann Fehler machen, aber man kann sie immer noch korrigieren. Indem ich diese Fehler auf der Tafel zeige — da man sie ja nicht ganz, ohne Wasser darauf zu gießen, ausradieren kann — kann man diesen Kampf sehen, und ich hoffe, dass diese Spuren am Ende ein großer Teil der Ausstellung sein werden und präsent bleiben.

MM: Die Tafeln können einige von uns an eine Schulumgebung erinnern. Stellst du diese Verbindung zwischen deiner Arbeit und dem schulischen Umfeld und, im möglicherweise weiteren Sinne, mit unterdrückenden Bildungs- und Schulsystemen bewusst her?

Die Kurator*innen Malte Pieper und Maja „May“ Smoszna im Gespräch mit der Künstlerin während der Eröffnung ihrer Ausstellung. Foto: Wataru Murakami

RH: Wir können dieses Format als eine Art Protest gegen das Schulsystem verstehen. Ich habe selbst verschiedene Schulsysteme durchlaufen. In einem Schmelztiegel wie dem Wedding findet man Menschen, die sehr offen füreinander da sind und einander zuhören. Sie bilden sich gegenseitig weiter, um zu überleben und um ihre Gemeinschaft und ihre Infrastruktur zu erhalten. Wenn ich nach Kolumbien fahre, irgendwo in ländliche Regionen, finde ich diese großen Gemeinschaftshäuser. Wir nennen sie maloca. Dort wird das ganze Dorf mehr oder weniger geboren, unterrichtet und dort werden die Menschen nach ihrem Tod gefeiert. Als Menschen überleben wir, weil wir Wissen weitergeben, wir geben Wissen an unsere Kinder weiter. Wenn sie erwachsen sind, geben sie es dann an ihre eigenen Kinder zurück. Wenn wir einsehen, dass wir nur so überleben und dass eine Gemeinschaft nur so überleben kann, dann ist das auch etwas, was wir feiern sollten. Für den Wedding möchte ich über die Archivierung sprechen und verstehen, warum der Wedding der Wedding ist und wie er gegen Kapitalismus, Globalisierung, Gentrifizierung und all diese Dinge ankämpft. Ich denke, dass das dringend nötig ist. Die Politik in Europa dreht gerade durch, überall gibt es Kriege. Wir sind gespalten, gespaltener denn je. Und ich denke, dass wir Wege finden sollten, wie wir zu einer gemeinsamen Basis zurückkehren können, damit wir verstehen, dass wir zueinander gehören, miteinander sind, anstatt gleichzeitig nirgendwo und überall zu sein.

Raquel van Haver wurde 1989 in Bogotá, Kolumbien, geboren und lebt und arbeitet heute in Amsterdam, Niederlande. Sie schloss 2012 ihr Studium an der HKU Universität der Künste in Utrecht ab. Ihre Arbeiten wurden unter anderem im Stedelijk Museum in Amsterdam, im Dordrechts Museum und dem BOZAR Center for Fine Art in Brüssel ausgestellt. Es sind überwältigende Wandmalereien, die van Haver als „laute Gemälde“ bezeichnet. Sie zeigen das Alltagsleben, oft von marginalisierten Menschen, und verhandeln auf diese Weise den postkolonialen Diskurs über Entfremdung und Akzeptanz.

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