Der Ausstellungsort HAUNT ist erst auf den zweiten Blick zu finden, denn er befindet sich in einem Hinterhof eines Wohnblockes aus den 1970er Jahren. Zwar lässt das Wohnhaus den Blick auf den Hinterhof offen, weil das Haus erst im ersten Stock beginnt, doch beschränken ein Zaun und Büsche den Zugang und den Blick in den Innenhof. Hat man jedoch das Tor passiert und die Müllcontainer hinter sich gelassen, betritt man ein verwunschenes Gelände, dem man ansieht, das es einige Jahre brach lag, und hat das Gefühl in einer kleinen Oase zu sein. Linkerhand steht ein zweistöckiger Klinker-Flachbau und rechts befinden sich Garagen und Werkräume, die von einer hohen Wand begrenzt werden. Schon diese Wand ist ein Hingucker, denn sie ist mit einem bunten, abstrakten Wandbild bemalt, das den Titel „Berliner Melodie“ trägt, wie ein Hinweistext unterhalb des Bildes verrät. Doch auch im Hof ist man augenblicklich von Kunst umgeben: So hängt über der Eingangstür eine Fahne der Künstlerin Alana Lake, die zusammen mit Marianna Ignataki bis zum 22. Mai 2021 die Innenräume von HAUNT bespielt. Vor einer der beiden Garagen hängen mehrere Folienbahnen herunter, die die Künstlerinnen Katja Pudor und Sophia Schama bei einer gemeinsamen Aktion gestaltet haben. Es ist toll, wie gut sich diese Arbeit an den Ort anpasst und mit ihm arbeitet, denn nicht nur der Hintergrund des Garagentors und die davor wachsenden Bäume treten mit ihr in Beziehung, auch zum Wandbild lassen sich Verbindungen ziehen. Über den ganzen Hof verstreut befinden sich weitere Arbeiten der Ausstellung „Snitches get Stitches“. Unter ihnen sind auch eine Malerei und mehrere (interaktive) Installationen, die zum Teil für den Ort entstanden sind, wie die Arbeit „Tree“ von Ulrike Mohr, die aus geköhlerten Ästen besteht, die sie an den Zweigen eines Götterbaumes befestigt hat und die wie Schienen wirken, wie sie bei Brücken angelegt werden. Im überdachten Schuppen hängen außerdem Videoarbeiten, die Performances im öffentlichen Raum (Timo Herbst und Stella Geppert) beziehungsweise die Entstehung einer Zeichnung dokumentieren (Nicole Wendel). Die Ausstellung versammelt Künstler*innen des Kollektivs sowie geladene Gäste und ist damit typisch für das Anliegen des Kollektivs, das sich auch als Plattform versteht: Es geht darum Ausstellungen mit und von den Mitglieder zu realisieren, Künstler*innen einzuladen und mit anderen Institutionen und Orten zu kooperieren. Dabei gibt es keinen thematischen oder formalen Schwerpunkt. Eher werden aktuelle Diskurse aufgegriffen, versteht sich der Ort als ein seismographisches Feld für aktuelle Themen.
Ich frage Stephan Klee, der mir als Kurator und Vereinsvorstand eine Führung gibt, wie lange sich Frontviews bereits hier befindet und wie das Gelände vorher genutzt wurde. Er erzählt, dass das Gebäude früher zum Grünflächenamt Mitte gehörte und ein paar Jahre leer stand, bevor sie es im Frühjahr 2020 von der Gewobag mieteten. Nachdem sie die erste Ausstellung in ziemlich rohen Räumen organsierten, haben sie seitdem viel Arbeit investiert, um die Ausstellungsräume herzurichten, das Gebäude in Stand zu halten und ein Büro für sich und Ateliers für Künstler*innen einzurichten, die sie untervermieten.
Während im Hof weitgehend der ursprüngliche Charakter mitsamt aus den Ritzen sprießenden Götterbäumen und Birken beibehalten wurde, wurden die Innenräume so umgestaltet, dass der Charakter einer Zwischennutzung verschwunden ist und die Räume professionell wirken, auch wenn es sich aufgrund der zerkratzen Bodenfliesen, den Waschbecken in einigen Zimmern und den Rohren, die aus den Ecken kommen, immer noch nicht um einen klassischen White Cube handelt.
Wie kann man sich die Zusammenarbeit des Kollektivs und die Organisationsform vorstellen, möchte ich als nächstes wissen. „Wir sind ein Verein aus dreißig Mitgliedern und zehn Fördermitgliedern, unter denen sich Künstler*innen und Theoretiker*innen befinden. Dann gibt es einen Vorstand und einen kuratorischen Beirat. Circa einmal im Monat findet eine Mitgliederversammlung statt, auf der wir organisatorische und inhaltliche Dinge besprechen. Wir haben uns dazu entschlossen, die Mitgliederzahl zu begrenzen, weil wir gemerkt haben, dass es je größer die Gruppe ist, es umso schwerer ist, handlungsfähig zu bleiben und die verschiedenen Interessen unter einen Hut zu bringen. Ziel ist zudem, den Künstler*innen des Kollektivs die Möglichkeit zu geben, selber auszustellen, das geht nur bis zu einer bestimmten Größe. Wichtig ist, dass die Leute zum Team passen und die Bereitschaft mitbringen, sich aktiv zu beteiligen, denn wir leisten hier viel ehrenamtliche Arbeit. Für die Jahre 2020-21 haben wir die Basisförderung der Senatsverwaltung für Kultur und Europa bekommen, durch die wir uns grundfinanzieren. Zusätzliche Gelder bekommen wir über Mitgliederbeiträge, Bareinnahmen und durch Hilfen von Unterstützer*innen.“
Die Struktur ähnelt somit der Neuen Gesellschaft für bildende Kunst, einem Kunstverein mit basisdemokratischer Struktur, bei dem das Programm durch eine Mitgliederversammlung bestimmt wird, aber auch Produzentengalerien wie Axel Obiger, die ihr Programm ebenfalls aus Mitgliedern und Gästen zusammenstellen. In unmittelbarer Nachbarschaft von HAUNT befinden sich mit dem Schwulen Museum und dem Haus am Lützowplatz zwei weitere Orte die aus selbstorganisierten Kontexten kommend zu Institutionen geworden sind, die einen professionellen Anspruch bei prekärer Finanzierung verfolgen und einen Spagat zwischen ehrenamtlich und hauptamtlich Beschäftigten bewältigen müssen. Überhaupt ist die Umgebung ziemlich kunstaffin, haben sich hier doch – in der Potsdamer Straße, der Kurfürsten- und der Pohlstraße – in den letzten Jahren viele Projekträume und Galerien angesiedelt (und sind zum Teil bereits wieder verschwunden).
Stephan Klee selber sagt über Frontviews, dass sie ein Mischwesen links und rechts des Kunstfeldes seien und gesteht, dass dieser Status eine ziemliche Herausforderung sei. „Es gibt einen hohen Kommunikationsaufwand innerhalb des Vereins, zu dem die vielen Kooperationen mit verschiedenen (europäischen) Institutionen kommen, mit denen wir gemeinsam Ausstellungen organisieren oder Förderanträge auf den Weg bringen. So ist die aktuelle Ausstellung Pleasure Drive eine Zusammenarbeit mit der Galerie Andreas Schmidt, 2019 gab es Kooperationen mit Manière Noire in der Waldenserstraße, Heit in der Eichendorffstraße und dem Kunstraum am Schauplatz in Wien. Hinzu kommt die Infrastruktur hier vor Ort, zu der neben den Aufsichten und Praktikant*innen seit neuestem ein eigenes Vermittlungsprogramm gehört.“
Schaut man auf der Webseite nach, sind dort nicht nur zahlreiche Kooperationspartner*innen wie Botschaften, Projekträume und Galerien genannt, sondern auch viele Künstler*innen, mit denen Frontviews bereits zusammengearbeitet hat. Das liegt auch daran, dass es Frontviews schon seit 2010 gibt. Primär war Frontviews ein Projektgalerie für junge, internationale Positionen im Galeriehaus der Rudi Dutschke-St. 26, seit 2012 arbeite das Kollektiv als gemeinnütziges, nomadisches Projekt, das an so unterschiedlichen Orten wie z.B. dem Betahaus, der Kindl Brauerei und der Schinkelschen Bauakademie ortsbezogene Ausstellungen realisiert hat, und zuletzt seinen Sitz in einer Remise in der Tucholskystraße hatte.
Ist Frontviews mit HAUNT sesshaft geworden, will ich zum Abschluss wissen. „Ja und Nein, denn auch dieser Ort ist bisher leider nicht für immer gesetzt. Dennoch lieben wir ihn und hoffen mit Hilfe der Stadt und allen anderen Beteiligten das HAUNT für zeitgenössische, europäische Kunst im Herzen von Berlin etablieren zu können.
Die Zwischennutzungen und die nomadischen Strukturen, die wir lange Jahre hatten, sind heute nahezu unmöglich geworden, weil potentielle Orte in Folge der Kommerzialisierung des Berliner Gewerbeflächen- Marktes immer seltener werden. Tatsächlich haben wir nach einem festen Ort gesucht, der auch als Anlauf- und Begegnungszentrum funktioniert. Als Basis für unsere Aktivitäten ist es dieser Ort für uns perfekt“, sagt Klee.
Die Ausstellung „Snitches get Stitches“ in den Außenräumen geht noch bis zum 19. Juni 2021.