Vanessa Gravenor(VG): Deine interdisziplinäre Praxis umfasst Journalismus, Kunst, Aktivismus, Poesie. Studiert hast du Biologie und Medizingeschichte. Inwiefern beeinflusst dieser Hintergrund deine Arbeit als Künstlerin und Intellektuelle?
Edna Bonhomme(EB): Mein Studium und die anschließende Promotion in Wissenschaftsgeschichte hat mir die Möglichkeit gegeben zu verstehen, wie verschiedene Disziplinen funktionieren. Es ist ein Katalysator, um aktiv über Größenordnungen vom Mikro- bis zum Makrobereich nachzudenken. Ich spreche mit Menschen mit sehr unterschiedlichen Background, egal ob es sich um Expert*innen, Sexarbeiter*innen oder Asylbewerber*innen handelt. Es ist wichtig die Zusammenhänge zu erkennen, Fragen zu stellen und mich auf eine Welt einzulassen, die sich ständig verändert. Auch beim Lesen: Ich lese British Medical Journal und The Lancet Public Health und gleichzeitig Essays von Susan Sontag über Krankheit und Ästhetik.
VG: Du hast in diesem Jahr dein Manuskript „Tending to Our Wounds“ fertiggestellt, die die private Geschichte der Migration deiner Familie aus Haiti, das aber auch die Themen Reparation und Restitution beinhaltet. Das nächste Buch „Captive Contagions“, welches bald erscheint, befasst sich mit der Geschichte von Krankheiten, die marginalisierten Völkern zugeschrieben werden. Können wir darüber sprechen wie du aus deiner eigenen Lebenserfahrung die Vergangenheit und die aktuellen politischen Ereignissen verhandelst?
EB: In „Tending to Our Wounds“ spreche ich über Reparation und Restitution, ich stelle die Frage, was es braucht, damit Länder, die von der Ausbeutung, der Plünderung und dem Mord anderer profitiert haben, wirklich die Verantwortung für diese anhaltenden Verbrechen und Traumata übernehmen. In meinem Fall denke ich darüber nach, wie Europa und Nordamerika von der Ausbeutung des Leidens der Schwarzen profitiert haben.
Die Begegnungen mit schwarzen Menschen in Haiti, in New York, in Deutschland und darüber hinaus haben meine Praxis beeinflusst. Was würde es bedeuten, nicht nur Reichtum umzuverteilen, sondern Restitution wirklich ernst zu nehmen, indem man sich kontinuierlich und aktiv mit der Geschichte der betroffenen Menschen und aber auch gestohlener Objekte auseinandersetzt? Ich habe das Gefühl, dass das noch nicht geschehen ist.
Offensichtlich gibt es Menschen auf der ganzen Welt, in der Karibik, hier in Deutschland und auf dem afrikanischen Kontinent, die sehr viel in Vergebung und Wiedergutmachung investiert haben, und ich unterstütze diese Kämpfe, aber es verblüfft mich, dass nicht genug getan wurde, um wirklich den Forderungen nachzugehen. Tending to Our Wounds ist auch eine persönliche Forschung, wie wir in unserem Körper emotional und anderweitig leben und die Schäden des Kolonialismus, der Sklaverei, der anti-Blackness, des Gefängnisindustriekomplexes erleben und in uns tragen. In meinem Fall sind konkrete Beispiele dafür Migration, die Inhaftierung meines Bruders oder sogar meine Studienkreditschulden und wie es dazu kam. Diese entscheiden darüber, ob Menschen ein Eigenheim besitzen können, ob Menschen sich in einer Gesellschaft sicher fühlen, oder befürchten müssen, erschossen zu werden. Oder die Wohnungsunsicherheit: Ich selbst bin fünfmal umgezogen und wohne jetzt in Mitte und muss noch vor Jahresende umziehen – damit ist meine Geschichte auch verbunden.
Im neuen Buch „Captive Contagions“ (One Signal Press) knüpfe ich an meine Dissertation „Plague Bodies and Spaces“ an und versuche, die verschiedenen Pandemien zu untersuchen. Ich beginne mit dem 19. Jahrhundert und gehe der Frage nach, wie Pandemien mit Gefangenschaft zusammenhingen. Ich beginne mit einer versklavten Person, beschreibe ihre Erfahrung der Gefangenschaft, das Krankwerden auf einer Plantage, und ich ende mit der Situation rund um das Covid-19-Virus. Ich mache einen großen Unterschied zwischen der falschen Opferrolle der extremen Rechten und ihrer Gleichsetzung von Einschränkungen wie Masken und Impfstoffen mit Gefangenschaft oder sogar Verbrechen der Nazizeit.
VG: In deiner jüngsten Ausstellung „Mobile Fragments“ mit Luiza Prado hast du die Praxis des Quiltens genutzt, um deine eigenen medizinischen Erfahrungen mit Krankheiten zu reflektieren.
EB: Die meisten Menschen werden irgendwann krank. Auch wenn es nur ein leichter Husten oder eine Grippe ist, kämpfen wir ständig um das, was Susan Sontag das Reich der Krankheit und das Reich der Gesunden nannte. In meiner Praxis denke ich viel darüber nach, was es bedeutet, krank zu werden, es zu verkörpern. Abhängig von der Rasse oder dem ethnischen Hintergrund einer Person kann Mitgefühl ausgeübt werden oder nicht. Als dunkelhäutige Schwarze wird meinem Körper, der sich durch die Welt bewegt, nicht die gleiche Sorgfalt geschenkt wie einer Person, die nicht meinen Phänotyp hat. Dass ich über meine eigenen Morbiditätsformen rede und schreibe, hat viel mit den unterschiedlichen und ungleichen medizinischen Behandlungen zu tun, die ich erhalten habe.
VG: Bevor du nach Berlin kamst, hast du in Hafenstädten in Nordafrika gearbeitet und an vielen anderen Orten wie Miami, wo du aufgewachsen bist, Tunis, Kairo und Beirut gelebt. Jetzt bist du in Berlin ansässig. Wie hat dein neuer Wohnort hier deine Praxis verändert?
EB: Ich würde sagen, dass ich in einer Hafenstadt wie Miami geboren und aufgewachsen bin, bedeutete, dass ich Zugang zu einem ganzen Ozean hatte und ihm ausgesetzt war. Miami ist sehr transnational, da über 50% der Bevölkerung nicht dort geboren wurden, die meisten von ihnen kamen aus der Karibik und Lateinamerika. Das half mir, mein Verständnis von Ethnizität und Kultur zu formen, da ich mehrere Orte hatte, an die ich mich wenden konnte, insbesondere Hattian-Eltern und Leute aus der Dominikanischen Republik, Puerto Rico usw. in meiner Nachbarschaft. Es ist wichtig, insbesondere im Fall der Vereinigten Staaten, die Rolle und die Auswirkungen der völkermörderischen Praktiken des Siedlerkolonialismus anzuerkennen und wirklich zu versuchen, die Menschen zu ehren, die aus diesen Gebieten stammen. Als ich in Ägypten lebte, war es genauso: Es war wichtig, aktiv über die Geschichte des britischen Kolonialismus nachzudenken und wie die Ägypter noch immer mit seinen Folgen umgehen.
Als ich zum ersten Mal nach Berlin kam, war ich der Stadt und dem Land viel nachsichtiger gegenüber als heute. Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten fühlte sich Deutschland aufgrund der Sozialleistungen wie der allgemeinen Gesundheitsversorgung als idealer Ort an. Eines der Dinge, die mich das Leben hier gelehrt hat, ist, dass der Reichtum, der heute hier ist, nicht nur auf die völkermörderischen Praktiken gegenüber den Juden und Roma zurückzuführen ist, sondern auch auf seine kolonialen Praktiken auf dem afrikanischen Kontinent und seinen Anteil an der Aufrechterhaltung einer Grenzstruktur, die so vielen Menschen aus dem Globalen Süden die Möglichkeit zur Einwanderung nach Europa verwehrt. Genauso wie der Reichtum und die Produkte, die sie aus dem Benin-Reich gestohlen haben und so. Mein Erwachen über dieses Land und die Stadt Berlin hat dazu geführt, dass ich der kolonialen Dimensionen der Stadt viel kritischer gegenüberstehe.
VG: Deine Arbeit meditiert reichlich über die Macht des Archivs und beunruhigt sie. In deinem Videoessay „To be black, free, and (en)raged“ kombinierst du beispielsweise gefundenes ikonisches Filmmaterial von schwarzen Frauen, die für die Befreiung kämpfen. Kannst du mir etwas über deine Methodik erzählen?
EB: Einige Jahre bevor ich mit meiner Doktorarbeit begann, benutzte ich ein formelles Archiv in New York City am Schomburg Center for Research in Black Culture. Es war ein vergebliches Projekt in dem Sinne, dass ich sehen wollte, ob ich meine Familie im Archiv finden könnte. Ich habe meinen Nachnamen Bonhomme nachgeschlagen und tatsächlich gab es eine Person, die ein Botschafter mit diesem Nachnamen war, der während der Diktatur in NYC lebte und Haitianer anzeigte, die zu dieser Zeit gegen François Duvalier waren. Letztendlich verabscheute meine Familie die Diktatur und musste wegen ihrer politischen Ansichten gehen.
Die Sache mit Archiven im Allgemeinen ist, dass es sich um eine Institution handelt, die Produkte und Gegenstände gestohlen hat. Es war beabsichtigt, einen Nationalstaat aufzubauen und in vielen Fällen das nationale Projekt bestimmter Führer, Aristokraten und Kaufleute zu bewahren. Das sind die Dokumente, die man in vielen europäischen und nordamerikanischen Archiven findet. Gleichzeitig werde ich zumindest einen flüchtigen Blick auf eine versklavte Person oder eine Sexarbeiterin oder einen antikolonialen Führer erhaschen, der eine Polizeistation niedergebrannt hat. Meine Frage nach der Geschichte der Epidemien und Seuchen in Nordafrika war für mich eine Möglichkeit, aktiv darüber nachzudenken, wen ich finden könnte. Was bedeutet es für non-literate people, im Archiv vertreten zu sein, ohne für sich selbst sprechen zu können? Wie kann ich intensiv denken oder gegen den Strich lesen, wie es subalterne Studien oft hervorgebracht haben?
VG: Dies steht im Zusammenhang mit deiner Arbeit im Bereich der radikalen Pädagogik und Gemeinschaftsbildung. Du hast Lesegruppen organisiert und Diskussionen geführt über „Die schwarzen Jakobiner“ von CLR James und „Lose Your Mother“ von Sadiya Hartman oder dein Podcast „Decolonization in Action“, der zu einem umfangreichen Archiv von Gesprächen zum Thema Dekolonisierung wurde.
EB: Der Podcast „Decolonization in Action“ war eine der vielen Anlässe, Gespräche mit vielen Menschen zu führen, die Expert*innen auf dem Gebiet der antikolonialen Kämpfe und der antirassistischen Kämpfe in Deutschland mit anderen Migrant*innen waren. In der letzten Folge des Podcasts ging es um einen Migranten aus Uganda, der nach Deutschland kam, sich um den Flüchtlingsstatus bemühte und eine Besetzung des Oranienplatzes in Kreuzberg durchführte, was ihn dazu brachte, mit einem Kollektiv anderer Migrant*innen und Asylbewerber’innen einen Radiosender zu gründen. Das ist die Art von Erzählung, die ich fördern möchte: Raum für Menschen zu schaffen, die sich aktiv dafür einsetzen, die Welt etwas besser zu machen.
VG: Wie geht es dir dabei?
EB: Ich habe dadurch viel gelernt, und ich lerne weiter. Es gibt so viele Möglichkeiten zu lernen, die außerhalb der Bildungsinstitutionen liegen: durch Aktivismus und die Organisation von Gemeinschaften, vor allem mit Menschen, die entrechtet wurden. Oder durch die Musik, das Singen, das Gespräch miteinander.
VG: Kann man Gemeinschaften bilden durch künstlerische Arbeit?
EB: Bei all meinen Projekten steht die Zusammenarbeit im Mittelpunkt, und dabei geht es nicht nur um strategische Beziehungen, sondern auch darum, eine Gemeinschaft aufzubauen und langfristige Freundschaften zu schließen. Die meisten Menschen, mit denen ich im europäischen Kontext zusammenarbeite, sind Migrant*innen. Und wir alle finden, dass wir nicht ganz in die weiße deutsche Kultur passen. Die künstlerische Arbeit ist eine Möglichkeit, ein Zuhause zu schaffen und für uns die Frage zu stellen, was es bedeutet, in Räumen zu arbeiten, die nicht für uns geschaffen wurden.
Menschen, die aus Ghana, von den Philippinen oder aus Brasilien nach Berlin kommen – Kolonialismus macht es den Menschen schwer, sich frei durch die Welt zu bewegen.
In gewisser Weise ist das Lesen, das Organisieren und auch das Erstellen von Erzähl-Archiven der Audio-Geschichten für mich und für die Gemeinschaften, zu denen ich gehöre, ein Weg, neue Strategien zu entwickeln und damit auch sich die Zukunft vorstellen zu können. Sonst sind wir gefangen im Reagieren auf die Probleme der globalisierten Welt.
Solche Denk – und Produktionsräume zu schaffen, ist auch eine heilende Praxis.
VG: Zusammen mit der Künstlerin Mia Imani Harrison hast du mit „Dreaming Black Futures“ einen virtuellen Raum geschaffen für Prater Digital und mit deinem privaten Archiv gearbeitet.
EB: Als ich die Einladung der Prater Galerie bekommen habe, dachte ich sofort an Mia Imani Harrison, die sich mit Träumen von Blackness in der Diaspora aus der Perspektive des schwarzen Feminismus beschäftigt. Es war naheliegend, mit ihr zusammenzuarbeiten, um diesen virtuellen Raum zu schaffen. Wir haben beide unsere Familienarchive einbezogen und in Berlin lebende Künstler*innen und Aktivist*innen eingeladen, mitzumachen. Wir wollten uns auch als Meerestiere vorstellen.
In dieser Zeit war es für schwarze Amerikaner*innen, die überproportional von der Covid-19-Pandemie betroffen waren, wichtig einen sicheren Raum zu haben. Oft sind die virtuellen Räume, die für Schwarze zugänglich sind, kommerziell genutzt. Wir wollten auch einen Raum schaffen, der über die Kunstwelt hinaus präsent sein kann. Ich hoffe, dass ich auch nach der Pandemie weiter in solchen Räumen arbeiten kann.
VG: In der Ausstellung „Scan the Difference: Gender, Surveillance, and Bodies“ in der Vereinigung bildender Künstlerinnen Österreichs in Wien hast du dich selbst bei der Befragung deiner Familie gefilmt und in dem Ausstellungsraum ein Kräuterarchiv installiert. Welche Rolle spielen diese Fürsorge- und Wiederherstellungspraktiken in deiner Arbeit?
EB: In einer Zeit, in der es mehrere globale Pausen gegeben hat, muss es neu bewertet werden, was Fürsorge in dieser Situation extremer Unsicherheit bedeutet. Wenn ich an meine Familie denke und versuche, tiefere Verbindungen zu ihr aufzubauen, muss ich überhaupt erst verstehen, wie sie mit ihrer Migrationserfahrung und ihrem sehr harten Leben überlebt haben. Dabei ging es nicht nur ums Überleben, sondern auch darum, wie sie Freude praktizierten, wie sie mit ihren eigenen Krankheiten und Gebrechen umgingen und wie sie ihre Traditionen weitergaben, die sie aus Haiti mit in die Vereinigten Staaten brachten. Ich war und bin immer noch fasziniert von der Art und Weise, wie Schwarze, die so oft entrechtet sind, dennoch Gemeinschaften schaffen können. Fürsorge ist die Grundlage für ihr Überleben. In gewisser Weise versuche ich, über „Care“ nachzudenken durch das Entwickeln alternativer Paradigmen und Geschichten. Es ist ein Prozess, der noch im Gange ist, den ich der Art und Weise, wie der Kapitalismus mit den schwarzen Migrant*innenkörpern umgeht entgegensetzen möchte.
Edna Bonhomme ist Wissenschaftshistorikerin, Autorin und Künstlerin. Sie forscht zu Epidemien, Heilung und Spekulation. Edna Bonhomme promovierte in Wissenschaftsgeschichte an der Princeton University (NJ, US) und erwarb einen Master of Public Health an der Columbia University (NY, US) sowie einen Bachelor in Biologie am Reed College (OR, US). Sie hat für akademische Zeitschriften und populäre Presse geschrieben, darunter in Aljazeera, The Atlantic, Esquire, Frieze, The Guardian, Journal for North African Studies, Public Books. Ihre Multimediaprojekte wurden auf der Gwangju Biennale, dem Haus der Kulturen der Welt, der Savvy Contemporary Galerie, der Digital Prater Gallery gezeigt. Edna Bonhomme lebt in Berlin.
Vanessa Gravenor, geboren in Kanada lebt und arbeit in Berlin und Hamburg, ist Künstlerin und Autorin. Sie hat an der Washington University in St. Louis, USA, und an der Universität der Künste, Berlin, studiert. Seit 2021 arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Hanne Loreck an der Hochschule für Bildende Kunst Hamburg. Ihre Kunstkritiken wurden bei Third Text, Blok Magazine und Art Margins veröffentlicht. Ihre Arbeiten werden international ausgestellt.