Ein kleiner Wohnwagen steht auf der überschaubaren Grünfläche am Spittelmarkt, neben Spreekanal, U-Bahnausgang und vielbefahrener Leipziger Straße und irritiert mit seiner ungewöhnlichen Außenhaut. Die Künstlerin Farkhondeh Shahroudi hat den Wohnwagen mit orientalischen Teppichen verkleidet und sorgt so mit einem Material, das sonst eher in Innenräumen für Gemütlichkeit steht, für einen Kontrastpunkt im urbanen Gefüge. Eine Woche lang dient der Wohnwagen als Veranstaltungsort und Treffpunkt für Nachbar- und Besucher*innen. Zu diesen gehören Obdachlose, die unter der Brücke nebenan leben, ebenso wie die Anwohner*innen der den Platz umgebenden Plattenbauten. Um eben diese Mischung geht es der Künstlerin und den beiden Kurator*innen Pauline Doutreluingne und Keumhwa Kim. Mit einem Begleitprogramm aus Performance, Kinderbuchlesung und Suppenküche haben sie versucht, ein möglichst breites Publikum anzusprechen und temporär zusammenzubringen. Die Unplanbarkeit und Unmittelbarkeit der Begegnungen ist Konzept und Herausforderung zugleich. „Wir haben wahnsinnig viel gelernt“, resümiert Kuratorin Pauline Doutreluingne – über die unmittelbare Umgebung ebenso wie die Wirkungsweisen eines Kunstobjekts im öffentlichen Raum. Sie erzählt von der Taubenfrau, die sich über die Abwechslung freute, den Obdachlosen, die zum Suppe-Essen kamen, und einem, der aggressiv auf die temporären Gäste reagierte und bereits in der ersten Nacht in den Wohnwagen eindrang. So wurden sie bereits zu Beginn mit der Kehrseite des Agierens im öffentlichen Raum konfrontiert und haben sich entschlossen, die restlichen Veranstaltungen von einer Security-Person begleiten zu lassen.
Ein paar Kilometer weiter, an verschiedenen Orten in der Stadt verteilt, hat für die Dauer von zwei Wochen ein weiteres Kunstprojekt gestartet: das Musée de la Fraise, das von Alex Müller und CHristl Mudrak initiiert und kuratiert wurde. Es hat sich ebenfalls für den öffentlichen Raum entschieden und Unterschlupf in den stadtbekannten Erdbeer-Verkaufsständen gefunden, die an S-Bahn-Ausgängen oder anderen belebten Orten saisonal aufgestellt sind. Zwölf Künstlerinnen wurden eingeladen, hier ihre Arbeiten zu präsentieren – und sie haben die Carte Blanche ganz unterschiedlich genutzt. Vor der Dreispitzpassage in der Friedrichstraße hat sich Claudia Wieser dafür entschieden, nicht das Innere des Standes zu bespielen, sondern das Erdbeer-Häuschen mit skulpturalen Elementen aus Kacheln und Objekten zu ergänzen, die auf die urbane Situation mit ihren diversen Stadtmöbeln von Fahrradständern bis abstrakter Metall-Skulptur reagiert. In der Annenstraße hat Thea Djordjadze die Einladung an den Projektraum STATIONS weitergegeben, die wiederum die Buchhandlung pro qm mit ins Boot geholt haben, so dass der Erdbeerstand eine Mischung aus Infostand und Buchladen geworden ist, mit einem Schwerpunkt auf feministische Publikationen und Praxen am Beispiel des New Yorker Ausstellungsraums A.I.R. Dass diese Umnutzung nicht allen gefällt, wurde durch die nächtliche Entfernung der an der Außenwand befestigten Plakate deutlich – interessant dabei: offenbar stört weniger der Erdbeerstand, als dass er plötzlich eine andere Funktion und ein anderes Aussehen annimmt. Christl Mudrak hat auf dem Rosa-Luxemburg-Platz quer durch einen Erdbeerstand einen Ast gelegt, den sie mit Vogelfutter bestrichen hat. Zusätzlich hat sie die umliegende Fläche mit rotbemalter Folie ausgelegt und einige Palmen aufgestellt und so eine gartenähnliche Situation geschaffen – inklusive aus dem Boden ragenden Grünkohl und Sellerie. Befragt nach Reaktionen der Besucher*innen erzählt Mudrak, dass sie an ihrem Stand eigentlich permanent im Gespräch gewesen wäre und diese als offen und neugierig empfunden hätte. Am Hackeschen Markt sind es zwar etwas weniger Besucher*innen erzählt mir die Aufsicht, die hier sonst Erdbeeren verkauft, gleichzeitig komme man wirklich sofort im Gespräch, wenn man an den Stand tritt. Auf der Verkaufsfläche stehen vier Parfumflacons, die der Künstler Matt Morris extra für die Ausstellung entwickelt hat, und die man beherzt ausprobieren darf. Zugegeben: die Produktauswahl ist etwas beschränkt, daran ändert auch die feingliedrige Gaslaterne von Shannon Bool nichts, die neben dem Stand aufgestellt wurde, doch wirken die vier Düfte umso länger nach!
Für einen Tag gesellt sich zu den beiden Kunstprojekten eine weitere Aktion. In der Tucholskystraße steht eine kleine Gruppe auf der Straße, fotografiert sich vor einem Lieferwagen und stößt mit Sekt an. Der „Skulpturverein“, eine Initiative der Künstler*innen Yasmin Alt, Florian Japp und Hildegard Skowasch haben zwölf Künstler*innen eingeladen, die skulptural arbeiten, für jeweils eine halbe Stunde die Ladefläche des Lieferwagens als Ausstellungsfläche zu nutzen. Die Künstler*innen reagieren ganz unterschiedlich auf die spezifische Situation und haben Stühle und Sockel mitgebracht, auf denen Objekte platziert werden, legen Papierrollen als Untergrund aus, um den Raum zu verändern, oder sorgen mit Trockeneis für eine neblig-diffuse Atmosphäre.
Es ist nicht die erste Aktion dieser Art des in diesem Jahr gegründeten Vereins. Unter anderem haben die Künstler*innen einen Tag lang eine Ausstellung in den Königskolonnaden an der Potsdamer Straße organisiert, zu dem sie über einen Open Call eingeladen hatten. Das Ergebnis war angenehm unkonventionell: im Rasen und zwischen den Säulengängen wurden Skulpturen platziert und konnten schlendernd und im Gespräch mit den Künstler*innen erschlossen werden, bevor sie abends von den Künstler*innen wieder abtransportiert wurden.
In der Tucholskystraße gibt es durch die Idee, das Innere eines Lieferwagens als Ausstellungsfläche zu nutzen, immerhin einen Hauch von White Cube. Die Begrenzung der Ausstellungsdauer auf 15 Minuten ist allerdings ganz schön sportlich, so dass es sich empfiehlt, das Konzept als ironisch-zuspitzenden Kommentar zum hochtourigen und eventhungrigen Kunstbetrieb zu lesen, um die Qualitäten dieser Aktion zu schätzen, die einiges an Improvisationstalent verlangt. Immerhin mischt sich auch hier das Publikum, wenn neben den Beteiligten, Fußgänger*innen stehen bleiben, herein lugen und nachfragen.
Alle drei Projekte bzw. Aktionen fanden zur Art Week statt und nutzen damit die erhöhte Aufmerksamkeit, die in dieser Zeit der Kunst in der Stadt entgegengebracht wird. Und obwohl sie temporär begrenzt waren, gehen sie weiter: Sowohl der Skulpturverein als auch die Ausstellungsreihe „Speaking to Ancestores“, in dessen Rahmen die Künstlerin Farkhondeh Shahroudi ihr Projekt „Ich habe Knast“ am Spittelmarkt realisiert hat, werden fortgesetzt – an wechselnden Orten, zu denen Parkplätze und Grünflächen ebenso gehören können, wie Friedhöfe oder Institutionen, in denen man für kurze Zeit zu Gast ist und in die mit ortsspezifischen Aktionen interveniert wird.
Vergleicht man die drei Projekte scheinen die Vorteile des Agierens im öffentlichen Raum zu überwiegen: die Unmittelbarkeit, mit der die Kunst ein breites Publikum erreichen kann, wiegt die Ungeschütztheit auf, in die man sich begibt, wenn man den „sicheren“ White Cube verlässt. Die Möglichkeit ungewöhnliche wie belebte Orte zu bespielen und ortspezifisch zu arbeiten, lässt die zum Teil langen Vorlaufzeiten in den Hintergrund treten, wenn Genehmigungen eingeholt werden müssen oder auf Förderergebnisse gewartet wird. Eins jedoch ist klar: man muss vor Ort präsent sein und Lust an kommunikativen Situationen und Begegnungen haben, sonst verfehlt das Konzept seine Wirkung. Und man muss flexibel sein – um auf Regen, ungebetene Gäste etc. reagieren zu können.
Infos:
Das „Musée de la Fraise“ war vom 14. bis zum 25. September 2022 zu sehen, Konzept: Alex Müller und Christl Mudrak.
Die Ausstellung „Ich habe Knast“ von Farkhondeh Shaharoudi fand vom 10. bis 18. September in der Leipziger Straße/ Spittelmarkt statt. Sie ist Teil der Ausstellungsreihe „Speaking to Ancestors“ an verschiedenen Orten in Berlin 2022/23, Kuratorinnen: Pauline Doutreluingne, Keumhwa Kim.