Heimo Lattner

Heimo Lattner ist freischaffender Künstler und Mitherausgeber der Verlagsreihe Berliner Hefte zu Geschichte und Gegenwart der Stadt. Er ist co-Autor und co-Herausgeber von u.a.: Die Mauerpark-AffäreWiedersehn in Tunix! – ein Handbuch zur Berliner ProjektekulturNever Mind the Nineties – eine Medienarchäologie und Neuverhandlungen von Kunst – Diskurse und Praktiken seit 1990 am Beispiel Berlin. Projekte und Ausstellungen u.a.: ICA London, PS1/MoMa New York, Wexner Center Columbus/Ohio, Sharjah Biennale, Belvedere Museum für zeitgenössische Kunst Wien, Steirischer Herbst Graz, Akademie der Künste und Hebbel am Ufer Berlin.

REALsearch. Oder: Was ist überhaupt die Realität?

21.04.2023
DECON SOUND mit dem Haus der Statistik (2021) Cosey Müller und Ale Hop mit Gitarre bei der Aufnahme, Bild: Martina Georgi

Ein Gespräch mit dem Künstler Stefan Römer über das Verhältnis von Conceptual Art und Minimal Music.

Anlass für das Gespräch war die Präsentation von Stefan Römers dritten Albums ReCoder SOUND, am 23. Februar in der Buchhandlung Walther König in Mitte, das im Rahmen seines Rechercheprojekts DeConceptualize enstanden ist. Sein Buch Zur Dekonstruktion des Konzeptuellen in Kunst, Film, Musik ist 2022 erschienen und liefert die Begleittexte dafür. Zuvor erschienen sind bei Corvo Records: SIX GUN SHOTS, 2021 und DECON SOUND, 2020.

Stefan Römers Arbeiten sind für einen kritischen Umgang mit Bild, Sound und Text bekannt. Darin verbindet er verschiedene Arbeitsmethoden objektivbasierter, zeitbasierter und performativer Praktiken. Seine transmediale Fusion aus Konzeptualismus und Dekonstruktivismus mit postpanoptischen, feministischen und postkolonialen Praktiken nennt Römer „de-konzeptuell“. Seine Dekonzeptualisierung von Kunst entwirft mittels einer vielschichtigen Kritik an den gewohnten Diskursen ein neuartiges „artistic REALsearch“. [1] www.stefanroemer.com

Heimo Lattner: Du hast den Abend bei Walther König mit deinem Stück Deconceptual Sound for Syd Barret von der Platte DECON SOUND begonnen. Kurz dazu: UFO Club London, 1966 oder 1967. Syd Barrett, der künstlerische Mastermind der frühen Pink Floyd, spielt zugedröhnt auf der Bühne Gitarre. Die Filmaufnahme, die diesen Moment auf YouTube zeigte, hat sein Bandkollege Roger Waters später eingezogen. Das mag zunächst nach einer eher banalen Rock’n’Roll-Legende klingen, ist es aber nicht.

Stefan Römer: Ich bin auf eine Darstellung dieser Szene in Friedrich Kittlers Essay Der Gott der Ohren gestoßen. Darin beschreibt er den Erfolg der Alben von Pink Floyd und behauptet, dass das Musikalbum das Buch als Massenmedium abgelöst habe. Dabei kommt er zu dem Punkt, an dem die Band nicht mehr funktionierte, als Barrett nämlich auf der Bühne nur noch eine Saite mechanisch anschlägt. Kittler vergleicht sein Gitarrenspiel mit der chinesischen Folter. Als ich das gelesen habe, sah ich sofort eine Performance vor meinem inneren Auge. Friedrich Kittler hat mir auf diese Weise die Partitur dafür geliefert.

„Bei Syd Barrets letzten Auftritten, wenn sie nicht überhaupt ausfallen, hängt die Griffhand herum, während die rechte ohne Ende ein und dieselbe Leersaite anschlägt: Monotonie, wie in der chinesischen Foltertechnik, als Anfang und Ende von Musik. Dann verschwindet der Mann, der Pink Floyd erfunden hat, von allen Bühnen, irgendwo im diagnostischen Niemandsland zwischen LSD-Psychose und Schizophrenie.“

(Friedrich Kittler, Der Gott der Ohren, 1984, in: Kittler, Draculas Vermächtnis. Technische Schriften, Leipzig 1993, S. 130 – 148, S. 132.)

HL: Worauf genau zielt Kittler ab?

SR: Kittler interessiert sich in seinem Essayfür mehrere Dinge. Zum einen für die Mediengeschichte und dann dafür, weshalb die Band dysfunktional wurde. Kittler führt das auf Barretts LSD-Konsum zurück. Ich habe das in verschiedenen literarischen Quellen überprüft. Es scheint, dass es eher eine Mischung unterschiedlicher Drogen war, die dazu geführt hat, dass Barrett eine Verwirrung oder eine Psychose oder was auch immer erlitten hat. Barrett hat viele der frühen Stücke von Pink Floyd komponiert und wurde dann so früh zum Antihelden, weil er diese Leistungsorientierung der Band nicht mitmachen konnte oder wollte und quasi ausgestiegen ist. Das ist heute alles vielfach diskutiert.

Die andere Sache ist, dass Kittler sich für ein besonderes Effektgerät interessierte, den Azimuth Coordinator, den hat sich Pink Floyd bauen lassen. Das Gerät war der erste Quadro-Mixer. Zum Mythos wurde es, weil es angeblich beim ersten Einsatz von Fans geklaut wurde.

HL: Du hast also ein Zitat von Friedrich Kittler, in dem es um diesen Auftritt von Pink Floyd im UFO geht, zur Grundlage einer Performance gemacht. DECON SOUND wurde 2018 beim CTM Festival in Berlin uraufgeführt. Und du spielst auf der B-Seite der Platte auf der A-Saite einer E-Gitarre. 25 Minuten lang.

SR: Genau. Ich habe versucht, eben nicht im Sinne von besonders präzise, immer im selben Tempo, in derselben Tonalität wie ein ausgebildeter Musiker zu spielen. Viel eher habe ich versucht, durch eine moderate Dosierung von LSD eine solche Kontrolle auszuschalten. Ich habe dieses Element aus Kittlers Zitat in meine Performance übernommen, weil ich nicht einfach nur nachspielen, sondern mich sozusagen in der Performance auf der Bühne einem mehr oder weniger kalkulierten Kontrollverlust aussetzen wollte. Ich beabsichtigte, mein kontrollierendes Ego loszuwerden, indem ich auf Acid einfach nur die A-Saite ca. 25 Minuten lang anschlage. Dabei habe ich das gleiche Gitarrenmodell, die beiden Effektgeräte und den Gitarren-Verstärker verwendet, die Barrett damals auch verwendet hat.

HL: Es ging also nicht darum, das Original zu reinszenieren.

SR: Nein. Es ging mir um den dekonstruktiven Ansatz, das Kittler-Zitat, den Mythos Syd Barrett und meine konzeptuelle Kontrollinstanz durch den Einsatz von einem LSD-Derivat und der von mir entwickelten Partitur in meiner Performance in eine andere Aussage zu überführen, die sich auf die Geschichte der Minimal Music und die der Künstlermusik bezieht.

HL: Es geht also darum, einen Ton zu finden, der aus der Realität stammt und nicht bloß Zitat ist.

SR: Jeder Anschlag ist anders und es entwickeln sich Obertöne und unterschiedliche Rhythmen in einem Drone [2]. Mein Interesse war, einen medientheoretischen Text als Grundlage für eine minimalistische Musikperformance zu nehmen, und so die Realität des Konzerts aus Kittlers Behauptung abzuleiten. Die Grundlagen für meine Performance sind somit Kittlers Text, die Geschichten von Pink Floyd, von LSD sowie der Minimal Music. Diese Diskurse stellen ja faktische Anordnungen dar, die ich beabsichtigte, in einem Drone hörbar zu machen.

Meinen künstlerischen Ansatz bezeichne ich als „artistic REALsearch“. Damit meine ich, dass sich das „research“ auf eine reale gesellschaftliche Situation beziehen soll. Dazu versuche ich die beiden Aspekte des künstlerischen Interesses und des Machen-müssens zu verbinden. Denn traditionell wird den Künstler*innen eine Unreflektiertheit unterstellt, die es zu kritisieren gilt. Deshalb richte ich die künstlerische Forschung auf die treibenden Impulse des Interesses und des Machens selbst. Dass sich dies kritisch gegen ein idealistisches Kunstverständnis richtet, ist ganz deutlich.

HL: Mit Obertönen und Drones wurde in der Minimal Music viel experimentiert: La Monte Young, Tony Conrad, Terry Riley, Steve Reich, Meredith Monk, John Cale, Phill Niblock, Laurie Anderson.

SR: Velvet Underground hat auch mit solchen langgezogenen Tönen und mit perkussiven Gitarrenanschlägen gearbeitet. Aber nicht kontinuierlich über 25 Minuten. Als Bezüge können auch die Band Spacemen 3 oder das Stück Guitar Trio von Rhys Chatham, 1977 gelten. Da wird ebenfalls nur eine Saite angeschlagen, dazu spielt aber ein Schlagzeug. Zu erwähnen ist auch Arnold Dreyblatt mit seinem Orchestra of Excited Strings. Wobei man natürlich aufpassen muss, das alles in einen Topf zu werfen. Das sind schon sehr unterschiedliche Ansätze, die nur in Teilen ähnlich klingen.

HL: In der bildenden Kunst gibt es in den 1960er- und 1970er-Jahren parallel eigene Ansätze.

SR: Ja, im Minimalismus bei Carl Andre etwa. Er hat zum Beispiel Metallplatten in bestimmten Formen auf den Boden gelegt, über die das Publikum laufen sollte.

HL: Wie seine Skulptur Altstadt Rectangle in der Galerie von Konrad Fischer in Düsseldorf 1967.

SR: Soweit ich weiß, war das die erste seiner Bodenarbeiten, die betreten werden sollte. Der Raum war relativ klein, wodurch es eigentlich gar keine Möglichkeit gab, woanders hinzutreten. In dem Moment, als man die Galerie betrat, stand man auf der Skulptur. Die Schritte auf den Metallplatten erzeugten Klänge. Diese Arbeiten waren von Andre von Anfang an dazu gedacht, benutzt zu werden. Es ging damals in dieser doppelt radikalen Enthierarchisierung der Skulptur (ohne Sockel und mit Füßen zu begehen) darum, das Publikum in die Lage zu versetzen, eine eigene Kunsterfahrung zu machen. Es ging um das einzigartig, individuelle Erleben und nicht wie bei früheren Skulpturen darum, irgendwelche kunsthistorischen Informationen auswendig zu lernen und dann wieder zu erkennen. Heute ist es dagegen oft aus konservatorischen oder Versicherungsgründen nicht mehr erlaubt, über diese Platten zu gehen, was ja komplett widersinnig ist. Damit beschäftige ich mich auch ausführlich in meinem Buch.

HL: Eines der zurecht bekanntesten Beispiele für Minimal Art ist Box with the Sound of Its Own Making von Robert Morris aus dem Jahr 1961. Morris hat eine Holzbox gebaut und den Herstellungsprozess auf Tonband aufgenommen. Aus dem Inneren der Box hört man nun dreieinhalb Stunden lang die Geräusche der Produktion. Morris hat wohl mal John Cage ins Atelier eingeladen und der hat dort die dreieinhalb Stunden vor dieser Box abgesessen. Vielleicht war es übertriebene Höflichkeit. Wer weiss?Aber es gab eine Verbindung zwischen Minimal Music und Minimal Art. Vor allem in New York, in den 1960-er Jahren.

SR: Es gibt sehr viele Untersuchungen dazu. Arnold Dreyblatt hat schon sehr früh erkannt, dass die Verbindung von Cage zur konzeptuellen Kunst näher zu untersuchen wäre. Tatsächlich gibt es dazu allerdings viel mehr Bücher aus musiktheoretischer Perspektive. Die konzeptuelle Diskussion über Sound hat eigentlich erst nach 2000 wirklich begonnen. Es gab schon mal diese Welle an Untersuchungen zu Tony Conrad und Henry Flynt, die sich kritisch gegenüber der Minimal Music verhalten haben. Seth Kim Cohen hat aber mit seinem Buch In the Blink of an Ear (2009) die Texte über die konzeptuelle Kunst der Theoretikerin Rosalind Krauss auf die Musik übertragen. Er verwendet dafür den Begriff Conceptual Sonic Art.

Die spielen eine sehr wichtige Rolle. Eine konzeptuelle Mischung von Genres habe ich auf meinem letzten Album ReCoder SOUND, 2022 versucht. Offiziell deklariert ist die Platte ja als Soundtrack für den zweiteiligen experimentellen Film ReCoder. Der Titel demonstriert auch einen Bezug zu dem deutschen Undergroundfilm Decoder, 1984 von Muscha. In den Hauptrollen Christiane F. und FM Einheit von den Einstürzenden Neubauten. Es spielen auch William Burroughs und Genesis Breyer P-Orridge mit.

HL: Im Film geht es um die Manipulation des Menschen durch und mit Tönen. Ein Beispiel dafür ist Muzak, Hintergrundmusik. Das sind niedrigschwellige musikalische Arrangements, wie man sie aus Fahrstühlen oder Hotels kennt.

SR: Ja, Muzak wurde auch früher schon von Cage behandelt, wenn auch auf eine andere Weise. Auf meinem Album ReCoder SOUND gibt es neben den Noise-Stücken auch zwei Tanzstücke, sie sind durchkomponiert mit Refrain, deren Narrativ sich auf die Geschichte des Films bezieht. Der Soundtrack ist aber nicht etwa illustrativ, sondern erzeugt wie bei Chris Marker essayistisch eine eigene mediale Dimension.

HL: Chris Maker, Sans Soleil – Unsichtbare Sonne 1983 [3]. Ein fantastischer Film!

SR: Er hat sich dafür mit einem Synthesizer beschäftigt und selbst den Film-Sound komponiert.

HL: 2021 ist deine Platte SIX GUN SHOTS erschienen. Darauf beschäftigst du dich mit einer zentralen theoretischen Fragestellung des Minimals. Nämlich: Wie gelangt man in das Innere des Tons?

SR: Diese Frage wurde oft spirituell interpretiert und zum Teil mathematisch analysiert. Was ich aber versucht habe, ist sozusagen über einen Realitätsbezug – im Sinn von artistic REALsearch – in die Töne hinein zu gelangen. Dafür habe ich Pistolenschüsse benutzt, weil sie eine besondere sonische [4] Herausforderung darstellen. Ich wurde einmal unfreiwillig Zeuge eines Mordes in der Straße, in der ich in München gewohnt habe. Die Klänge dieser Schüsse habe ich sehr lange im Kopf gehabt. Vor allem diese Dynamik, der peitschende Klang der Schüsse hat mich sehr beschäftigt. Ich habe recherchiert, wie Schüsse in der Kunst vorkommen. Eine der radikalsten Formen war natürlich Chris Burden, der sich selbst durch den Oberarm geschossen hat. Aber auch Arbeiten von Niki de Saint Phalle sind zu nennen, bei denen sie auf Porträts ihres Vaters schoss. Und dann ist da das weite Feld von Schüssen als Rhythmus-Element in Rap Songs.

HL: Ein Schuss ist ein Ereignis par excellence im Sinne der Theorie des Ereignisses. Er interveniert in eine Situation, unerwartet und blitzartig. Dann Stille, eine Echokammer tut sich auf. Man beginnt das Ereignis zu rekonstruieren, um es zu begreifen, um sich seiner eigenen Existenz wieder habhaft zu werden.

SR: Ein Schuss hat einen extremen Peak. Akustisch ist das ein schwer zu handhabender Sound. Deshalb muss er eigentlich immer so bearbeitet werden, dass man ihn in einem Song einsetzen kann. Das wollte ich aufgreifen und habe mir überlegt, wie man sechs Schüsse minimalistisch in eine Reihenfolge bringen kann, um dann den einzelnen Knall zu öffnen, ihn zu einem Raum-Zeit-Erlebnis zu sonifizieren. Diese sechs Schuss-Erlebnisse sollten sich voneinander unterscheiden, insofern habe ich die Geräusche gefiltert und bearbeitet. Dabei gibt es ganz viele künstlerische Entscheidungen zu treffen. Deshalb habe ich versucht, einen konzeptuellen Rahmen zu schaffen, wie zum Bespiel die immer gleiche Länge des Raum-Zeit-Ereignisses „Schuss“.

HL: Neben dem Knacken und Knistern, hervorgerufen durch das Gehen auf Carl Andres Bodenplatten, spielt für deine Überlegungen auch das Knacken und Knistern, wie man es von Schallplatten kennt, eine Rolle. Du widmest ihnen auf dem Album ReCoder SOUND mehrere Tracks.

SR: Der britische Musiktheoretiker Mark Fisher verstand den Sound des Knisterns von Vinylschallplatten als eine Reminiszenz an eine vergangene Zeit, wie es im Trip-Hop bei Tricky oder The Burial auftaucht. Deshalb habe ich dieses Vinyl-Knistern als eigenes Stück auf die Minimal Kunst bezogen und für diese Platte aufgenommen.

HL: Das Knistern stammt von einer Platte der Band CAN, die sich konsequent einer stilistischen Zuordnung verweigerte.

SR: Ja. Ihre Platte Flow Motion entstand zu einem Zeitpunkt Mitte der 1970er-Jahre, an dem sich die Band überlegt hatte, dass sie gerne mehr als Pop wahrgenommen werden möchte. Sie haben sich dafür einen britischen Produzenten geholt. Die Platte habe ich mal auf dem Flohmarkt gekauft. Sie ist sehr verkratzt und staubig. Von dieser Platte habe ich das Knistern und Knacken aufgenommen. „Knacken und Knistern“ habe ich in der Kunst eine ähnliche Form genannt, nämlich das Geräusch, das entstehen kann, wenn man über eine minimalistische Skulptur von Carl Andre geht.

HL: Dieses „Knacken und Knistern“ markiert also eine Abwesenheit und Anwesenheit zugleich.

SR: Und genau das ist der interessante Punkt bei Mark Fisher. Traurigerweise hat er Suizid begangen, weil er unter anderem mit dieser Kulturentwicklung nicht mehr zurechtkam. Insofern ist, was du sagst, diese Anwesenheit und gleichzeitige Abwesenheit ein ganz entscheidender Punkt. Fisher spricht von Hauntology. [5]

HL: Europa wird noch immer von den Gespenstern seiner Vergangenheit heimgesucht, hat Jacques Derrida festgestellt. Der Marxismus verfolgt also immer noch den Kapitalismus. Mark Fisher hat, wie du schreibst, den Begriff von Derrida abgeleitet.

SR: „Es geht ein Gespenst um in Europa“ kommt auch in einer Stimmen-Montage auf ReCoder SOUND vor. Es ist der erste Satz des Kommunistischen Manifests! Das auch bei mir wieder auftaucht als realer Bezug auf die heutige Situation.

HL: Lass uns noch auf dein Buch DeConceptualize eingehen, das gerade im Verlag Hatje Cantz erschienen ist. Der Untertitel lautet: Zur Dekonstruktion des Konzeptuellen in Kunst, Film, Musik. Du behauptest, dass dem historischen Konzeptualismus seine „emanzipatorische Kraft mittels institutioneller Verwaltung“ entzogen wurde.

SR: Ja, das belege ich unter anderem damit, dass heute verboten wird, Carl Andres Bodenskulpturen zu begehen. Es fällt auf, dass die emanzipatorischen Ideen der konzeptuellen und der minimalistischen Kunst oder des Fluxus, die in den frühen 1960er-Jahren formuliert wurden, und dann Ende der 1970er-Jahren, in der Zeit der Postmoderne, sehr bedeutsam wurden, gegenwärtig tendenziell in Ausstellungen revidiert werden. Man begründet das oft mit konservatorischen Argumenten. Es geht hier also um einen sehr konservativen Begriff des Originals, das vor allem in seiner Materialität, nicht aber in seiner Funktion erhalten werden soll.

Man darf zum Beispiel, wie gesagt, nicht mehr über diese Arbeiten von Carl Andre gehen, weil dadurch vermeintlich ihr Wert gemindert werden könnte. Andere Arbeiten, die einmal als Anti-Form konzipiert waren, also bewusst formlos und ohne Sockel, werden heute auf einem Sockel präsentiert. Das begreife ich als ihre inhaltliche Zerstörung. Darin prallen die beiden beschriebenen grundsätzlich verschiedenen Originalbegriffe aufeinander.
Das zerstört nicht nur ihre Funktion, sondern auch die künstlerische Intention. Und genau das enthierarchisierende und politisierende Moment, das in den Arbeiten ursprünglich intendiert war, wird zerstört.
Das hat mich letztlich dazu bewogen, darüber nachzudenken, wie diese Institutionalisierung des Konzeptuellen rückgängig zu machen wäre, oder wie sie neu kritisiert werden kann. Ein Schluss daraus: Die Gegenwart ist so viel konservativer als es viele wahrhaben möchten.

HL: Das heißt, du beobachtest heute eine Entpolitisierung der Kunst?

SR: Man muss das, was heute von der Institution als „konzeptuell“ bezeichnet wird, hinterfragen. Man muss es erneut dekodieren, um wieder zu dieser politischen Bedeutung von Kunst und Emanzipation der Betrachter*innen zu kommen. Vor diesem Hintergrund ist mein Projekt DeConceptualize entstanden, für das ich ein zweijähriges Stipendium vom Berliner Förderprogramm für künstlerische Forschung erhielt.

HL: Da fällt mir ein, was ist eigentlich auf der A-Seite von DECON SOUND zu hören?

SR: Die A-Seite bezieht sich auf Conrad Schnitzler, der wie Syd Barrett ein “Aussteiger“ war. Für die Musikindustrie war er nicht wirklich interessant, weil er unberechenbar war.  Schnitzler ist zum Beispiel oft mit dem Rücken zum Publikum aufgetreten und hat Dinge improvisiert. Er hat seine eigene Musik immer wieder geremixt. Auch diese Vorgehensweise entspricht meiner dekonstruktiven Auseinandersetzung mit experimentellen Formen der 1960er- und 1970er-Jahre wie Minimal Music, Drone Music und exzessiven Experimenten in der Musik.

HL: Der vermeintlich letzte Song, den Syd Barret für Pink Floyd geschrieben hat, ist  Jugband Blues. Er beginnt mit den Zeilen: „It’s awfully considerate of you to think of me here.“ „Es ist sehr liebenswürdig, dass Sie hier an mich denken.“ Der Kellner stellt schon die Stühle hoch und wir müssen zu einem Ende kommen.

[1] vgl.: https://stefanroemer.com/de/bio/
[2]  Drone ist ein minimalistisches Musik-Genre. Die Verwendung von anhaltenden Klängen, Noten oder Tonclustern – Drones genannt – ist dafür charakteristisch.
[3] Sans Soleil ist ein französischer Essayfilm aus dem Jahr 1983 von Chris Marker. Der Titel bezieht sich auf den gleichnamigen Liederzyklus von Modest Mussorgski. Sans Soleil ist eine Meditation über die Natur menschlicher Erinnerung.
[4] Das Sonische ist eine kulturell bestimmte und sich wandelnde Form von stark physisch wirksamen Klängen. Es zielt auf das Erreichen von Unmittelbarkeit ob künstlerisch- praktisch, lebenswirklich, emotional oder programmatisch.
[5] Hauntology  bezeichnet eine Bewegung in der elektronischen Musik, die vor allem von Plattenfirmen wie Tri Angle, Ghost Box und Mordant betrieben wird. Der Begriff geht auf Jacques Derrida zurück, der damit ausdrücken wollte, dass Europa von den Geistern seiner Vergangenheit besessen ist und immer sein wird.

Grafik LP-Cover: Dirk Lebahn

Stefan Römers Arbeiten sind für einen kritischen Umgang mit Bild, Sound und Text bekannt. Darin verbindet er verschiedene Arbeitsmethoden objektivbasierter, zeitbasierter und performativer Praktiken. Seine transmediale Fusion aus Konzeptualismus und Dekonstruktivismus mit postpanoptischen, feministischen und postkolonialen Praktiken nennt Römer „de-konzeptuell“. Seine Dekonzeptualisierung von Kunst entwirft mittels einer vielschichtigen Kritik an den gewohnten Diskursen ein neuartiges „artistic REALsearch“.
(vgl.: https://stefanroemer.com/de/bio/)

Heimo Lattner arbeitet an den Schnittstellen von Bildender Kunst, Theater und Hörspiel. Er ist u.a. Mitherausgeber der Verlagsreihe Berliner Hefte zu Geschichte und Gegenwart der Stadt.
www.heimolattner.com

 

 

 

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