Malte Pieper

Malte Pieper ist ein*e in Berlin lebende*r Kurator*in und Forscher*in, deren Arbeit an den Schnittstellen von bildender Kunst, Choreografie und Architektur angesiedelt ist. Die zuletzt von Malte kuratierten Ausstellungs- und Performanceprojekte konzentrierten sich auf queere Körperlichkeit sowie Bewegung im öffentlichen und privaten Raum, darunter »Movement Research TESTPLATZ WEDDING«, 2021, ko-kuratiert mit Maja Smoszna, »Into the Drift and Sway« (2021-22) und »Resonant Bodies« (2022), ko-kuratiert mit Lusin Reinsch.

„POLYCHROME – The Myth of Karukera and Cibuqueira“ – ein Gespräch zwischen Malte Pieper und Thomias Radin 

01.08.2023
„POLYCHROME – The Myth of Karukera and Cibuqueira", Thomias Radin, 2023, Galerie Wedding, Foto: Mónica Munoz

In der aktuellen Ausstellung "POLYCHROME - The Myth of Karukera and Cibuqueira" entfaltet sich Thomias Radins besondere Praxis der Verschmelzung von Tanz und Malerei in der Galerie Wedding als Wandbild, Bewegung und Szenografie für Performances. Kuratiert von Malte Pieper.

Malte Pieper: Bewegung prägt die Gesellschaft: wie wir uns als Menschen versammeln, wie wir uns im Kleinen oder im Großen zu unserer Umwelt verhalten. In deiner Arbeit setzt du Tanz und Malerei oft wie anthropologische Werkzeuge ein, um westliche Vorstellungen von Körper und Geschichte zu verstehen, zu hinterfragen und schließlich zu dekonstruieren. Diese kontinuierliche Forschung und der Dialog mit deinem (tanzenden) Körper, deiner Erfahrung und deinem Ausdruck von Körperlichkeit verändern die Art und Weise, wie du die Welt täglich wahrnimmst und erlebst. Wie stehst du zu Choreografie? Beeinflusst sie auch deine Malerei?

Thomias Radin: Um in einer Choreografie frei zu sein, muss man sie immer und immer wieder proben. Ich fühle mich bei dem Konzept der Improvisation, die eine Sprache für sich ist, wohler. Wir müssen improvisieren. Das hat auch viel mit Afrokultur zu tun, mit der Art und Weise, wie wir Musik produzieren und wie wir unser Leben leben. Im Globalen Süden besteht ein großer Teil des Lebens aus Improvisation, weil es dort oft sehr instabil zugeht, sodass man ständig improvisieren muss. Bei Gwo Ka [1] spielt die Improvisation eine große Rolle. Die Tänzer*innen machen die Musik, und der Perkussionist bzw. die Perkussionistin folgt den Bewegungen der Tänzer*innen. Auch im Hip-Hop ist Improvisation eine der wichtigsten Regeln. Deshalb habe ich die Improvisation als meine Hauptsprache gewählt. (…) Ich interessiere mich für Forscher*innen, die daran arbeiten, die Geschichte des afrikanischen Kontinents und das Wissen, das von ihm ausging, zu rehabilitieren. [2] Mein Malstil basiert auch auf Improvisation. Ich habe eine Sprache zwischen Abstraktion und Figuration gefunden, mit der ich mich wohl fühle. Ich stelle diese Analogie zwischen der sichtbaren rohen Leinwand in meinen Bildern und der Stille her. Lücken sind notwendige Momente der Stille. Wenn man tanzt, ist man nicht ständig in Bewegung; manchmal bleibt man stehen oder bewegt sich langsam. In der Musik ermöglicht die Stille, der nächsten Note mehr Wert zu verleihen. Das gilt auch für Bewegung und Malerei. Bei meinen Bildern beginne ich immer mit Farben und abstrakten Formen. Es geht auch um Beobachtung – oft schaue ich mir ein Bild länger an, als ich tatsächlich daran male. Die Malerei ist eine Praxis der Entscheidungen; man kann sich an strenge Techniken und Regeln halten, aber in meinem Fall ist es genau das Gegenteil. Ich versuche, mich ständig selbst zu überraschen, was ein sehr schwieriges Unterfangen ist, weil es Zweifel und Unsicherheit mit sich bringt. Aber das ist etwas, das ich gerne in meine Arbeit mit aufnehme.

MP: Ich habe das Gefühl, dass es auch damit zu tun hat, wie du mit der Technik des Samplings arbeitest, die ursprünglich aus der Musik kommt, und sie auf Malerei und Tanz anwendest. Das aus dem Griechischen abgeleitete Adjektiv »polychrom« bedeutet »viele Farben« und bezeichnet im Französischen wie im Englischen eine Vielzahl von Schattierungen und Texturen, kann sich aber auch auf einen Poly-Rhythmus von Pinselstrichen, Techniken und Medien beziehen. Polychromie war auch in der antiken Kunst verbreitet, was von der (westlichen) Kunstgeschichte, die fälschlicherweise die Einfarbigkeit griechischer und römischer Skulptur feierte, lange nicht anerkannt wurde. Forschungen belegen heute, dass der weiße Marmor oft bunt bemalt war. Im großen Raum der Galerie erstreckt sich ein Wandbild über die Wände, das von einer Klangkomposition begleitet wird. Welche Geschichte hat dich hier inspiriert?

TR: »Der Mythos von Karukera und Cibuqueira« ist eine Aufforderung an die Betrachtenden, das Menschsein (die Bedingungen und Umstände des Menschseins), die Kraft der Bewegung und die fortdauernde Bedeutung von Erzählungen für unser Weltverständnis zu erforschen. Mythen faszinieren mich als hochentwickeltes und ausgeklügeltes Kommunikationssystem, das als universelle Sprache durch die Zeit und Zivilisationen reist. Für mich ist der Mythos ein sich bewegendes und tanzendes Wissen, das sich wandelt, alt und modern zugleich ist. Ich stütze mich auf die vorkolonialen Bezeichnungen Karukera, »Insel der schönen Gewässer«, und Cibuqueira, »Insel der Gummibäume«, die präkolonialen Namen für die beiden Hauptinseln von Guadeloupe, und verwende sie als Metapher für die Macht und Bedeutung von Mythen. [3] Karukera und Cibuqueira sind für mich zwei gefallene Engel, die auf der Suche nach ihrer Vereinigung sind. Sie stehen für den nie endenden Kampf in uns selbst, für unser nie endendes Streben nach Einheit und Transzendenz und für die transformative Kraft der Bewegung, die uns mit uns selbst, miteinander und mit der Welt um uns herum verbindet.

MP: Die Interpretation eines Mythos in Form eines Wandgemäldes schafft eine Spannung, die den Innenraum der Galerie mit dem Außenraum, einem öffentlichen Platz oder einer imaginären Szenografie verbindet. Wandmalerei hat eine reiche Geschichte, von den Höhlenmalereien von Lascaux über die Fresken der italienischen Renaissance bis zu den politischen Wandmalereien es 20. Jahrhunderts auf dem amerikanischen Kontinent oder im östlichen Europa, um nur ein paar Beispiele des weltweiten Phänomens zu nennen.

TR: Wandmalereien sind in meinem Leben schon immer präsent gewesen, seit meiner Kindheit in den Vororten in Frankreich. Ich war ständig von Wandmalereien umgeben, sowohl von offiziellen Auftragsarbeiten als auch von Interventionen aus dem Untergrund. Einige waren dekorativ, andere ein politisches Statement. Während meines Kunststudiums habe ich auch etwas Architektur studiert, was mir ein besseres Verständnis für die Gestaltung von Raum und Atmosphäre vermittelt hat. Wenn ein Wandbild im öffentlichen Raum entsteht, wird es zu einem Teil der Gemeinschaft, und die Menschen nehmen es auf unterschiedliche Weise wahr. Ich fühle mich von dem figurativen und erzählerischen Bildmaterial mehr angezogen als von geometrischen Formen und Farbblöcken. Für mich geht es immer darum, den Raum in Besitz zu nehmen und etwas zu schaffen, das bedeutungsvoll ist und auf seine Umgebung reagiert.

GALERIE WEDDING
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„POLYCHROME – The Myth of Karukera and Cibuqueira“, Thomias Radin, 2023, Galerie Wedding, Foto: Mónica Munoz
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„POLYCHROME – The Myth of Karukera and Cibuqueira“, Thomias Radin, 2023, Galerie Wedding, Foto: Mónica Munoz

MP: Wandmalereien können eine starke Wirkung auf die Gemeinschaften entfalten, in denen sie sich befinden. Wenn wir unseren Fokus einmal von Malerei und Architektur abwenden und uns deinen Arbeitsprozess anschauen, dann fällt auf, dass du oft mit Tänzer*innen, Musiker*innen und Designer* innen arbeitest.

TR: Ja, zum Beispiel mit meinem Onkel Bruno Thénard. Er ist Perkussionist und auch gelernter Schreiner und baut eigene Instrumente, inspiriert von der »Ka«, dem wichtigsten Schlaginstrument des Gwo Ka. Vor sieben Jahren haben wir angefangen, zusammenzuarbeiten. Er wusste, dass ich malte, und ich begann, die Trommeln für ihn zu dekorieren. Perkussionsinstrumente erzeugen Klang, und Klang aktiviert Bewegung. Ich arbeite ständig mit Musik, und so war es für mich nur logisch, mich mit einem Objekt zu beschäftigen, das Klang erzeugt, der die Hauptquelle meiner Bewegung ist.

MP: In der Tanzwelt agierst du in verschiedenen Rollen: als Performer bewegst du dich zwischen diversen Tanzstilen, du bist als Juror tätig und nimmst an House Battles teil, ebenso bist du Bewegungsregisseur für Mode und Fotografie und Kurator von »Sensitivities of Dance«, einem Format für intime Begegnungen mit eingeladenen Tänzer*innen. Welche Bewegungsstile inspirieren dich und wie integrierst du sie in deine Praxis?

TR: Es ist eine Mischung aus allen Stilen, die mir in meinem Leben begegnet sind. Ich habe mit Hip-Hop angefangen und war immer schon von Capoeira fasziniert.
Irgendwann wurde mir klar, dass das alles einen Sinn ergibt, weil ich in einem bestimmten kulturellen Hintergrund aufgewachsen bin. Die Karibik bringt ein besonderes Erbe und eine besondere Sensibilität für Klang und Bewegung mit sich. Salsa, Bachata, Footwork – die Hauptverbindung zwischen ihnen ist das afrokulturelle Erbe. Bei meinen Recherchen stieß ich auf Praktiken, die sowohl im Capoeira als auch im Gwo Ka, dem charakteristischen Tanz von Guadeloupe, vorhanden sind. Mir wurde klar, dass die Stile Hip-Hop, Capoeira und Gwo Ka alle aus demselben Informationsfluss stammen.

Ich habe weiter geforscht und begonnen, diese Stile in meiner eigenen Praxis miteinander zu verbinden, sodass sie ineinander übergehen. Meine Praxis und Bewegungsforschung ist geprägt von dieser Durchlässigkeit zwischen den Informationsströmen. Ich beziehe mich beim Arbeiten auch auf den klassischen Tanz, z. B. das Ballett, aber ich verwende eher die Manierismen des Balletts, um Paradoxien in meiner Arbeit zu verkörpern, und um eine Diskussion anzustoßen. Ich sehe diese Paradoxie, weil ich in der Karibik mit westlicher Kultur aufgewachsen bin. Das hat Widersprüche in mein Wesen gebracht, die ich akzeptieren muss. Jeder Tanz spiegelt das Paradigma der Menschen wider, die ihn tanzen. Es ist wie ein anthropologisches Werkzeug. Es geht um die Art und Weise, wie ein Tanz gelehrt wird, wie er aussieht und wie er sich anfühlt. Er ist ein Prisma für kulturelle Werte und Machtstrukturen. Mit meiner Forschung hoffe ich, den Tanz und seine Kultur besser zu verstehen und der Sensibilität des Tanzes ein Stück näher zu kommen.

MP: In deiner Praxis betrachtest du Tanz und Malerei als komplementär; du überträgst das Konzept des Tanzes auf die Malerei und umgekehrt.

TR: Es ist eine doppelte Verbindung, eine Rückkopplungsschleife. Oft stammen die Figuren in den Gemälden von meinen eigenen Performances, die ich mir auf Video nochmal anschaue. Ich skizziere dann die Bewegungsmuster. Wenn ich in meinen Performances vor meinen Bildern auftrete, führe ich ein Gespräch mit dem Bild, sodass die Bewegung immer von dem Bild initiiert wird. Das ist für mich ein gesundes System der Kreativität. In der Praxis der Bewegung wiederhole ich mich eigentlich nie. Niemand erlebt denselben Tag zweimal – das ist eine Philosophie über die Idee der Performance, die ich schön finde. Die Entstehungszeit einer Malerei ist sehr lang; in dieser Hinsicht ist es eine Art Artefakt, ein Katalysator für Energie. Wenn ich mit einem Gemälde performe, enthält es selbst seinen ihm eigenen Zeitwert. Das Gemälde ist das, was ich bin, es ist das, was ich vorher war. Mir gefällt die Vorstellung eines Gemäldes als eine Art Tor, ein Fenster oder sogar Totem. Das Bild ist ein spirituelles Artefakt, mit dem ich mich verbinden kann, und es beeinflusst meine Gefühle. Wenn ich auftrete, entscheide ich mich oft für einen kreisförmigen Aufbau, was mit dem Konzept der Zeremonie zusammenhängt. Diese Art der Anordnung ist eine Einladung, einem intimen Moment beizuwohnen. Hierfür ist die Konfigura- tion des Raums sehr wichtig. Deshalb gefällt mir die Idee, Architektur und Design in meine Arbeit einzubeziehen. Ich betrachte meine Arbeit als ein echtes Rund- um-Dreihundertsechzig-Grad-Stück, eine Mischung aus Bühnenbild, Architektur, Malerei, bildender Kunst, Bewegung und Klang. Es ist alles eine Bewegung.

„POLYCHROME – The Myth of Karukera and Cibuqueira“, Thomias Radin, 2023, Galerie Wedding, Foto: Mónica Munoz

[1] In der französisch-kreolischen Sprache bedeutet »Gwo Ka« »große Trommel« und bezeichnet eine Musik- und Tanzkultur.

[2] »La géométrie égyptienne: Contribution de l’Afrique antique à la mathématique.« (dt. »Die Ägyptische Geometrie: Beitrag des Antiken Afrikas zur Mathematik«) Obenga, Théophile. Verlag: Editions L’Harmattan, 1995.

[3] Als Christoph Kolumbus 1493 auf der Insel landete, nannte er sie Guadeloupe, nach dem Bild der Jungfrau Maria in der spanischen Stadt Guadalupe und seiner Heimatregion Extremadura. Nach fast 100 Jahren des Widerstands der Indigenen wurde die Inselgruppe in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts von Frankreich kolonisiert. Karukera wird auch als »Basse-Terre« und Cibuqueira als »Grande-Terre« bezeichnet.

Thomias Radin (geb. 1993, Abymes, Guadeloupe) erwarb einen MFA an der Universität Rennes (2018) und hatte eine Einzelausstellung bei Savvy Contemporary in Berlin (2019), wo er später Kurator für Performance mit dem Programm Sensitivities of Dance wurde. Das von Gilles Deleuze und Felix Guattari eingeführte Konzept des Rhizoms wird von Radin als philosophisches Werkzeug in seiner multidisziplinären Kunstpraxis verwendet, die sich mit zeitgenössischen gesellschaftlichen Themen befasst und stark von seiner afro- karibisch-französischen Identität und seinen vielfältigen kulturellen Beziehungen zur Welt beeinflusst ist. Er verwendet eine metaphorische Sprache, um in seinem Werk ein intimes Gespräch zu führen und sich indirekt zu exponieren. Radin macht Verletzlichkeit, Intimität und Intuition zur Grundlage seiner Arbeit. Er untersucht kritisch, wie der Schwarze Körper geformt wurde, ist und wird, während er über seine eigene Herkunft und Identität nachdenkt. Seine multidisziplinäre Praxis, die an der Schnittstelle von Performance und Malerei angesiedelt ist, ermöglicht es ihm, sowohl den Tanz als auch die Malerei als anthropologisches Werkzeug einzusetzen, um die westlichen Gesellschaften insgesamt zu hinterfragen und die von ihnen entwickelten Mythologien zu dekonstruieren. Im Februar 2022 hatte Radin seine erste Einzelausstellung in den Vereinigten Staaten Kimbé Rèd Pa Moli in der Steve Turner Gallery (Los Angeles). Seine Arbeiten wurden auch von Steve Turner auf der Expo Chicago (April 2022) ausgestellt. ‹Ich male wie ich tanze. Ich bewege und fühle mich mit einer intuitiven Freiheit des Ausdrucks und benutze mehrere Körpersprachen, um mit der Musik der Malerei in Einklang zu sein.‹ (Thomias Ludovic Radin)

Malte Pieper ist ein*e in Berlin lebende*r Kurator*in und Forscher*in, deren Arbeit an den Schnittstellen von bildender Kunst, Choreografie und Architektur angesiedelt ist. Die zuletzt von Malte kuratierten Ausstellungs- und Performanceprojekte konzentrierten sich auf queere Körperlichkeit sowie Bewegung im öffentlichen und privaten Raum, darunter »Movement Research TESTPLATZ WEDDING«, 2021, ko-kuratiert mit Maja Smoszna, »Into the Drift and Sway« (2021-22) und »Resonant Bodies« (2022), ko-kuratiert mit Lusin Reinsch.

POLYCHROME – The Myth of Karukera and Cibuqueira
Eine Ausstellung von Thomias Radin, kuratiert von Malte Pieper
16.06. bis 26.08. 2023

Galerie Wedding – Raum für zeitgenössische Kunst
Müllerstraße 146 – 147
13353 Berlin

Öffnungszeiten:
Dienstag – Samstag 12 – 19 Uhr

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