Die Ausstellung Neolithische Kindheit ist eine Kooperation des Hauses der Kulturen der Welt und der Akademie der Künste Berlin. Zentrale Figur ist der Kunsthistoriker Carl Einstein (1885-1940), dessen Nachlass von der AdK verwaltet und in den Monaten vor der Eröffnung der Ausstellung digitalisiert wurde. Seine Schriften aus den 1920er und 1930er Jahren sind Ausstellungsobjekte und Ausgangspunkt für die konzeptuelle Gestaltung der Ausstellung. In ihr werden zum einen zahlreiche Publikationen und Archivalien präsentiert und zum anderen Kunstwerke vornehmlich surrealistischer Künstler*innen, auf die sich Einstein berief. Der Kunsthistoriker und Künstler Tom Holert hat die Ausstellung zusammen mit Anselm Franke kuratiert, wobei ihnen ein Berater*innenteam zur Seite stand.
Ausgangspunkt des Projektes ist die Frage, wie die künstlerischen Avantgarden auf die vielfachen Krisen um 1930 reagierten. Es ist von einer Lage die Rede, die „von vielen als hoffnungslos erlebt und millionenfach nicht überlebt wurde“. Ohne diese Krisen in Abrede stellen zu wollen, gerät mir die Perspektive auf diese Zeit ein bisschen zu einseitig ins Negative – vor allem weil der Zweite Weltkrieg eine noch viel weitgreifendere Krise bedeutete. Mir scheinen die dreißiger Jahre eine unglaubliche extreme, aber auch lebendige Zeit gewesen zu sein. Wie ist der Fokus auf die Krise entstanden?
Die 1930er ebenso wie die 1920er Jahre waren nun einmal eine eminent krisenhafte Zeit. Durch die Shoa, den Zweiten Weltkrieg und Hiroshima wurde diese Epoche, die zumindest von den kritischeren Zeitgenoss*innen in Europa, aber auch in anderen Weltregionen, einhellig als krisenhaft erfahren wurden, in ihrer Abgründigkeit und Endzeitlichkeit radikal gesteigert, aber die Zeichen deuteten bereits seit den späten 1920er Jahren auf eine katastrophale Zuspitzung. Natürlich muss man unterscheiden zwischen Krisenkommunikation und materieller Realität, zwischen den Empfindungen von Angst, Furcht und Überforderung und den – je kontextabhängig zu betrachtenden – historischen Umständen. Und sicherlich gab es in Europa Inseln tatsächlicher oder eingebildeter Glückseligkeit, von den faschistischen Massenspektakeln bis zu elitären Künstler*innenzirkeln in südenglischen Gärten; doch glaube ich kaum, dass angesichts von Great Depression in den USA, Generalstreiks in Frankreich und anderswo, von Bürgerkriegen wie in Spanien oder kolonialen Kriegen wie in Äthiopien, ganz zu schweigen von der Realität der Konzentrationslager und Bücherverbrennungen in Deutschland oder den „Säuberungen“ des Stalinismus.
Ich glaube, es ist eine Frage der Perspektive – erstens in Bezug auf die Ausstellung und die Frage, inwieweit diese Krisen in den ausgestellten Objekten sichtbar werden bzw. inwieweit diese Krisen die Objekte hervorgebracht haben. Und zweitens in Bezug auf diese Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, in der etwas aufbricht – um dann wieder in die Katastrophe zu „schlittern“. Es gibt zahlreiche „Sollbruchstellen“, wie ihr sie nennt, die in der Ausstellung thematisiert werden: die herrschenden erkenntnistheoretischen Dualismen von Subjekt und Objekt, Natur und Kultur, weiblich und männlich; die Legitimation des Kolonialismus; ein lineares Geschichtsverständnis und die Vorstellung eines Ursprungs und auch das Versprechen der Moderne – sie alle werden hinterfragt. Dadurch entsteht Reibung, gibt es Konflikte. Es entsteht eine Aufbruchsstimmung, die gewiss von vielen als unruhig empfunden wurde. Und für viele tatsächlich mit dem Tod endete – wie für Carl Einstein, der als jüdischer Intellektueller 1940 auf der Flucht vor den Deutschen Selbstmord beging. In der Ausstellung gibt es mit „Widerstände und Fluchtwegen“ aber auch ein Kapitel, in dem ihr nicht nur die Krisen, sondern auch Widerstandsbewegungen wie antikoloniale Arbeitskämpfe in den Blick nehmt …
Es stimmt, es gibt vor allem rückschauend Hoffnung und Aufbruch signalisierende Entwicklungen in den 1930er Jahren, vor allem im Zusammenhang des globalen Dekolonisierungsprozesses, aber auch etwa in den politischen Debatten der französischen oder US-amerikanischen Volksfront-Kreise; der Kommunismus war im Westen noch keine endgültig abgelegte oder zu bekämpfende politische Option wie in der durch den Zweiten Weltkrieg festgeschriebenen Weltordnung; die Weltrevolution, der Panafrikanismus, Négritude und andere Bewegungen konnten als legitime und wirkmächtige Horizonte politischer Organisierung und Mobilisierung gelten – mit vielen Effekten auch in den Künsten.
Die Auswahl der Kunstwerke wird im weitesten Sinne als „surrealistisch“ bezeichnet, dabei wurde Carl Einsteins Buch über die Negerplastik vor zwei Jahren in der Ausstellung Dada Afrika – Dialog mit dem Fremden (Berlinische Galerie, 5.8.–7.11.2016) eine zentrale Rolle für den Dadaismus zugeschrieben. Wieso habt ihr euch auf den Surrealismus beschränkt?
Wir wollten keine Ausstellung über Carl Einsteins Gesamtwerk machen, sondern haben uns bewusst auf seine Schriften seit den späten 1920er Jahren konzentriert. Für Dada ist sein Buch Negerplastik von 1915 übrigens auch keine wirklich schlüssige Referenz, denn zumindest Einsteins Essay in diesem Band hat nichts mit Dada, aber dafür sehr viel mit Kubismus zu tun. Die Auseinandersetzung mit surrealistischer Kunst, besonders mit dem surrealistischen Picasso, mit André Masson, Joan Miró, auch mit einem – von Einstein „surrealistisch“ interpretierten – Paul Klee interessierte uns besonders, weil sie sich an einer entscheidenden Bruchstelle der Moderne zutrug, an der die Funktion der Kunst massiv infrage gestellt, nach anderen Funktionszusammenhängen zwischen Wissenschaft und Politik gesucht wurde, übrigens (nicht nur Einstein zufolge) letztlich erfolglos. Aber das um 1930 noch einmal besonders intensive Ringen um eine Begrifflichkeit, mit der die Kunst einer sozialen Bestimmung zugeführt, mit der das Ende bürgerlicher Autonomieästhetik eingeläutet werden konnte, kennzeichnet einen faszinierenden Moment, der dann auch noch das künstlerische Interesse an diversen „Tiefenzeiten“ und Vorgeschichten mitbedingt.
Carl Einstein, „Ethnologie de l’homme blanc“, Disposition im Konvolut „Manual of History of Art“ [Handbuch der Kunst],1930er Jahre, Manuskript Akademie der Künste, Berlin, Carl-Einstein-Archiv, Nr. 222, Blatt 10, © Akademie der Künste, Berlin
Mein Eindruck der Ausstellung war, dass sie aufgrund der Vielzahl von Themen und Aspekten zu schillern scheint, während sie gleichzeitig – in ihrem reduzierten Ausstellungsdesign – eher nüchtern daherkommt. Ich muss gestehen, dass ich in der Ausstellung hin- und hergerissen war zwischen der Freude über die vielen historischen Materialien und der Überforderung im Angesicht so vieler zu erschließender Objekte. Das gleiche gilt für die sachliche Vitrinenpräsentation, die auf Erklärungen verzichtet, was bedeutet, dass ich, um die Objekte zu entschlüsseln und einordnen zu können, permanent am Nachschlagen im Manual bin. Um offen fürs Schauen und den Ort zu bleiben, habe ich mir die hilfreichen, vertiefenden Informationen erst zu Hause durchgelesen – und müsste mit dem Wissen jetzt ein weiteres Mal in die Ausstellung… Weil sich die Archivobjekte weniger von sich aus erschließen, habe ich mich umso mehr auf die Kunstwerke und eine unmittelbare Rezeption gefreut und habe dann etwas mit der Hängung gehadert: Die Kunstwerke sind kompakt an einer Wand aufgehängt und um die oberen Bilder sehen zu können, muss man auf eine Stegarchitektur steigen. Leider sind einige Werke nicht gut beleuchtet. Wie lange habt ihr über das Verhältnis Konzept, Werkfokus und Informationsvermittlung diskutiert?
Das geschilderte Schillern ist ein schöner und durchaus angestrebter Effekt der Präsentation. Die Überforderung, die ja immer auch, subjektiv bedingt, als mehr oder weniger groß, als mehr oder weniger lustvoll erlebt werden kann (für mich persönlich, sind gute Ausstellungen immer Überforderungen, anders kann ich es kaum sehen), hat während eines Besuchs oder während wiederholter Besuche ja auch unterschiedliche Intensitäten. Wir wollten durch die Möglichkeit, mit jeder Eintrittskarte zwei Besuche machen zu können, und mit der Befreiung der Ausstellung selbst von den Texten, die sich im „Manual“ (das mit jeder Eintrittskarte ausgegeben wird) in portabler Weise finden, ein etwas anderes Ausstellungserlebnis gewährleisten, eines, das auch die Möglichkeit oder sogar Notwendigkeit wiederholter, anhaltender Beschäftigung mit den Inhalten und Informationen birgt. Die Hängung, die über eine – archäologische Ausgrabungsstätten assoziierende – Stegarchitektur erschlossen wird, die tatsächlich bestiegen werden sollte (so wie man in anderen Museen z.B. über ein Treppenhaus auf eine andere Ebene gelangt), um den einzelnen Werken näherzukommen, ist sicher diskutierbar. Aber das hat sie mit jeder anderen Hängung gemeinsam. Denn für das Ergebnis einer Hängung ist immer eine Vielzahl von Einzelentscheidungen verantwortlich, die eben auch jede für sich anders hätten getroffen werden können. Wenn es immer noch, nach langwierigen Justierungen der Lichtsituation in der Konzeptions- und Aufbauphase, vereinzelt Probleme mit der Beleuchtung geben sollte, ist das sicher nicht optimal. Aber auch hier befinden wir uns glaube ich, wenn ich das sagen darf, in bester Gesellschaft (eine wirklich perfekt ausgeleuchtete Ausstellung habe ich kaum je erlebt).
Du hast grad das Manual angesprochen, in denen viele der 587 Archivalien und knapp 200 Kunstwerke mit einem kurzen, einführenden Text beschrieben werden. In dieser Menge von Objekten und Texten deutet sich das Ausmaß und die Breite der Recherchearbeit an, die ihr für diese Ausstellung geleistet haben müsst: Neben Originaltexten von Carl Einstein finden sich Informationen sowohl zur Bedeutung der 28-bändigen Propyläen Kunstgeschichte als auch zur Rezeption einer Ausstellung von Kalifala Sidibé, einem der wenigen Künstler, der in der Kolonie (hier: Französisch-Sudan, dem heutigen Mali) „entdeckt“ wurde. Wie lange habt ihr an der Ausstellung gearbeitet?
Zwischen dem ersten Gespräch, das Anselm Franke und ich über die Möglichkeit einer Ausstellung über (oder besser: mit) Carl Einstein geführt haben, und der Eröffnung am 12. April 2018 lagen etwa zweieinhalb Jahre. Allerdings haben sich Recherchen und konkrete Planungen erst nach einiger Zeit so entwickelt, dass die letzten, etwa zwölf Monate zu einer als außerordentlich intensiv erlebten Phase mit entscheidenden konzeptionellen Durchbrüchen werden konnten. Viele Besuche in Sammlungen und Archiven, aber vor allem sehr ausgreifende Lektüren und Diskussionen – unter anderem in einer wissenschaftlichen Arbeitsgruppe, mit der wir drei Workshops veranstaltet haben, aber auch in dem HKW-Team der Mitarbeiterinnen, die für Produktion, Recherche und Koordination verantwortlich waren – führten zur Kontur der Ausstellung, wie sie im HKW besichtigt werden kann. Wir verstehen die Ausstellung aber nicht als final in einem irgendwie abschließenden, ultimativen Sinn, sondern als eine Komposition von Einladungen und Öffnungen, von immer auch bestreitbaren Thesen und Akzentsetzungen. Nicht zuletzt war die Erfahrung der Monate unmittelbar vor der Eröffnung vom Schreiben geprägt – vom Texten der Ausstellung als räumlich-materiellem Ereignis und vom Verfassen einer großen Zahl jener von Dir erwähnten kontextualisierenden und kommentierenden Texte zu den Exponaten. Ich bin überzeugt, dass je mehr ein solches Schreiben integraler Bestandteil der kuratorischen Arbeit ist, desto höher der Grad von Verschränkung von Präsentation, Kommentar und Vermittlung.
Da hast du sicherlich recht und das merkt man den Texten auch an! Ihr schafft es, die vielen Einzelobjekte mit den diversen Strängen (und Krisen), die ihr aufgreift (und die du in deiner ersten Antwort ansprichst), zu verbinden. Die Ausstellung Mobile Welten, die zurzeit im Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg zu sehen ist, widmet sich ähnlichen Themen wie eure Ausstellung. Am Beispiel von Objekten aus dem Museum geht es um die Aufwertung des Kindlich-Naiven, die Infragestellung und Neuordnung kolonialer Zuschreibungen und Wertungen. Dabei zielt die Ausstellung darauf, die Objekte zu den Austauschbeziehungen unserer Jetztzeit in Bezug zu setzen. Was für Linien zieht ihr in die Gegenwart?
Wir haben bewusst darauf verzichtet, explizit Aktualisierungen des historischen Materials vorzunehmen. Und interessanterweise, das ist jedenfalls mein Eindruck, erweist sich die Ausstellung gerade durch diesen Verzicht als eminent zeitgenössisch. Mir sind historische Parallelisierungen immer suspekt. Das lässt sich unter anderem auch an verschiedenen solcher Parallelisierungen, wie sie die Zeitgenossen der Zwischenkriegsjahre vorgenommen haben, begründen. Die eigene Zeit und die eigene Gesellschaft als in einem besonderen, oft exklusiven Verhältnis zu z.B. untergegangenen Hochkulturen zu sehen, folgt oft genug einem ideologischen Interesse der „Jetztzeit“ – etwa dem bestimmter Gruppen, sich gegenüber anderen als kulturell oder auch biologisch-evolutionär überlegen zu gerieren. Anachronismen können als solche interessant sein, ja erkenntnisleitend, aber sie sollten als solche reflektiert werden. Deshalb auch die in „Neolithische Kindheit“ betonte Bedeutung von Zeitmodellen, historiografischen Methoden und der Blick auf Evolutionstheorien und deren Kritik in der Zeit.
Mit der Publikation, die Ende Juni 2018 bei diaphanes erscheinen wird, gibt es die Möglichkeit das Thema noch einmal zu vertiefen. Welchen Strängen oder Fragestellungen widmet ihr euch hier im Besonderen? Mit den Beiträgen zu Formalismus, Autonomie und Primitivismen drei Beiträge, die sich klassischen kunsthistorischen Kategorien widmet. Ich habe mich gefragt, warum ihr auf diese „starken“ Begriffe zurückgreift (die erst ausführlich erläutert werden müssen, um sie dann zu verschieben), statt so wie Einstein, neue Begriffe zu erfinden. Daran knüpft die Beobachtung an, dass ich Einstein nicht nur aufgrund seiner Themen interessant fand, sondern auch aufgrund seiner Arbeitsweise. Ähnlich wie Aby Warburg durch seinen Bilderatlas berühmt wurde, hätte Einsteins Werk das Potential wissenschaftliches Arbeiten „neu“ zu denken. Im Katalog hätte ich mir einen Beitrag gewünscht, der stärker seine „anarchistische“ Form und seine Sprachlust aufgreift, habt ihr darüber nachgedacht?
Es stimmt, wir hätten uns von Einstein vielleicht dazu anregen lassen können, neue Begriffe zu prägen – andererseits waren Einsteins Begriffe auch nicht immer so neu, wie ihr neologistischer Anstrich vermuten lässt. Uns schien zudem die Arbeit an einschlägigen, von Einstein allerdings oft umgangenen oder modifizierten Begriffen der Ästhetik und Kunsttheorie weiterhin wichtig, um die Besonderheiten seines Beitrags theoriegeschichtlich herauszuarbeiten. In der Publikation gibt es daher auch kürzere und längere Essays, die Konzepte wie Vitalismus, Proletkult, Autonomie, Formalismus, ethnologischer Surrealismus und Primitivismus im Zusammenhang mit den theoretischen Konstellationen, in denen sich Einstein bewegte und die er aktiv gestaltete, neu bedenken. Aber gerade bei einem sprachmächtigen und erfindungsreichen Autor wie Einstein sollte man als Ausstellungsmacher und Herausgeber nicht versuchen, in einen Originalitätswettbewerb einzutreten. Man würde ihn mit einiger Sicherheit verlieren.