Anna-Lena Wenzel

Dr. Anna-Lena Wenzel* ist Autorin und Künstlerin. Nach ihrem Studium der Angewandten Kulturwissenschaften in Lüneburg promovierte sie über „Grenzüberschreitungen in der Gegenwartskunst“. Sie betreibt das Online-Magazin 99 % Urban und den Radiosalon für Alltägliches und ist in unterschiedlichen kollektiven Zusammenhängen unterwegs.

Am Rand der Berliner Europacity

28.06.2018
Noch ist der Europaplatz vor dem Hauptbahnhof eine Baustelle, Foto: Yves Mettler

Aktuell entsteht nördlich des Hauptbahnhofes ein neuer Kiez: die Europacity. Das 40 Hektar große Areal zwischen Nordhafen, Heidestraße und Humboldthafen soll ein „Quartier der Zukunft“ werden. Als Leitbild fungiere eine nachhaltige Entwicklung, heißt es auf der Internetseite der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen. Der Masterplan sei in enger Kooperation von Grundstückseigentümer*innen, Projektentwickler*innen, Planer*innen und Behörden erarbeitet worden, wobei „Nutzungsvielfalt“ großgeschrieben werde.

„Der hochwertige Raum soll unter Berücksichtigung ökologischer Gesichtspunkte Flächen zum Wohnen, für Büros, Einzelhandel und Gewerbe zur Verfügung stellen und gleichzeitig ein attraktives Freizeitangebot bereitstellen.“[1] Ob diese Quadratur des Kreises tatsächlich gelingen und sich die angestrebte Nutzungsvielfalt wirklich einstellen wird, steht in den Sternen. Der Künstler Yves Mettler verfolgt die Entstehung des Viertels seit Planungsbeginn und hat bereits mehrmals vor Ort künstlerische Interventionen realisiert. Zusammen mit Alexis Hyman Wolff und Achim Lengerer konzipiert er eine Veranstaltungsreihe rund um die Europacity, die im Juli 2018 ihren Anfang nehmen wird – frei nach dem Motto: „Wir wollen für Europa Platz machen.“ Ich sprach mit Yves Mettler über seine Pläne und Beweggründe.

Seit 2003 arbeitest du zum Thema „Europaplatz“ an verschiedenen Orten in ganz Europa und in diversen Formaten wie Ausstellungen, (partizipativen) Performances, Interventionen und Workshops. Was war der Auslöser für dieses Interesse?

Der Auslöser war ein Abend auf einer Zugreise, wo ich in wenigen Tagen an vier Bahnhöfen ankam: in Graz, Wien, Mönchengladbach und Lausanne. Vor jedem Hauptbahnhof lag ein Europaplatz. Ich habe mich gefragt, wie Städte damit ihr Verhältnis zu Europa ausdrücken. Seitdem geht es mir darum zu schauen, wie eine Stadt ihre Beziehung zu Europa gestaltet. Europa hat ja einen direkten Einfluss auf unseren urbanen Raum, doch diese bleibt oft unsichtbar, unbemerkt und vor allem außerhalb jeglichen Einflusses, sei es vom Standpunkt der Bewohner*innen oder von den städtischen Behörden.
Es mag sehr beliebig klingen, aber schlussendlich ist jeder Europaplatz immer gleichzeitig eine symbolische sowie eine konkrete Situation, die verschiedene Funktionen vereint. Diese Situationen kann man ablesen, erzählen und zur Diskussionen stehen. Darin bestehen mein Interesse und meine Arbeit mit den Europaplätzen.

Du hast dich in Form eines Workshops (in Kooperation mit Agora 2015) und einer Installation/ Performance (im Rahmen des Future Nows Festivals 2017) bereits mit der entstehenden Europacity beschäftigt. Was hast du jeweils gemacht? Was reizt dich an diesem Ort? Was für gesellschaftspolitische Themen werden an diesem Ort sichtbar, die du gerne sag- und sichtbar machen willst?

Ich habe schon mehrere Bilderserien gemacht und 2015 einen Workshop mit Künstler*innen und Urbanist*innen. Wir haben eine Art offenen Tag der Europacity gemacht, wo es Gedichtlesungen in verschiedenen Sprachen sowie einen Minidancefloor in einem Transporter, ein Percussions-Konzert mit Material, das wir auf dem Feld fanden, und eine Seedbombwerkstatt etc. gab. Wir haben als künstlerische Forscher*innen das Areal auf verschiedene Weisen untersucht und genutzt.

Am meisten beschäftigt mich, dass es einen Sprung im Maßstab gibt, den ich nicht mehr alleine bewältigen kann. Es ist nicht nur die Frage, ob es eine größere Baustelle ist als der Potsdamer Platz, sondern die Erkenntnis, dass es mittlerweile normal geworden ist, das solche Baustellen, die ganze Stadtteile umfassen, von privaten Großinvestoren gebaut werden. Unter anderem hat die CA Immo, die Haupteigentümerin der Europacity, noch andere „Europacities“ gebaut, z.B. in Frankfurt [2]. Es ist ein neues Verständnis der Stadt, das in anderen Größenordnungen gedacht wird, und das mit einem bestimmten Denken von Europa in Verbindung steht. Darin sind die Bewohner*innen noch kleiner geworden und keine „Einheiten“ mehr, die eine Bestimmungskraft hätten.

Als ich den Europaplatz 2006 zum ersten Mal sah – es war das Jahr, als der Hauptbahnhof für die WM fertiggestellt wurde und ein Jahr nachdem der Europaplatz seinen Namen erhielt – war er ein großer leerer Kieselplatz, der mit Pollern von Autos freigehalten war. Ich habe mich über diese Leere gefreut, da er eine Einladung schien für temporäre, abwechselnde Veranstaltungen, an einem, wie man sagt, Prime Standort. Ein Ort, der von verschiedenen Bevölkerungsgruppen für verschiedene Veranstaltungen genutzt werden kann. Ein ganz gutes Bild für einen demokratischen Prozess. Nach und nach habe ich gesehen, wie diese Leere zu geplant wurde.

Foto: Yves Mettler

Obwohl der Europaplatz eine zentrale Schnittstelle ist, steht seine Gestaltung in den Sternen und wird am Ende ein Busbahnhof, wenn wir nichts machen. Nördlich vom Europaplatz entwickelt sich seit 2009 die Europacity. Natürlich hat mich das angezogen als Erweiterung des Europaplatzes. Dabei interessieren mich folgende Fragen: Wie kann die Zusammenarbeit von Behörden mit Großeigentümern und -Investoren aussehen? Wie soll die europäische Stadt aussehen? Hier geht es auch um Fragen der Mitgestaltung, des geteilten Mitdenkens, des europäischen urbanen Flairs, der an der Vielfalt von Akteur*innen liegt, und der Verantwortung gegenüber den vielen individuellen und kollektiven Geschichten. Es entstehen bereits urbane Legenden, die das Unbehagen der Einwohner*innen der Europacity gegenüber wiederspiegeln. Aber es gibt nirgends ein Ohr für dieses Unbehagen, da Lebensgrundlagen von vielen Berliner*innen auf dem Spiel stehen. Die Veränderungen durch das Bauvorhaben reichen weit über den Rand der Europacity hinaus. 

Bei meiner Beschäftigung mit diesen Fragen wurde mir klar, dass ich das nicht alleine handhaben kann, und dass ich sicher nicht der einzige bin, den das Viertel juckt. Darum versuche ich jetzt meine Fragen mit anderen zu teilen, mit Einwohner*innen, Behörden und Eigentümer*innen. Vielleicht ist meine Perspektive, die das Projekt mit breiteren, europäischen Werten und Kontroversen verbindet, die Möglichkeit mit einer Vorschlagskraft zu kommen. Perspektivenwechsel sind eine gute Methode, um festgefahrenen Positionen zu entkommen und neue kollektive Vorstellungen für das Zusammenleben zu generieren.

Das Viertel beschäftigt dich weiterhin – wenn ich es richtig verstanden habe, wirst du dort ein Projekt im öffentlichen Raum realisieren. Was hast du vor?

Das Projekt heißt, „Am Rand von Europacity“ und entsteht zusammen mit der Kuratorin Alexis Hyman Wolff, die in Bernau und in Kleinmachnow kulturelle Gemeinschaftsprojekte geschaffen hat, dem Künstler Achim Lengerer, der den Projektraum Scriptings im afrikanischem Viertel in Wedding betreibt. Gemeinsam mit weiteren kulturellen Akteur*innen und Bewohner*innen werden wir uns dem kollektiven Bewusstsein der neuen Nachbarschaft widmen. Bis Mai 2019 werden wir den Stimmen an der Grenze des neuen Stadtteils zuhören. Die Teilung der Stadt lief ja entlang des Kanals und hat massiv mit der heutige Situation zu tun. Wir wollen das Thema der Ausgrenzung der inneren Grenzen ausarbeiten und auch Vorschläge formulieren, die zu einer „gesunden“ Beziehung zwischen alten und neuen Nachbarschaften beitragen können.

Künstlerisch geht es ums Zuhören und ums Gehen. Gemeinsam den Rand erörtern und kennenlernen. Zusammen zuhören wie die Zukunft klingt. Was hören wir? Was hören wir nicht? Ein Jahr lang wollen wir mit kleinen Gruppen von Zuhörer*innen und Zugehörten (Sprechenden und zum Ort gehörenden) den Rand der Europacity durch eine Reihe von öffentlichen Spaziergängen erkunden. In einem Jahr werden die Ergebnisse der öffentlichen Forschung dann der Öffentlichkeit vorgestellt und erfahrbar gemacht.

Foto: Yves Mettler

Was hat das mit alles Europa zu tun? Wir denken, dass das Zuhören (und das Teilhaben) viel mit Europa zu tun haben und der Raum für das Zuhören eine Voraussetzung für die Demokratie ist. Dieser Raum muss immer wieder neu gestaltet werden. Die Frage ist: Wo ist dieser Raum in der Europacity? Ob die Europacity zuhören kann oder nicht, hat konkrete Auswirkungen auf die Nachbarschaft und unser Bild von Europa.

Dein Atelier befindet sich in unmittelbarer Nähe zu dem neuen Viertel. Was bewegt dich, wenn du den Bau täglich verfolgen kannst? Was erwartest du persönlich von dem Viertel? Was glaubst du, wie es werden wird?

Ich sehe wie schnell das Areal bebaut wird und wie massiv das Gebaute die Gegend prägt. Das erste Gefühl ist schon ein bisschen ein Gefühl der Ohnmacht. Das Budget für unser Kunstprojekt wird auf dem Gelände wahrscheinlich in ein paar Minuten verschlungen bzw. verbaut. Die Maßstäbe, die die Entwicklung der Europaciy bestimmen, wirken unmenschlich und sind meilenweit entfernt von den Versprechen, die die Stadt, die Deutsche Bahn und die Vivico (heute CA Immo) auf der Standortkonferenz 2009 gemacht haben.

Es ist aber auch aufregend. Es ist nie zu spät sich die Zukunft anders vorzustellen. Und die Vergangenheit. Das Areal war keine leere Wüste. Da war immer wieder einiges los. In unmittelbarer Nähe befinden sich die Ateliers von international erfolgreichen Künstler*innen wie Olafur Eliasson, Thomas Demand, Karin Sander und Katharina Grosse. Es gab den Tape-Club, die Galerie von René Block, Festivals – alles, wofür Berlin steht. Das Areal war da zum Experimentieren. Diesen Geist finde ich inspirierend. Aber in der Öffentlichkeit wurde die Erzählung von der leeren Brache, die endlich belebt wird, propagiert und verdrängte damit die wichtige Rolle, die dieses Gelände für den Aufschwung der Kunst und Clubkultur von Berlin spielte.

Ich erwarte Mut von uns, von der Stadt, von den Eigentümer*innen, eine andere Weise Stadt zu erfinden, zu denken, zu leben. Ich denke es ist wichtig Ohr, Augen und Mund aufzumachen. Sobald ein Dialog entsteht, kann ein Zusammensein entstehen.

 

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