In den mitten im Wald auftauchenden Lichtungen sehen wir, wie das Licht der Sterne die dichte Vegetation bedeckt. Wir nehmen alles in veränderter Farbigkeit wahr, sehen andere Wesen, andere Formen und Texturen. Baumstämme, Blätter, Insekten, alles ist wie verwandelt.
Von Beginn an und seit mindestens 15 Jahren geht es in Ricardo Cariobas Werk um grundlegende Fragen der Sinne und der Wahrnehmung dessen, was uns umgibt. Der Künstler, interessiert am Kern dessen, was unsere Aufmerksamkeit weckt und daran, wie sich solche Prozesse zu Vorstellungen unserer eigenen Kondition verhalten, arbeitet mit formalen Reduktionen auf der Suche nach einer möglichen Annäherung an die immateriellen Aspekte von Erfahrung.
Sein Werk lässt sich aus einer Kombination verschiedener Grundmuster verstehen, ein üblicher Ansatz für einen Künstler aus den Tropen, der in gleichem Maße globale und lokale Geschichten zu erzählen hat und dessen Entwicklung vom Beginn der Errichtung der großen urbanen Zentren, dem Rennen um die Vorherrschafft im All und dem Aufkommen der digitalen Technologien geprägt wurde. Seine Suche nach reiner Abstraktion und Universalität durch die grundlegende Reduktion von Farbe und Form lässt sich auf Ideen von De Stijl, des Bauhauses und des sowjetischen Konstruktivismus zurückführen, insbesondere aber auf solche des US-amerikanischen Minimalismus, der sich im mehrdeutigen Terrain zwischen Malerei und Skulptur verortete und an einer Gesamtwahrnehmung der Objekte herumspielte zu Lasten von übergreifenden Gedanken oder etwas, das quasi zu enthüllen wäre. Während der geometrische Charakter und die formale Strenge eine enge Verbindung zum europäischen Konstruktivismus erkennen lassen, stürzen sich die Minimalisten in die Vermeidung individuellen Ausdrucks als Essenz des Kunstwerks, distanzieren sich von der Metapher und spekulieren stattdessen darüber, was von einfachen, neutralen und minimalen äußeren Provokationen Allgemeingültigkeit erlangen könnte. In seinem Werk lassen sich auch Beziehungen zu brasilianischen Modernisten, Konkretisten und Neokonkretisten erkennen; eine gewisse Verbindung zum brasilianischen Konstruktivismus, sei es in Kunst oder Architektur. Doch da sein Hauptinteresse die sinnliche Erfahrung und eine Unmittelbarkeit der Grundfarben und geometrischen Formen ist, hat Carioba weder zu sozialen und politischen Fragen je direkt Stellung bezogen, noch hat er eine Praxis in Bezug auf die Materialität der Objekte entwickelt, wie es in der zeitgenössischen lateinamerikanischen Szene üblich ist.
Man kann auch auf Implikationen der Tatsache hinweisen, dass er die Zeit vor und nach der Konsolidierung des Informationszeitalters erlebt hat; in einer Post-Internet-Welt, in der die digitale Sphäre integraler Bestandteil unserer Realität geworden ist. Und schließlich ist da noch der Einfluss, den sein Leben in São Paulo darstellt, mit all den chaotischen und intensiven Verflechtungen, dem unaufhörlichen Straßenlärm in seinen Beton- und Metalllandschaften. All das führt, mit anderen Worten, zu radikalen ontologischen Reflexionen und lässt uns, hoffentlich, die falschen Gegensätze infrage stellen zwischen dem Realen und dem Künstlichen, zwischen Natur und Zivilisation, dem Organischen und dem Industriellen.
Mit dieser den gesamten Ausstellungsraum einehmenden Installation schafft Carioba eine Möglichkeit zum unmittelbaren Eintauchen durch reduzierte, auf ein absolutes Minimum beschränkte Gesten, was uns ein zutiefst fremdartiges Erlebnis verschafft, das nicht weniger seltsam und geheimnisvoll wird, wenn wir uns darauf einlassen. In diesem bizarren Loop scheinen unser Körper und die Wahrnehmung zunächst unterschiedliche Ebenen zu besetzen, sich aber schließlich wie bei einem Möbiusband in einer unmöglichen Naht zu verflechten und ineinander zu falten. Dadurch sind wir in der Lage, ein neues Verständnis von Ökologie zu gewinnen und eine Perspektive darauf zu entwickeln, dass wir nicht nur menschlich sind, sondern auch die Bakterien in uns und verbunden sind mit allem, was uns umgibt. Zu lernen, mit dem Unfassbaren, mit dem Rätsel zu koexistieren. Der Widerspruch, sich daran zu gewöhnen, ohne es jemals ganz zu begreifen. Dann erscheint uns auch der logistische Algorithmus des Anthropozäns selbst merkwürdig, der darauf abzielt, alle Sphären des Lebens zu organisieren und uns zu eigen zu machen.
Mit jedem Lichtstrahl, jede Klangfrequenz sind wir mit solch natürlichen Artefakten konfrontiert, als Elemente, die das Leben braucht. Artefakte, die zugleich mehr sind und auch weniger dessen, was wir verstehen, so wie jede beliebige Frucht eines Baumes, jedes Flussufer, jedes Vogelzwitschern – und wie wir selbst. Artefakte, die uns erkennen lassen, dass wir Ursache und Wirkung von allem sind. Es ist die Herausforderung, mit einem Widerspruch umzugehen, der nie verschwinden wird: dem Widerspruch, in Unvollkommenheit zu existieren. Klang und Licht eröffnen den Weg zu einem mühsamen Trost, zu einer beängstigenden Koexistenz selbst mit dem, was uns heimsucht, und sogar mit der dunklen Seite unserer Weltaneignung.
Der unbestrittene Gestaltungs-Algorithmus entdeckt eine Fehlermeldung; wir glauben nicht mehr daran, die Dinge kontrollieren zu können, weder die, die wir finden, noch die, die wir erschaffen. Weder den Stein noch den Hammer.
Es gibt keine Natur, die zerstört oder konstruiert werden könnte. Sollte das hier gezeigte Werk auch Jahrzehnte nach einer möglichen Apokalypse noch immer in Funktion sein, werden künftige Lebensformen es von anderen biochemischen Prozessen nicht mehr unterscheiden. Das tiefe, den Raum erfüllende Blau, die anormale, an den Wandecken aufbrechende Lücke, die sich im unendlichen Spiel von Ausdehnung und Rückzug bewegenden Kreise, die hypnotische Musik, all das wird ununterscheidbar sein von dem neuem Sedimentgestein, von den Pilzen, von der automatisierten Software, vom Geruch des Stoffwechsels der Bakterien, die ein posthumanes Berlin bewohnen werden.
Alles ist Natur, wird man einst sagen. Was vor uns kam, wir selbst, und auch das, was nach uns kommen wird.
Germano Dushá
in Zusammenarbeit mit João Meirelles
(Übersetzung aus dem Englischen von Jens Asthoff)
Ricardo Carioba (1976, São Paulo, Brazil) lebt und arbeitet in São Paulo. Er zählt zu den bedeutendsten jüngeren Vertretern experimenteller Klang- und Videokunst in Brasilien. Seine Kompositionen und Installationen werden regelmäßig auf renommierten Festivals und in Galerien und Museen in Südamerika und England gezeigt.
Die Installation »Organic Decline« ist vom 27.07. bis 01.09.2018 in der Galerie Wedding zu sehen. Sie taucht den gesamten Galerieraum durch spezielle Lichtfilterfolien an den Fensterfronten in ein monochromes, tiefblaues Licht. Die visuelle Raumatmosphäre wird durch Klänge erweitert. Zu hören ist eine sich ständig weiterentwickelnde Komposition, die mit der Öffnung der Galerie am Mittag beginnt und bis zur Schließung am Abend andauert.
Eine Produktion von singuhr e.V. in Zusammenarbeit mit der Galerie Wedding – Raum für zeitgenössische Kunst.