Anna-Lena Wenzel

Dr. Anna-Lena Wenzel* ist Autorin und Künstlerin. Nach ihrem Studium der Angewandten Kulturwissenschaften in Lüneburg promovierte sie über „Grenzüberschreitungen in der Gegenwartskunst“. Sie betreibt das Online-Magazin 99 % Urban und den Radiosalon für Alltägliches und ist in unterschiedlichen kollektiven Zusammenhängen unterwegs.

„Horror hält dir die Abgründe des Systems vor Augen“

04.03.2025
Poster der 10. Edition des Final Girls-Festivals. Design: Lochlainn McCarthy
Poster der 10. Edition des Final Girls-Festivals. Design: Lochlainn McCarthy

Dieser Tage findet zum 10. Mal das Final Girls Film Festival im City Kino Wedding statt. Im Interview erzählen Elinor Lewy und Sara Neidorf, Kuratorinnen des Festivals, von diesjährigen Trends, dem kulturkritischen Potential von Horrorfilmen und dem Aufwand, ein solches Festival zu organisieren.

Vier Tage lang, vom 5. bis zum 9. März 2025, lockt ein dichtes Programm aus Spielfilmen, Kurzfilmblocks, Talks und einer Party in das City Kino im Institut français in der Müllerstraße. Zudem gibt es in der Lobby eine Ausstellung der Künstlerin Rebecca Agnes, die eine Trilogie des Horrors zeigt: eine Sammlung von Hexen, Geistern und Monstern. Das Filmprogramm zeigt aktuelle Streifen aus der ganzen Welt, darunter einige Deutschland- und Europapremieren. Es handelt sich um einen Wettbewerb, so dass eine Jury den besten Lang- und Kurzfilm prämiert und ein Publikumspreis vergeben wird.

Der Titel „Final Girls“ ist eine Anspielung auf eine weibliche Filmfigur in Horror- und Slasherfilmen – das weibliche Opfer, das zur Heldenfigur wird, weil es ihr am Ende des Films gelingt, den Täter auszuschalten. Und tatsächlich ist das Ziel des Festivals, Raum für sich weiblich definierende Stimmen und Perspektiven im Horror-Genre zu schaffen, ganz gleich ob monströs oder heroisch.[1] Statt aufgehübscht und in der klassischen Opferrolle werden Frauen* hier zu Rächer*innen, Furien und Chimären.

Es ist Freitagnachmittag kurz vor dem Festival, ich bin per Zoom mit Elinor Lewy und Sara Neidorf verabredet, die in einem Café am Fernsehturm sitzen. Die beiden wollen noch zur Berlinale, weswegen wir sofort zur Sache kommen und auf Englisch los legen.

Anna-Lena Wenzel: Ist es euer zehntes Jahr oder die zehnte Auflage?

Elinor Lewy: Es ist tatsächlich unser zehntes Festival – im ersten Jahr, 2017, gab es zwei Festivals.

Sara Neidorf: Wir haben mit einem zweitägigen Festival in einem kleinen Kino, das hieß Z-inema in Mitte, angefangen. Weil wir so viele vielversprechende Einreichungen hatten, haben wir im selben Jahr im Moviemento in Kreuzberg noch eine zweite Auflage gemacht, damit wir alle davon zeigen können.

ALW: Ihr seid mit dem Festival ziemlich gewandert, oder?

SN: Ja, wir waren in vielen verschiedenen Kinos. 2018 haben wir im b-ware! in Friedrichshain weitergemacht und hatten Vorführungen in kleineren Bars und DIY-Orten, wie der B-Lage in Neukölln oder der Tristeza. Nun sind wir seit ein paar Jahren im City Kino Wedding. Einige Screenings gab es auch im Wolf-Kino in Neukölln. Wir wollten in möglichst vielen Kiezen unser Programm zeigen.

ALW: Seid ihr auch die Gründer*innen des Festivals oder hat das Team gewechselt in den letzten Jahren?

SN: Wir sind beide seit dem Anfang dabei und machen das Programm.

EL: Aber es gibt ein tolles Team aus Mitarbeiter*innen und Ehrenamtlichen, die Pressearbeit, Social Media und die Grafik machen.

Ghoulia und Battina: Detail aus dem Design des Festivals. Credit: Lochlainn McCarthy

ALW: Wieviel Arbeit ist es, so ein Festival zu organisieren?

EL: Viel Arbeit! Wir sagen immer, es sind neun Monate, aber eigentlich ist immer etwas zu organisieren. Und wir bereiten ja nicht nur das Festival vor, sondern touren auch mit unserem Programm. Aber klar gibt es Phasen, in denen es intensiver ist und solche, in denen wir weniger mit dem Festival zu tun haben, wo wir aber trotzdem immer die Augen offen halten. Wir fangen einen Monat nach dem Festival mit dem nächsten Open Call an.

ALW: Habt ihr immer noch Freude am Schauen oder vergeht die irgendwann, wenn das Filmegucken zur Pflicht wird?

SN: Ich würde sagen, dass man lernen muss, die richtige Stimmung zu schaffen und es nicht zu übertreiben, um weiterhin Spaß bei der Sache zu haben und den Filmen den Raum zu geben, den sie brauchen. Ich habe an mir beobachtet, dass ich, wenn ich zu viele Filme nacheinander schaue, keine gute Jurorin mehr bin. Da kann ich nicht mehr objektiv beurteilen, ob ein Film gut in den Festivalkontext passt oder nicht. Ich habe deswegen angefangen, die Filme mit meiner Partnerin oder Kolleg*innen zu schauen, statt alleine vor meinem Rechner zu sitzen, weil es mir wichtig ist, mit anderen darüber zu sprechen. Dieser Austausch ist eine große Hilfe beim Auswahlprozess.

EL: Mir geht es genauso, man muss auf jeden Fall aufpassen, weil wir mittlerweile eine Menge Einreichungen bekommen. Das Festival wird von Jahr zu Jahr größer! Und es gibt eine enorme Bandbreite an Themen und Qualität. Wenn du eine Menge mittelmäßiger Filme siehst, wird es herausfordernd – aber es gibt auch immer wieder diese Momente, wo etwas Neues auftaucht, und das motiviert dann, weiterzuschauen.

SN: Es ist auch eine privilegierte Situation, die wir als Kuratorinnen haben, so viel sehen zu können. Schließlich sind wir mit diesen Einreichungen am Puls der Zeit, was die aktuellen Trends im Horrorfilmgenre angeht, die von weiblichen oder non-binary Regisseur*innen gemacht sind.

ALW: Wie kommt ihr zu den Filmen bzw. wie kommen die Filme zu euch?

EL: Es ist eine Art Mischmasch: Es gibt einen Open Call, für den wir die Plattform FilmFreeway benutzen. Das ist ziemlich niedrigschwellig und die Einreichungsgebühr ist mit knapp zehn Euro sehr niedrig. Gleichzeitig schauen wir uns viel an, sind in Kontakt mit Verleihern und Regisseur*innen, die wir kennen, und sichten bei Festivals etc.

Eindruck vom Festival. Foto: Elinor Lewy

ALW: Gibt es einen Schwerpunkt beim diesjährigen Festival? Filme sind den aktuellen Entwicklungen ja immer etwas hinterher, weil sie so lange Produktionszeiten haben.

EL: Ja, was ein bisschen anders ist bei den Kurzfilmen. Ein Schwerpunkt, den wir ausgemacht haben, ist Kapitalismus, weswegen es einen Kurzfilmblock gibt, den wir Capitalist Horror – Eat the Rich genannt haben. Es treibt die Leute um, wie sich die Dinge entwickeln und was die Ungleichheit mit den Menschen macht. 

SN: Ein anderer Schwerpunkt sind Filme, die sich mit Körperpolitiken und Körperautonomie beschäftigen. Da geht es auch um die aktuellen Rechtsvorschriften bezüglich Transrechten etc. Der Köper steht auf jeden Fall im Mittelpunkt.

EL: Wir zeigen zum Beispiel den Film The Substance, eine britisch-französische Koproduktion mit Demi Moore. Darin geht es um eine Injektion, die Moore zu einem jüngeren Selbst verhilft – aber natürlich einen Haken hat. Danach kommt mit Grafted ein neuseeländischer Film, der ebenfalls den Schönheitswahn und den fragwürdigen und brutalen Wunsch, mithilfe einer Hauttransplantation die soziale Leiter aufzusteigen, problematisiert. Es gibt einige Filme, die die Ambivalenz von Körpertransformationen thematisieren …

SN: … und die Problematik normativer Körper, die durch die Medien verbreitet werden und stark das Selbstwertgefühl beeinflussen. Es geht darum, aufzuzeigen, wie grotesk diese Mechanismen und Idealisierungen sind. Zusammenfassend würde ich sagen, dass es darum geht, die gesellschaftlichen Systeme in Frage zu stellen und gegen Machtstrukturen und Unterdrückung zu rebellieren. Es gibt einige, die sich kritisch mit der weißen Vorherrschaft auseinandersetzen, auch weil wir Filmemacher*innen unterstützen wollen, die aus einer marginalisierten Position sprechen. Und Horror ist dafür genau der richtige Ort.

Gruselig, aber auch irgendwie süß: Ghost. Design: Lochlainn McCarthy

ALW: Das wäre meine nächste Frage gewesen: Inwieweit eignet sich das Horrorgenre besonders gut, um diese Themen zu verhandeln? Mir scheint, es bietet eine Art frohen Schrecken. Es wirkt verstörend, eröffnet aber auch neue Handlungsoptionen jenseits gängiger Klischees.

SN: Das einzigartige am Horrorgenre ist, dass es direkt in die Körper geht. Es ruft unmittelbare Reaktionen hervor und hinterlässt ein intensives wie unbestimmtes Gefühl der Beunruhigung. Horror kann einen Eindruck davon geben, wie dysfunktional oder krankhaft etwas ist. Es hält dir die Abgründe des Systems vor Augen. 

EL: Ich finde es erstaunlich, wie populär das Genre geworden ist. The Substance ist dafür ein gutes Beispiel, genauso wie Parasite, der südkoreanische Oscarerfolg aus dem Jahr 2020. Das Prestige und die Aufmerksamkeit für Horrorfilme sind seit wir mit dem Festival angefangen haben, definitiv gewachsen. Sie sind auch monetär sehr erfolgreich.

SN: Es ist ein Genre, das die Massen anspricht und gleichzeitig Kulturkritik übt. Es kann viele Dinge auf einmal.

ALW: Ich kenne einige, die Horrorfilme nicht mögen, weil sie sagen, dass sie zu sehr verstören.

SN: Das hören wir oft. Aber vielen Filmen geht es nicht um Provokation. Klar gibt es einige, in denen Gewalt und Blut vorkommt. Aber es gibt auch viele, die leise und subtil vorgehen und auf eine eher emotionale als physische Weise Familiendynamiken und Machtverhältnisse offenlegen. Viele kommen mit einem bestimmten Horrorverständnis und sehen dann, dass das Genre vielschichtiger ist, als sie gedacht haben. Man muss außerdem sagen, dass die meisten, die Horrorfilmen skeptisch gegenüber stehen, nur Horrorfilme von weißen Cis-Männern gesehen haben! Sie haben eine Vorstellung von Horrorfilmen, die auf einer sehr begrenzten Perspektive beruht. Uns ist es wichtig, möglichst viele verschiedene Sichtweisen zusammenzubringen.

EL: Deswegen haben wir auch viele Nicht-Horror-Fans, die zu unserem Festival kommen, weil sie genau diese Auswahl schätzen.

ALW: Wie finanziert ihr das Festival?

EL: Wir haben das Glück, öffentliche Förderungen zu bekommen. Diese Auflage ist vom Hauptstadtkulturfonds unterstützt, andere Auflagen konnten wir mit der Spartenoffenen Förderung von der Senatsverwaltung für Kultur finanzieren. Aber wir haben die Zusage sehr kurzfristig bekommen und waren schon kurz davor, eine Crowdfunding-Kampagne zu starten. Es ist jedes Jahr aufs Neue unklar, wie es weitergeht. Das ist hart und wir kennen viele Initiativen, die ihre Förderungen verloren haben.

ALW: Was macht ihr, wenn ihr nicht für das Festival arbeitet?

EL: Ich bin Übersetzerin und mache Untertitel für Kino und Fernsehen. Daneben arbeite ich für das Magazin Indiekino.

SN: Ich bin freiberufliche Musikern und spiele Schlagzeug in Bands und fürs Theater. Außerdem verdiene ich mein Geld mit Schlagzeug-Unterricht. Meine Situation ist ziemlich prekär, weil viele Projekte, für die ich arbeite, auf Förderungen angewiesen sind. Dieses Jahr hat fast nichts geklappt, weswegen ich gerade auf Jobsuche bin. Ich würde gerne mehr Filmmusik machen, das wäre toll.

ALW: Ich habe gesehen, dass ihr auf dem Festival auch einige Filme streamt?

EL: Ja, wir wollten gerne, dass man sie von überall anschauen kann. Während Covid haben wir gemerkt, dass das eine gute Möglichkeit ist, um ein breiteres Publikum und auch Leute, die ihr Haus nicht verlassen können, zu erreichen. Deswegen machen wir das weiter. Sorry, wir müssen jetzt wirklich in unseren nächsten Film.

ALW: Vielen Dank für das Interview!


[1] https://www.finalgirlsberlin.com/about

Infos:
10. Final Girls Berlin Film Festival
5.-9. März 2025
City Kino Wedding, Müllerstraße 74, 13349 Berlin und Cocoon, Exerzierstraße 14, 13357 Berlin
Der Festival Pass kostet 75,00 Euro.

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