Spaziert man an der Panke entlang und schaut auf Höhe der panke culture auf die andere Seite, kann man hinter Grün versteckt, einige etwas baufällige Backsteingebäude erkennen. Ihre einstige Bestimmung lässt sich nicht auf den ersten Blick erschließen, denn obwohl zwei rote Schornsteine in die Höhe ragen, sieht es nicht nach einem ehemaligen Fabrikgelände aus. Schaut man genauer hin, sieht man Tische, Stühle, Fahrräder und an den Eingängen Namensschilder – offensichtlich ist dieses Areal nicht sich selber überlassen, sondern genutzt, aber von wem? Wer sind die glücklichen Mieter*innen, die an diesem aus der Zeit gefallenen Ort arbeiten? Und gehört die Baustelle direkt daneben zum Gelände dazu?
Um mehr über die Geschichte des Ortes und dessen Status quo zu erfahren, bin ich mit Dirk Feistel vom Verein Die Wiesenburg e.V. verabredet, der sich ausführlich Zeit nimmt, um mit mir über die aktuellen Veränderungen zu sprechen, die das Gelände seit einigen Jahren aus seinem Dornröschenschlaf gerissen haben. Kommt man nämlich von der Wiesenstraße, wird schnell deutlich, dass sich dieses in massiver Transformation befindet: eine geteerte Baustelleneinfahrt führt auf eine große Baustelle, an deren Anfang ein Loch klafft, im Hintergrund sind noch einige Gebäudereste zu sehen. Auf einem Baustellenschild heißt es: „Hier entstehen fünf neue Gebäude mit insgesamt 102 Mietwohnungen von 1 bis 4 Zimmern, davon 51 gefördert, sowie auf 490 m2 Gewerbeflächen für Büros, Praxen, Einzelhandel und Ateliers.“ Bauherrin ist die degewo Wohnungsgesellschaft. Auf der Fotosimulation ist (bis auf einige Bäume im Hintergrund) von der ursprünglichen Bausubstanz nichts mehr zu sehen.
Bevor ich über die zukünftigen Pläne aufgeklärt werde, bekomme ich eine Sonderführung zur Geschichte der Wiesenburg von Joe Dumkow. Er wohnt auf dem Gelände, seine Biografie ist eng mit der Wiesenburg verflochten, denn seine Eltern Anna und Wolfang Dumkow, die ebenfalls hier wohnen, bekamen das Gelände 1961 vom Berliner Asylverein für Obdachlose überschrieben. Dieser Verein, der 1868 im Wedding gegründet wurde, errichtete 1897 die Wiesenburg.
Als Joe Dumkow zu erzählen beginnt, hört man neben seiner Vertrautheit mit der Geschichte des Gebäudes auch seine Verbundenheit mit dem Ort heraus. Seine Erzählung ist gespickt mit zahlreichen Details und Fakten zu den damals fortschrittlichen hygienischen Bedingungen, den architektonischen und technischen Neuerungen sowie den zahlreichen prominenten Besucher*innen der Wiesenburg: „Aus sehr reichen Mitbürgern gründete sich 1868 der Berliner Asylverein. Bis 1896 haben sie es geschafft, 4,6 Millionen Reichsmark in Gold zu sammeln, um das hier zu investieren. Die Königin Luise wollte damals auch Geld dazugeben, das hat der Verein aber abgelehnt, denn was des Volkes ist, soll vom Volke selbst getragen werden. Begründer waren Paul Singer, Damenmantelfabrikant und Mitbegründer der Berliner SPD, und der Bankier Gustav Tölde. Diese beiden brachten namhafte Industrielle wie August Borsig, Rudolf Virchow und Carl Bolle zusammen, und bauten innerhalb von elf Monaten mit der Hilfe von 400 Handwerkern das Beamtenhaus, die Sammelhalle, die zehn Schlafsäle und die dazugehörigen Betriebsräume –unter anderem der Saal, in dem die Dampfmaschine drin stand. Die Maschine war an einen Generatorraum koppelbar, damit man Strom erzeugen konnte. Der Strom wurde gebraucht, damit man in diesem Wasserturm mithilfe einer Wendelhubpumpe 283 Kubikmeter Wasser aufpumpen konnte, die dann verteilt wurden auf 100 Handwaschbecken, 60 Duschen, 40 Badewanne, Wäscherei, die Oberflächendesinfektion sowie für die Küchen und Handwerksräume. Das waren 700 Betten für Männer; ab 1905 wurde das Ganze um weitere 400 Schlafplätze für Frauen erweitert.
1930 drehte Fritz Weiß den Stummfilm Der Vagabund mit Originalszenen von hier. Ein weiterer Film, der hier entstand, war M – Eine Stadt sucht ihren Mörder von Fritz Lang. Prominente Gäste waren Erich Kästner, der Sozialkolorit sammelte für seine Romane, genauso wie Hans Fallada. Rosa Luxemburg schrieb hier 1919 einen post über Massenvergiftungen im städtischen Asyl, der im Vorwärts veröffentlicht wurde – kurz darauf wurde sie von den Nazis umgebracht. Die Nazis kamen 1933 und teilten die Obdachlosen in drei Vereine auf. 1935 waren die Umbauten abgeschlossen und die Firma F.H.W. Lehmann richtete eine Flaggendruckerei ein. 1942 zog eine Firma in das Gebäude, die Aluminiumteile für Kübelwagen herstellte, um sie an die Ostfront zu schicken. Als die Alliierten kamen, wurde alles zerbombt. Da war dann alles vorbei. Bis zum Jahre 1961 wurde das Gelände enttrümmert, dann übernahm die Familie Dumkow die Geschäfte des Hauses, weil Erna Kluge, die letzte Zeichnungsberechtigte als Sekretärin des Berliner Asylvereins, meinen Eltern das Gelände überschrieb.“
Foto der Wiesenburg von Bojana Nikolić
Es folgten für lange Jahre Rechtstreitigkeiten, bis das Land Berlin das Gelände 2014 an die degewo übertrug. Sie ließ Teile des Geländes sperren, was Joe Dumkow gar nicht gefällt. Seine Stimme wird laut und ärgerlich, wenn er über die aktuellen Veränderungen spricht. Es ist der Moment, in dem Dirk Feistel das Gespräch übernimmt und mich in sein Tonstudio führt, das im hinteren Gebäudeteil, direkt neben der Panke, liegt. Neben den Künstlern Bo Thomas Henriksson und Heather Allen, dem Tischler Peter Rintsch und dem Philosophen Bertold Hauff ist er einer von zehn gewerblichen Mietern, die hier zu günstigen Mieten arbeiten, Veranstaltungen wie Ausstellungen und Festivals organisieren und sich ehrenamtlich um den Erhalt des Geländes bemühen.
Er berichtet, wie sich der Verein, der sich 2015 gründete, dafür einsetzt, einen Teil des denkmalgeschützten Areals zu erhalten. „Die ersten Jahre waren sehr schwer. Wir haben gleich am Anfang gemerkt, wir müssen uns mit einer Stimme Gehör verschaffen – auf politischer und kultureller Ebene in der Stadt und darüber hinaus. Deswegen haben wir den Verein gegründet. Um zu zeigen, wir schließen uns hier zusammen.“
Dirk Feistel zeigt mir einen Plan, auf dem zu sehen ist, dass die eine Hälfte des Areals komplett neu bebaut wird – wie, das kann man auf dem Baustellenschild sehen. Der Rest des denkmalgeschützten Altbereichs bleibt erhalten und wird mit Fördermitteln saniert, wobei gewährleistet ist, dass die hier lebenden und arbeitenden Menschen bleiben können. Aktuell ginge es darum, langfristig zu gewährleisten, dass die Wiesenburg auch in Zukunft als kultureller und sozialer Ort genutzt werden kann. Ihm sei klar, sagt er, dass hier etwas passieren müsse, aber die Frage sei, wie und mit welchen Konsequenzen. „Unser Ansatz ist, das Gelände und die jetzige Mieter*innenstruktur zu erhalten. Wir wollen dabei aber nicht nur an uns denken, sondern auch an künftige Künstler*innen. Wie können wir diese besondere Mischung, die wir hier haben, auch für die Zukunft bewahren? Wir würden gerne mit einer Genossenschaft zusammen arbeiten, und stehen da aktuell in Verhandlung, aber die Pläne sind noch nicht druckreif“, sagt er.
Gefragt nach der Vision der Wiesenburg, antwortet er aber ohne lange zu zögern: „Es ist eine ganz einfache: was zu tun für ein besseres Miteinander auf Grundlage und in Tradition dieser Geschichte. Etwas zu erschaffen und einen Raum dafür zu geben – selbstorganisiert, eigenverantwortlich und gemeinschaftlich.“ Er fügt dieser Vision ein Zitat aus den Gründungszeiten der Wiesenburg hinzu: „Die Wiesenburg soll so lange steh’n, bis dass die Welt mag untergeh’n“ Jawoll!