Nicole Opitz

In eurer Zukunft ist das Realität. Ein Besuch beim postmigrantischen „Theater X“.

10.03.2020
Festiwalla Camp 2019, Foto: Fabrizio Dal Vera

Das postmigrantische Jugendtheater „Theater X“ in Moabit feiert seinen 10. Geburtstag. Was plant das Theater für die Zukunft? „Es gibt viele Probleme, aber wir wollen ungemütlich bleiben“, sagt der Künstlerische Leiter Ahmed Shah. Von Nicole Opitz

Eine Jugendliche zieht ein graues Jackett über, auf dem Rücken eine Haiflosse. Sie guckt über ihre braunen Haare auf ihren Rücken, sieht die Haiflosse und lässt die Schultern hängen: Das ist nicht das Richtige. Um sie herum steht eine Kleiderstange mit einem grünglitzernden Oberteil und bunten Hippiekleid, in einem Regal stehen Farbdosen. Elf Jugendliche laufen durch den Raum, alle sind auf der Suche nach dem richtigen Kostüm.

Die Jugendlichen sind Teil des Theaterensembles „NeXt Generation“ und suchen in Zweier- und Dreier-Teams die richtige Kleidung für ihre Improvisationsübung: Wie zieht man sich an für eine Szene aus der Zukunft? Wenn es keinen Sexismus mehr gibt? Das Ensemble beschäftigt sich in ihren Stücken mit dem Thema Gender; mit Hilfe der Improvisation sucht sich das Ensemble Szenen, die sie in ihr nächstes Stück aufnehmen wollen.

Das Ensemble „Next Generation“ ist Teil des Theater X, das Geschichten erzählen will, die es nicht auf die staatlichen Bühnen schaffen. Der künstlerische Leiter Ahmed Shah sagt: „Das X im Theater X steht für das Unbekannte. Wir erzählen Geschichten, die es eigentlich nicht gibt, weil sie in der Mehrheitsgesellschaft nicht auftauchen.“ Und das hat Erfolg: Seit 10 Jahren gibt es das Theater schon.

Bevor die Jugendlichen von „NeXt Generation“ auf der Suche nach dem perfekten Kostüm sind, sitzen sie im Kreis. Die Theaterpädagogin Annika Füser beugt sich über eine orangene Karte, auf die sie gerade „gegen Regime“ schreiben will, als sie kurz innehält: „Weiß jeder, was Regime heißt?“ Eine Jugendliche, die im Schneidersitz sitzt, weiß: „Auf jeden Fall was mit Herrschaft!“ Eine Diskussion entfacht, schließlich holt jemand sein Handy hervor und liest den Eintrag „Regime“ aus Wikipedia vor. Füser schreibt: „Gegen Asyl- und Grenzgesetze.“

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Foto: Veronica Schiavo

In der Zukunft werden auch Männer schwanger

Auf den orangenen Karten stehen Probleme: „Elite“, „Benzinpreise“, „gegen Diktatoren“. Dazwischen liegen auf blauen Karten beschriebene Utopien: „Wir lernen uns alle bei Sexpartys kennen“, „Zuckerfest wird bundesweiter Feiertag“ und „Schule fängt erst ab zwölf an“. Nachdem sie fertig sind mit schreiben, nimmt sich jede*r eine Karte. Die Aufgabe für die Szene: In unserer Zukunft ist das Realität!

Neben „NeXt Generation“, deren gerade entstehendes Stück „Apokalypse Yesterday“ im April Premiere feiert, gibt es noch weitere Ensembles im Theater X wie den Club al Hakawati, in dem Geflüchtete Solidarität gegen Rassismus und Ungerechtigkeit schaffen. Sie führen im April ihre Premiere von „Destination Unknown“ auf, die Fortsetzung eines lebendigen Museums ohne Kolonialismus.

Bei der Probe von „NeXt Generation“ haben alle ihre Kostüme gefunden. Die Jugendliche, die gerade noch eine Haiflosse auf dem Rücken trug, trägt nun ein schlichtes Jackett. Mit der Hand fährt sie sich nach jedem Satz über den angeklebten Schnurrbart, neben ihr läuft eine verkleidete Kapitänin: „Wir können rumlaufen, wie wir wollen“, sagt sie. „Niemand spricht uns wegen unserer Klamotten an.“ Sie laufen auf die sieben Publikumsreihen zu, entfernen sich wieder und sprechen ihre Utopie laut aus: „Sexismus gibt es nicht.“

Eine andere Genderfrage wird verhandelt, als ein Jugendlicher auf der Bühne liegt, zwischen seinem Hemd und dem Bauch ist ein Kissen gequetscht, er streichelt es: „Fühlst du das?“ – „Oh, es hat gekickt!“, sagt die Jugendliche neben ihm. „Oh, noch ein Kick. Hast du etwa die Pille genommen, die zwei Babys macht?“ – „Das muss wohl ein Versehen sein, aber vielleicht können wir ja noch zwei Babys mehr bekommen, damit jeder eins hat.“ In ihrer Zukunft leben sie in einer Beziehung, in der vier Erwachsene zusammenleben. Vier Erwachsene, vier Babys. „Falls wir uns trennen, wird es dann nicht so schwierig.“ In der Zukunft ist Care-Arbeit gerecht aufgeteilt.

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Foto: Rhea Schmitt

„Wir verstehen die Welt nur, wenn wir die Probleme von Jugendlichen verstehen“

Wenn der künstlerische Leiter Ahmed Shah spricht, redet er viel über die Jugendlichen. Probleme? „Davon gibt es viele. Vor allem bei den Jugendlichen. Da müssen wir anfangen“, sagt Shah, der beim Reden so energisch spricht, dass er Teetassen umschmeißt und sich auch mal den eigenen Hut vom Kopf haut. Er ist voll konzentriert im Thema, alles andere scheint im Weg zu sein. „Wir verstehen die Welt nur, wenn wir die Probleme von Jugendlichen verstehen.“ Andere Probleme kämen hinzu: Die prekäre Finanzierung des Theaters und die politische Situation generell. „Zum Beispiel jetzt in Thüringen, das ist doch Mist. Dazu fragt uns niemand. Aber wir nehmen uns den Raum, wir sagen unsere Meinung.“

Dazu gehört auch Humor: Das Ensemble „SKET“ (Schnelle Kulturelle Eingreiftruppe) bringt alle drei Monate Politik auf die Bühne, mit der sie sich kabarettistisch auseinandersetzt. Das vierte Ensemble des Theaters ist „Kompanie X“, die sich vermehrt mit Kolonialismus befassen. Das Ensemble besteht vor allem aus Schauspielenden, die schon länger dabei sind.

Und was bringt die Zukunft? Der künstlerische Leiter Ahmed Shah nimmt die Probleme der Jugendlichen sehr ernst und möchte, dass sie im Theater Raum haben, um mit Sozialarbeiter*innen zu sprechen.

Neben den vier Theaterensembles gibt es jetzt schon ein Rapper*innen-Kollektiv und ein Film-Ensemble. Das reicht Shah nicht. „Wir wollen mehr rein in den Kiez, mehr rein in die Zivilgesellschaft“, sagt er. Den Samstag will das Theater X nutzen, um interaktiv Theater zu machen. Leute einbeziehen, die bislang Hemmungen mit Performance hatten. „Und freitags soll der Chill-Tag werden. Keine Proben. Jede*r kann bei uns vorbeikommen und chillen.“

Spricht Shah von der Zukunft, nimmt er immer wieder Zeigefinger und Daumen zusammen und spannt einen Bogen vor sich, er zeigt die Verbindung zur Vergangenheit: „Guckt man in die 1920er Jahre zurück, sieht man dort nicht nur die goldenen Zwanziger. Es gab auch die braunen Zwanziger. Und die roten.“ Von letzteren wolle man lernen. Shah spricht von Walter Benjamin und Kurt Tucholsky. „Es gibt viele Probleme, aber wir wollen ungemütlich bleiben. So wie Malcolm X, so wie Rosa Luxemburg.“

THEATER X

Wiclefstraße 32
10551 Berlin

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