Marina Naprushkina

Marina Naprushkina, geboren in Minsk/Belarus lebt und arbeitet in Berlin. Sie ist Künstlerin, hat an der Frankfurter Städelschule studiert, unterrichtet an der Weissensee Kunsthochschule/Berlin und stellt international aus. Sie hat verschiedene Initiativen gegründet, wie die Neue Nachbarschaft/Moabit, Refugees Library, oder das Büro für Antipropaganda. Aktuell leitet sie "institutions extended" für den Fachbereich Kunst und Kultur in Mitte.

An der Wand hängt das, womit ich unzufrieden bin.

21.04.2020
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Die Künstlerin Marina Naprushkina und die Kunst- und Filmwissenschaftlerin Ekaterina Tewes im Gespräch mit dem Künstler Yuri Leiderman. Aus der Reihe „Lebt und arbeitet in Berlin“ des Programms institutions extended.

Marina Naprushkina (MN): Eigentlich sind wir zu dir gekommen, um über Kunst und deinen Weg als Künstler zu sprechen, jetzt sehe ich hier lauter Vitrinen mit Mineralien. Was fasziniert dich daran, ist das dein Hobby?

Yuri Leiderman (YL): Ich habe schon als Kind damit angefangen. Ich träumte davon, Geologe oder Mineraloge zu werden.
Als junger Mensch sah ich keine Chance, Künstler werden zu können, weil ich das akademische Malen nie gelernt hatte. Aber ich war immer süchtig nach Malerei. Die Farboberfläche, die Haptik sind mir sehr wichtig. Daher kam auch meine Begeisterung für Mineralien. Meine Eltern konnten den wirklichen Grund dafür nicht erkennen. Sie verstanden nicht, dass das, was mir gefällt, nicht die Mineralien selbst sind. Wir waren eine einfache jüdische Familie. Es galt, dass man im Leben mit beiden Beinen fest auf der Erde stehen sollte. Keiner in unserer Familie war je Künstler. Also wurde ich zunächst Chemiker.

MN: Vom Chemiker zum international ausstellenden Künstler?

YL: Man darf die Kunst nicht als Karriere verstehen. Ich möchte immer an dem arbeiten, was mich gerade interessiert. Und ich habe auch schon in einer anderen Zeit gelebt; ich bin gegen Misserfolge immunisiert. Wenn ich am Verzweifeln oder finanziell am Limit bin, erinnere ich mich daran, wie ich meine Zukunft  Anfang der 1980er Jahre plante. Mein Traum war, das Chemiestudium abzuschließen, der darauf folgenden Arbeitsplatzzuweisung zu entkommen und einen lockeren Job zu finden. Zum Beispiel als Aufzugswärter mit 110 Rubel Gehalt. Dann hätte mir als Aufzugswärter ein Kabuff zur Verfügung gestanden, in dem ich meine Kunst hätte machen können. Und weder die Miliz noch der KGB hätten mich des Schmarotzertums bezichtigen können. Das war mein Anspruchsniveau. Verglichen damit, habe ich  heute etwas zu meckern?

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Ekaterina Tewes (ET): Du bist ja hauptsächlich als Konzeptkünstler bekannt. Du gehörtest  zum Kreis der Moskauer Konzeptualisten. Heute malst du viel. Stellst du deine Malerei aus?

YL: Leider nicht so oft, wie ich mir das wünschte. Kurator*innen und Sammler*innen, die zu mir ins Atelier kommen, fragen meist nach früheren Arbeiten aus der Zeit der „Medizinischen Hermeneutik“.

MN: Du hast an wichtigen Ausstellungen teilgenommen, der Manifesta und der Biennale in Venedig. Wenn man mal die große Bühne betreten hat, fällt es dann schwer, wenn man nicht mehr im Fokus der Kurator*innen steht?

ET: Das ist ja so eine grundsätzliche Frage: Was wertet man als Erfolg? Wohin will man eigentlich?

YL: Ja, das sind alles tatsächlich wichtige Fragen. Kurator*innen und Sammler*innen denken oft in Kategorien und versuchen natürlich auch, die Arbeit von Künstler*innen zu kategorisieren. Ich habe eine Fähigkeit, „dazwischen“ zu sein. Ich bin weder russischer noch ukrainischer Künstler. Weder ein Konzeptkünstler noch kein Konzeptkünstler.

ET: Meinst du, dass eine solche Position „dazwischen“ ein Antrieb für die künstlerische Entwicklung sein kann?

YL: Ein Antrieb, aber keine Garantie. Häufiger beobachtet man, dass jene Menschen erfolgreich sind, die eine wiedererkennbare Handschrift gefunden haben und diese verfolgen. Dennoch ist diese Position „dazwischen“, wie ich kürzlich verstanden habe, genau das, was mich auszeichnet. Außerdem sehe ich Kontinuität darin, was ich mache. Aber wer kann das mitverfolgen – durch eine ganze Reihe von konzeptuellen Arbeiten, Performances, Filmen und Texten? Wer kann diese Menge an Information bewältigen? Mein Galerist sagt: „Yura, du bist wieder wie ein junger Künstler.“

MN: Weil du dich immer weiterentwickelst.

YL: Sicher. Aber die Kurator*innen, Sammler*innen und Galerist*innen müssen Dutzende von Künstler*innen im Blick behalten. Wer von ihnen hat schon Zeit, all die Bücher zu lesen und all die Videos zu sichten? Wir alle sind von der Informationsflut hoffnungslos überwältigt. Wir müssen damit leben. Sich darüber zu echauffieren, wäre sinnlos.

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MN: Wenn man anschaut, was bei dir hier so an der Wand hängt, sieht es so aus, als ob du gleichzeitig an vielen Arbeiten dran wärst.

YL: Ich habe eine Methode: An der Wand hängt das, womit ich unzufrieden bin, was ich noch ausarbeiten muss. Ich schau sie mir lange an, probiere aus, solange, bis ich damit zufrieden bin. Dann nehme ich sie runter.

MN: Man will als Künstler*in das zeigen, woran man gerade arbeitet. Ausstellen ist auch wichtig, um die eigene Arbeit mit anderen Augen zu sehen, einen Abstand dazu zu bekommen.

YL: Richtig. Und im eigenem Atelier ist es unmöglich diesen Punkt zu erreichen.

ET: Gehst du selber oft in die Ausstellungen?

YL: Ich muss meine Zeit einteilen. Ich male. Ich mag Wein. Ich schreibe. Im Moment zum Beispiel schreibe ich einen Essay über die Künstlerin Helen Frankenthaler. Ich muss alle verfügbaren Quellen dazu lesen, damit ich das Gefühl bekomme, dass ich eine Übersicht über das Thema erarbeitet habe. Das nimmt sehr viel Zeit in Anspruch. Und dann möchte ich noch einfach zum Vergnügen lesen. Oder Fußball kucken. Oder meine Freunde treffen. 99% davon, was ich in den Ausstellungen sehen könnte, kenne ich im Prinzip schon. Daher gehe ich nur in die Ausstellungen, von denen ich erwarte, dass ich ihnen etwas abgewinnen kann.

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MN: Klaust du oft bei anderen Künstler*innen?

YL: Ich schaue mir immer etwas ab, ich klaue immer! Ständig!

MN: In welchem Verhältnis zueinander stehen deine Texte, Bücher und deine Malerei? Sind das unterschiedliche Tätigkeitsfelder? Oder machst du da keinen Unterschied.

YL: Nein, das sind zwei unterschiedliche Prozesse. Aus der Gegenüberstellung von beiden lässt sich besser erkennen, was ich in der Kunst machen will. Alle Moskauer Konzeptualisten haben Texte geschrieben. Auch wir, die Gruppe „Medizinische Hermeneutik“. Aber all diese Texte waren Interpretationen, die Stützen für die künstlerischen Arbeiten. Während die künstlerischen Arbeiten ihrerseits die Stützen für die Texte waren. Zu einem bestimmten Zeitpunkt habe ich mich entschieden, Text und Bild auseinander zu führen. Das Bild als Bild zu behandeln, die Performance als Performance, den Text als Text.

MN: Dein jüngstes Buch hast du als „Moabiter Chroniken“ betitelt. Warum?

YL: Ich wohne und arbeite hier in Moabit seit vielen Jahren. Das ist mein Bezugspunkt. Hier gibt es ja das Gefängnis, in dem u.a. Musa Jalil saß, ein tatarischer Dichter und Widerstandskämpfer, der hier 1944 hingerichtet wurde. Er hat während der Haft einen poetischen Zyklus geschrieben mit dem Titel „Moabiter Hefte“.

ET: Dieses Buch, ähnlich wie viele andere Texte von dir, besteht aus Fragmenten. Ist das Prinzip der Fragmentiertheit wichtig für dich?

YL: Die Fragmentiertheit interessiert mich in der Tat. Oder eher, ich kann es mir überhaupt nicht vorstellen, anders zu schreiben. Wie schaffte es Lew Tolstoi zum Beispiel, einen langen Roman Tag für Tag zu schreiben, die Protoganist*innen Tag für Tag zu entwickeln? Ebenso wenig nachvollziehbar ist für mich, wie jemand im Stande sein kann, an einem Bild ein halbes Jahr lang zu malen. Ich kann auf dasselbe Bild einhundert Mal zurückkommen, es können Jahre vergehen, aber es wird immer Unterbrechungen geben. Zwischen den Fragmenten gibt es auch immer einen Spalt. Das heißt, nicht nur die Fragmente funktionieren im Text, sondern auch die Auslassungen, die Leerstellen zwischen ihnen.

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MN: Denkst du an das Publikum beim Malen oder Schreiben?

YL: Während des Schreibens ist es schlicht unmöglich, über die Leser*innen nachzudenken. Später aber, wenn ich den Text redigiere, stelle ich mir sehr wohl jemanden vor, der meinen Text liest.
Das ist allerdings keine konkrete Person sondern quasi eine außenstehende Instanz. Und ich frage mich, ist es wirklich gut, ist es wirklich interessant?

MN: Und bei der Malerei?

YL: Das klingt fast mystisch. Diese „Instanz“ ist wie das Auge der Welt. Ich schaue durch dieses Auge und es lässt sich nicht täuschen! Ich mag diesen Gedanken. Die Malerei lügt nicht.
Den Praktiken des Moskauer Konzeptualismus war fast eine „sektenähnliche“ Verschlossenheit eigen: Du konntest diese Kunst per se nicht verstehen, wenn du nicht über das nötige Wissen verfügt hast, wenn du nicht eingeweiht warst. Die Kunst, die ich heute mache, bedeutet dagegen eine vollkommene Offenheit.

MN: Also, du gehst davon aus, es gibt „richtige“ Kunst?

YL: Ja! Obwohl das so furchtbar klingt. Aber wenn ich im „Flow“ bin, scheint mir, dass ich einfach eine Linie ziehen oder einen Punkt setzen kann, denen Leid und Schmerz der Welt inbegriffen sind. Ich denke auch, dass abstrakte Malerei die Gräuel des Krieges viel unmittelbarer und wahrer ausdrücken kann als all die dokumentarischen Fotografien oder Berichte. So geht es mir zumindest, wenn ich Robert Motherwells „Elegy to the Spanish Republic“ sehe. Deshalb zitiere ich gerne Motherwells Maxime: „Der Prozess der Malerei ist eine Serie ästhetischer Entscheidungen bezüglich der Ethik“. Danach richte ich mich.

MN und ET: Das ist gerade die Frage, die wir dir in Bezug auf deine eigenen Arbeiten stellen wollten; Das Verhältnis zwischen Ethik und Ästhetik. Besonders weil für dich das Thema des Krieges in der Ukraine von entscheidender Bedeutung ist.

YL: Der Majdan und der Krieg haben mein Leben und meine Vorstellung von der Ethik in der Kunst grundlegend verändert. Der Majdan erschloss für mich die Dimensionen von Wahrheit und Gemeinschaft. Wie pathetisch das auch immer klingen mag, der Majdan gab mir das Gefühl des Nicht-Alleinseins und der Gemeinschaft.

MN: Solche Geschehnisse verändern sehr viel.

YL: Natürlich. Aber auch in der Ukraine hat sich die Situation „normalisiert“. Es ist verständlich. Denn kein Mensch kann dauerhaft im Zustand der Revolution leben. Früher oder später kehrt eine Routine in das politische und alltägliche Leben ein. Aber immerhin in einer veränderten Form.

ET: In deinem Essay über Magnasco sprichst du über die Unmöglichkeit, den Moment des Aufruhrs hinauszuzögern. Du schreibst: „Wie schafft es einer, den Zorn der Welt zu erkennen und diese Erkenntnis nicht abebben zu lassen?!“ Was meinst du damit?

YL: Dass es das Wichtigste ist, Momente als „Ereignisse“ zu erleben.

MN: Die Kunst kennt keine Routine.

YL: Auf der Suche nach Wahrheit darf man jedenfalls nie zum Schluss kommen, dass man sie gefunden hat.

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