Marina Naprushkina (MN): Wir haben uns 2016 in Berlin in der *foundation Class der Weissensee Kunsthochschule kennengelernt. Du warst in der ersten Gruppe der *foundation Class. Ich und all die anderen, die dort angefangen haben zu unterrichten, waren sehr neugierig, wie es wird. Es war also auch ein Anfang für mich. Wie hast du es empfunden? Als du nach einem sehr langen Weg nach Deutschland dann endlich in Berlin warst, war das für dich eine klare Entscheidung: „Ich will weiter Kunst studieren“?
Batoul Sedawi(BS): Ich wollte schon immer Kunst machen. Das ist meine Entscheidung seit ich 15 bin.
Nadira Husain(NH): Was hast du in Syrien studiert?
BS: Ich habe in Damaskus Bildhauerei studiert. Ich musste aber im letzten Semester wegen des Krieges gehen, kurz vor dem Abschluss.
MN: Was ich von vielen gehört habe ist, dass in Syrien zwar viele Frauen Kunst studieren, es aber als Künstlerinnen nicht schaffen weiterzuarbeiten. Woran liegt das?
BS: So ist das leider. Kunst ist in Syrien oft nur ein Luxusprodukt für Reiche. Es ist oft Business. Man produziert das, was die Leute schön finden.
MN: Auftragsarbeit. An die Aufträge muss man kommen und Business ist wiederum männerdominiert. Wenn die Töchter in den Familien Kunst studieren wollen, lassen die Eltern das so einfach zu?
BS: Nicht alle Eltern unterstützen diesen Wunsch. Nur die, die offen sind. In den eher traditionellen Familien lassen viele ihre Töchter, obwohl sie begabt sind, eben nicht Kunst studieren. Da heißt es dann, an den Akademien gebe es Alkohol und Haschisch. Viele Studentinnen geraten dann in Konflikt mit ihren Familien, weil sie zu Hause natürlich nicht ehrlich erzählen können, wie es in der Akademie läuft. Für die Väter ist das zu viel. Also wird nicht die Wahrheit erzählt und manche trennen sich sogar völlig von ihren Familien, weil sie den Konflikt nicht durchstehen.
MN: Ist die Universität in Damaskus ein Ort der Emanzipation? Ein Ort der Freiheit?
BS: Nicht wirklich. Natürlich haben wir ein bisschen mehr Freiheiten dort, aber das Studium ist sehr akademisch. Wir dürfen in den Ateliers nicht lange arbeiten. Man bearbeitet Aufgaben – welche, entscheidet der Professor. Oft muss man Kopien anfertigen. Der Professor kommt dann und korrigiert selbst in die Arbeit rein.
MN: Unterrichten auch Frauen an der Akademie?
BS: Zu meiner Zeit gab es eine Dozentin, keine Professorin.
Batoul Sedawi (links) im Gespräch mit Raoua Allaoui (mitte) und Nadira Husain (rechts)
NH: Und sind die Professoren Künstler?
BS: Ja. Viele von ihnen haben in Russland oder in Frankreich studiert. Ich verstehe oft nicht, warum sie dann so konservativ in ihrer Kunst sind.
MN: In Russland ist das Kunststudium noch sehr akademisch. In Frankreich ist es natürlich anders. Obwohl auch dort meist weiße Männer unterrichten. Batoul, du hast jetzt drei Kunstakademien kennengelernt: eine in Damaskus und zwei in Berlin. Gibt es etwas, was du hier in Berlin aus deinem Studium in Damaskus vermisst?
BS: Eigentlich nicht. Als Frau war es an der Akademie in Damaskus nicht leicht für mich. Gleich im ersten Jahr habe ich gemerkt, dass die Professoren nett sind zu den Studentinnen, nicht aber zu den Studenten. Das heißt, sie wollen was von Frauen. Einmal habe ich ein kurzes Kleid getragen und dann kam der Professor und hat mich angefasst. Das war sehr unangenehm.
Raoua Allaoui (RA): Konntest du nichts dagegen tun, außer kein kurzes Kleid mehr zu tragen?
BS: Eigentlich kann man nichts dagegen machen. Außer man ist nicht nett, das heißt dann aber, man bekommt schlechtere Noten. Hier gibt es mehr Respekt für Frauen.
In Berlin im Studium habe ich viel mehr ausprobieren können. Ich habe Computerkurse besucht und in einer Stahlwerkstatt gearbeitet. Nur mit einem Material zu arbeiten, finde ich langweilig. Ich kann nicht besonders gut malen, aber nur mit Farben zu arbeiten, das konnte ich nicht. In Damaskus habe ich nur mit Ton gearbeitet. Kalligraphie hat mich interessiert. Ich habe sogar zwei Lernbücher aus dem Studium mitgenommen: Kalligraphie und Gießen.
Lehrbücher der Kunstakademie in Damaskus
NH: Hier in den mitteleuropäischen Akademien nimmt die europäische Moderne natürlich Raum ein. Wir schauen, was amerikanische Künstler*innen gemacht haben, und vielleicht noch ein bisschen, was in Russland passiert ist. Aber Modernismus zum Beispiel in Indien oder Südamerika kommt bei uns im Studium nicht vor. Habt ihr euch an der Akademie in Damaskus mit der Bewegung der arabischen Künstler der Moderne beschäftigt? Zum Beispiel mit der BagdadGroup, Künstler*innen aus dem Libanon?
MN: Als ich in Minsk studiert habe, hat die Kunstgeschichte in der Schulbibliothek mit dem Impressionismus aufgehört. In Moskau in den Bibliotheken gab es übrigens Bücher und Magazine über aktuelle Kunst im Westen. Kaum einer wusste das und deswegen wurden sie auch selten ausgeliehen. Yuri Leiderman erzählte mir, dass er von seinen Freunden aus dem Kreis der Moskauer Konzeptualisten die noch schwarz-weißen Flash-Art Ausgaben bekommen hat. Sein Großvater meinte, er solle sie verstecken, er hielt sie für Pornohefte. Gab es an der Akademie in Damaskus Bücher in der Bibliothek über zeitgenössische Kunst?
BS: Wir hatten Bücher, aber in fremden Sprachen. Ich fand es immer schade, dass ich sie nicht lesen konnte. Bilder haben schon auch gewirkt, aber ich wollte wissen, worüber die Texte sind.
NH: Die Kunstakademien hier in Westeuropa erwarten von ihren Studenten sehr selbständiges Arbeiten: Man muss eigene Themen finden, sich die Technik selbst beibringen, seine Zeit organisieren, seinen Job, seine Wohnung.
BS: In der *foundation Class hatte ich das Gefühl, sie wissen, was wir brauchen. Ich fing an, mehr zu verstehen und ich konnte allein entscheiden, wie ich es mache. Ich konnte mit den Unterrichtenden diskutieren, aber entschieden habe ich dann selbst. Von dem, was ich dort damals gelernt habe, fließt sehr viel in meine Arbeiten ein, die ich jetzt an der UdK [Universität der Künste] mache.
MN: Und dann kommt noch das Sprachproblem hinzu. Wir führen dieses Gespräch hier zu viert und jede von uns hat eine andere Muttersprache. Wenn ich unterrichte ist es immer so, dass man nicht weiß, ob der andere, die andere mich versteht. Ich habe das selbst erlebt als Studentin. Als ich nach Deutschland kam, konnte ich nur wenig deutsch, was heute für einen Studienplatz nicht reichen würde. Heute muss man schriftliche Zertifikate vorlegen, was viele ausschließt. Bei mangelnden Sprachkenntnissen entstehen dann Interpretationen im Kopf, vielleicht hat man Glück, manchmal wird es sogar besser. Ich kann inzwischen damit gut umgehen und sehe sogar darin viel Potenzial. Denn selbst wenn man die gleiche Sprache spricht, heißt das nicht immer, dass man einander versteht. Kommunikation kann man nicht nur auf Sprache reduzieren.
Batoul Sedawi: Spielplatz im Krieg, Mixed Media
RA: Ich merke, während wir hier sprechen und ich übersetze, dass es immer wieder „Black Boxes“ zwischen uns gibt. Und trotzdem reagieren wir aufeinander. Und wir versuchen ein Gespräch zu führen. Ihr anderen drei seid schon erprobt darin, über Kunst zu sprechen und die Sprachprobleme zu überwinden. Und für die Kunstproduktion ist es vielleicht sogar gut. Für mich als Übersetzerin ist das was anderes. Da kommt es schon sehr darauf an, dass die Information richtig ankommt.
MN: Wenn man mit Sprache arbeitet, wenn Sprache das Medium ist, muss man präziser sein. Aber selbst da, beim Übersetzen wird auch interpretiert. Batoul, wie ist das für dich, oder denkst du oft: „Ich hätte es gerne genau verstanden?“
BS: In der *foundation Class war das nicht problematisch, da war ein Gefühl zwischen uns, wir haben uns auf einander eingelassen. Aber an der UdK ist es anders. Mein Professor, Manfred Pernice, ist immer sehr nett zu mir. Er sagt „Gut, gut“. Aber am Ende sage ich ihm: „Ich brauche deine Meinung“. Nicht nur „gut“. Ich möchte es genau wissen. Die Professoren haben viel Erfahrung und ich möchte ihre Kritik hören. Und oft fühle ich mich nicht als Teil der Klasse. Bei jedem Klassentreffen sprechen wir über unsere Arbeiten miteinander. Und ich habe gemerkt: Keiner arbeitet mit politischen Themen. Das war für mich überraschend. Meine Arbeiten sind politisch – die Themen, die ich aussuche. Mein Professor unterstützt mich dabei sehr. Beim ersten Klassentreffen hat er mir sehr geholfen, meine Mappe den anderen vorzustellen.
Batoul Sedawi: Schüchternes Mädchen, Acryl auf Papier
MN: Es ist wirklich nicht klar, warum – wenn man möchte, dass an den Hochschulen politisch gearbeitet wird – so wenige Studierende, besonders Frauen aus der *foundation Class, ins reguläre Studium aufgenommen werden. Es ist so wichtig, dass diese Menschen einen Studienplatz bekommen, ihre Perspektive in die Studienräume, in die Klassen bringen. Das ist für die Hochschulen ein Muss, diese Leute ins Studium zu holen.
RA: Mit dir kommt etwas Neues rein in die Klasse. Für dich ist es nicht leicht: Du siehst, du bist anders als die anderen. Du bist nervös: Wir kommen nicht ins Gespräch, es gibt keinen Austausch. Was ist das? Bin ich falsch, sind sie richtig? Sind sie falsch, bin ich richtig?
BS (lacht): Ja. Das ist so. Und ich habe gemerkt, dass andere sehr lange über die Arbeiten der anderen diskutieren. Wenn ich meine Arbeit zeige, bekomme ich nur ein bis zwei Fragen und immer von den gleichen zwei Leuten.
MN: Und weißt du, warum das so ist?
BS: Ich bin nicht sicher, aber vielleicht weil ich andere Themen habe. Oder sie denken, dass es für mich zu schwierig ist, diese Fragen zu diskutieren und steigen daher gar nicht ein?
MN [zeigt auf eine Arbeit]: Ist das das Model deiner Diplomarbeit?
BS: Ich möchte zwei Räume bauen. Einen negativen und einen positiven Raum. Im negativen Raum wird ein Tisch stehen, mit einem Laptop und einem Brief. So einen Brief hat mein Mann auch bekommen. Mein Mann hat alles geschafft, die Sprache gelernt, er arbeitet schon lange. Und dann kommt dieser Brief, dass das Bundesamt die Asylentscheidung noch mal überprüft.
MN: Diesen Brief vom BAMF [Bundesamt für Migration und Flüchtlinge] bekommen jetzt ganz viele. Das macht wütend. Nie ist man gut genug für Deutschland. Und für den positiven Raum, da arbeitest du jetzt mit Frauen, was fragst du sie?
BS: Ich wollte sie erstmal erzählen lassen. Und ich habe sie nach einem Bild, nach einem Foto, gefragt. Es soll die Situation darstellen, in der sie etwas durchmachen, überwinden und danach stärker werden. Ich habe jetzt viel Material. Bilder, aber auch deren Geschichten. Zum Beispiel gibt es eine Frau, die den ganzen Weg nach Griechenland und dann nach Deutschland allein mit vier Kindern geschafft hat. Und dass ist toll, weil diese Frau früher nur zu Hause geblieben ist. Selbst zum Arzt hat sie der Mann begleitet. Kleidung einkaufen: zweimal im Jahr. Nach dem Ramadan-Fest. Sie hatte keinen Kontakt nach draußen, sie durfte nichts machen. Und jetzt hat sie den ganzen Weg geschafft, hat ihren Mann verlassen. Sie wünscht sich für ihre Kinder ein anderes Leben.
MN: Und was denkst du, warum Künstler*innen für die Gesellschaft wichtig sind?
Batoul Sedawi: My Way, 2016, Poster (Inkjetdruck)
NH: Diese Frage habe ich auch! Was erwartest du von Künstler*innen?
BS: Die Kunst hilft uns, uns zu befreien, unsere Meinung zu sagen. Ich habe es hier so erlebt. Ich erkläre das an einem Beispiel: Ich habe hier gesehen, wie Mädchen in der Holzwerkstatt arbeiten und Holz sägen. In meinem Land machen das Frauen nicht. Ich hatte am Anfang Angst, aber dann habe ich es auch gemacht. Jetzt gehe ich öfter dorthin und bearbeite Holz. Mein Mann glaubt mir das nicht. Vielleicht bin ich noch schüchtern, nicht so frei, aber mit meiner Arbeit kann ich mehr zeigen als mit Worten.
NH: Du und deine Freundinnen, ihr gebt auch Workshops. Ihr arbeitet mit anderen Frauen. Wie wichtig ist das für dich?
BS: Ich fühle, wir können alles machen! Wir brauchen keine Anweisungen. Vielleicht machen in meinem Land Frauen so etwas nicht. Aber wenn sie sehen, dass wir auch syrisch sind und das machen, denken sie, dass sie es auch machen können. Ich glaube, wir können es unseren Landesfrauen beibringen. Viele Männer aus meinem Land, besonders aus der Provinz, respektieren Frauen nicht. Sie sehen in ihnen nur jemanden zum Schlafen, Putzen und Kochen. Das sind die Aufgaben der Frau. Aber ich sehe, dass ich das ändern kann, dass sie Respekt bekommen, wenn ich zeige, was ich kann.
RA: Ja, es ist nicht nur der arabische Mann, der verliert, der weiße Mann verliert, die weiße Frau. Es ist viel im Umbruch.
NH: Das ist der positive Raum in deiner Installation!
Das Gespräch mit der Künstlerin führten Raoua Allaoui (freie Übersetzerin), Nadira Husain (Künstlerin und Dozentin) und Marina Naprushkina (Künstlerin) in ihrer Wohnung in Berlin im November 2019.