Heimo Lattner

Heimo Lattner ist freischaffender Künstler und Mitherausgeber der Verlagsreihe Berliner Hefte zu Geschichte und Gegenwart der Stadt. Er ist co-Autor und co-Herausgeber von u.a.: Die Mauerpark-AffäreWiedersehn in Tunix! – ein Handbuch zur Berliner ProjektekulturNever Mind the Nineties – eine Medienarchäologie und Neuverhandlungen von Kunst – Diskurse und Praktiken seit 1990 am Beispiel Berlin. Projekte und Ausstellungen u.a.: ICA London, PS1/MoMa New York, Wexner Center Columbus/Ohio, Sharjah Biennale, Belvedere Museum für zeitgenössische Kunst Wien, Steirischer Herbst Graz, Akademie der Künste und Hebbel am Ufer Berlin.

„Das Religionsding ist ein fucking Tabu“

30.05.2024
Szene aus den Proben zu Holzingers Inszenierung „Sancta“: Saioa Ruiz Alvares, Renée Copraij und Sara Lancerio. Foto: © Nicole Marianna Wytyczak
Szene aus den Proben zu Holzingers Inszenierung „Sancta“: Saioa Ruiz Alvares, Renée Copraij und Sara Lancerio. Foto: © Nicole Marianna Wytyczak

Während an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz „Ophelia Got Talent“ weiterhin für volle Ränge sorgt, beginnt Florentina Holzinger mit den Proben für ihren nächsten Wurf: „Sancta“. Aufbauend auf Paul Hindemiths Oper „Sancta Susanna“, begibt sie sich auf die Suche nach der Magie und den Wundern in der christlichen Mythologie und der möglichen Ekstase durch deren Transzendenz. Premiere ist am 30. Mai am Mecklenburgischen Staatstheater in Schwerin. Im November kommt „Sancta“ an die Volksbühne. Das Gespräch mit Florentina Holzinger und Heimo Lattner fand im Februar 2024 während einer Fahrt zum Berliner Flughafen statt. Die Bilder entstanden danach im Lauf der Probearbeiten.

HL: Die Legende der Sancta Susanna geht auf eine mündlich überlieferte Mariengeschichte aus dem dreizehnten Jahrhundert zurück. Eine Nonne hadert in einem Kloster mit ihrer körperlichen Lust, die sich, fatalerweise, an der Figur des gekreuzigten Jesus entlädt. Schon die Ankündigung der Premiere von Paul Hindemiths gleichnamiger Oper sorgte 1922 in Stuttgart, aus Furcht vor einem Skandal, für deren Absetzung.

FH: Was Hindemith dazu bewog, sich den Stoff herzunehmen, weiß ich nicht. Es ist auch gar nicht so klar, worauf er hinauswill. Jedenfalls wird in den Inszenierungen, die ich mir angesehen habe, die Geschichte nie explizit dargestellt. Es wird zwar erzählt, dass Nonnen in den Klostermauern zur Bestrafung ihrer Gelüste eingemauert sind und man sie vielleicht hört, aber es wird nie explizit. Auch der Moment, in dem Susanna zur Satana wird, bleibt vage. Es tritt am Schluss des Einakters der Nonnenorden auf und hält ihr die Kreuze vor und ruft: Satana, Satana! Aber man bekommt nicht mit, ob sie nicht auch alle von Susannas sexuellem Begehren erfasst werden, oder sich gegen sie stellen. Es ist wahrscheinlich von beidem etwas. Es gibt also einen gewissen Interpretationsspielraum. Sancta Susanna ist der dritte Teil einer abgefahrenen Trilogie, die Hindemith seinerzeit verfasst hat. Die anderen beiden Teile hören sich auch extrem skurril an. [1]

HL: Oskar Kokoschka hat für den ersten Teil, Mörder, Hoffnung der Frauen, das Libretto geschrieben. August Stramm, ein Expressionist, der für Sancta Susana die Vorlage lieferte, ist auch ein sonderbarer Typ: Postbeamter und Dichter, gefallen als Soldat im Ersten Weltkrieg. Er hat auch eine Dissertation zur Welteinheitspostwährung verfasst. Daneben hat er schlüpfrige Nonnenromane geschrieben. In seinem Gesang der Mainacht vermischen sich schon mehrere „Susannas“. Die erste kritische Auseinandersetzung mit dem Mythos lieferte aber bereits 1780 Diderot. FH: Genau, Die Nonne, im Original La Religieuse. Das Buch hab‘ ich im Rucksack.

Sänger*innen des Meckelenburgischen Staatstheater. Foto: © Nicole Marianna Wytyczak

HL: Diderot übt ganz klar Kritik an der katholischen Kirche und der Züchtigung des Körpers. Die Unterdrückung von Gefühlen und von Lüsten führt ja fast zwangsläufig in den Wahnsinn. Ein durchaus dankbares Motiv.

FH: Ich denke, Hindemith hat das auch so verstanden.

HL: Hindemith setzt gleich beim Wahnsinn an. Susanna fiebert in der Klosterkapelle vor sich hin, als ihre Ordensschwester Clementia zu ihr tritt und sagt: Du bist ja schon vollkommen entrückt, meine Liebe, ich mach mir Sorgen um dich. Du musst besser auf deinen Leib achten.

FH: Clementia erzählte ihr auch die Geschichte der polnischen Nonne Beata, deren Vorlage eine gewisse Barbara Urbryk lieferte. Was wir über sie wissen, ist, dass sie Nymphomanin war und dass sie deswegen eingemauert wurde. Ich lese gerade das Buch über diese Barbara Ubryk aka Beata. Eine Horrornovelle, aber es ist eine wahre Begebenheit, das hat wirklich so stattgefunden, die gab es wirklich.

HL: Das ist doch die, die auf den Altar hochgeklettert ist und mit diesem Holz-Jesus kopuliert hat.

FH: Das kann sein. Ich hoffe, dass das im Buch noch detailliert beschrieben wird, wie das genau war. Sie wurde jedenfalls bei Wasser und Brot eingekerkert und nach Jahren hat man sie rausgefischt und es kam zu einem Prozess gegen die Kirche. In dem Buch wird die Gerichtsverhandlung beschrieben, bei der sie sich geoutet hat. Was mich natürlich auch sehr interessieren würde ist, wie das genau geschah und in welchem Wortlaut. Sie wurde letztlich schuldig gesprochen für Nymphomanie als Form des Wahnsinns. Ich hab‘ mich mit einer Theologin unterhalten, die sich mit dem Exorzismus beschäftigt. Seit hunderten Jahren werden wahnsinnige Frauen von Exorzisten betreut und das sind sowieso immer Männer. Der Vatikan hat heute noch seinen eigenen Exorzisten.

HL: Sozusagen die „Ur-Susanna“ ist, der Legende nach, aus dem Klosterleben ausgebrochen, und in der Prostitution gelandet. Sie ist dann verzweifelt ins Kloster zurückgerannt, direkt in die Kapelle. Und dort geht sie ins Zwiegespräch mit einer Marienstatue: Es tut mir so leid, vergib mir usw. Und die Statue sagt: Alles wunderbar. Ich hab‘ hier in der Zwischenzeit deinen Platz eingenommen. Jetzt kannst ja du wieder übernehmen. So grausam das auch ist, die Geschichte hat etwas Erlösendes, so eine Liebe, eine Herzlichkeit und Geborgenheit. Die anderen Susannas springen in den Brunnen, werden eingemauert oder verstoßen.

FH: Alle sind auf ihre Art reuige Sünderinnen, aber die Hindemith-Susanna ist die einzig, die explizit darum bittet, eingemauert zu werden.

HL: Und der Konvent sagt nein, kommt nicht in Frage. Zur Strafe wirst du hier weiterleben. Fürchterlich.

FH: Hindemiths Sancta Susanna ist für uns auch nur ein Prolog, ein Sprungbrett in eine Messe, mit Kyrie, Gloria, Sanctus und Agnus Dei. Wir bedienen uns dafür unterschiedlichster Kompositionen, so Best-Offs christlicher Musik mit einem gewissen Pop-Faktor: Bach, Rachmaninow, Gounod, Bird, alles Arrangements für den Damenchor der Schweriner Oper. Die Frage ist, wieviel Bach das Publikum darin hören wird, wenn die Bässe fehlen.

HL: Ihr habt also einen richtigen Chor, der live singt?

FH: Ja. Hindemith ist große Besetzung, das sind 60 oder 70 Musiker*innen. Fettes Orchester!

HL: Die Bühnenhandlung ist überschaubar, allzu viel passiert da nicht. FH: Aber alles ist sehr magisch. Eine Spinne taucht hin und wieder auf, klettert vielleicht mal aufs Kreuz. Die Sühnekerze erlischt wie von Geisterhand und, natürlich sehr wichtig: der Lendenschurz des Jesus, den Susanna wegreißt. Aber in keiner Version bisher wird klar, was da eigentlich drunter ist. Die Theologin beschreibt das auch als einen höchst bedrohlichen Moment, weil eben niemand weiß, was unter dem Lendenschurz Christi ist. Das ist ein extrem entmännlichender Moment.

Annina Machaz. Foto: © Nicole Marianna Wytyczak

HL: Aber ganz klar scheint auch nicht zu sein, wer hier wen verführt. Ist es Jesus, der zu ihr sagt: Ich komm da jetzt runter und nimm mich bitte in die Arme – oder ob sie zu ihm hinaufsteigt.

FH: Der Monolog dazu ist auch sehr paradox, weil Susanna in diesem Moment viele Stimmen hört. Sancta wird sicher viel düsterer und gewalttätiger als Ophelia. Ich würde sagen, Sancta hat einen komplizierteren Unterhaltungswert.

HL: Aber auch Ophelia bringt sich am Ende um.

FH: Ja, sicher, sie bringt sich um, aber wir verpacken das in einer Talentshow, die nicht weniger grausam ist, aber eben unterhaltsamer. Ich denke, wenn wir den Stoff gut umsetzen, sollte das schon auch in einem Skandal enden. Wenn sich der katholische Frauenbund, wie damals vor der Premiere in Stuttgart, auf die Zehen getreten fühlt, ist das okay und sehr wahrheitsgetreu und authentisch. Es ist tatsächlich viel schwieriger, für Sancta Koproduzenten zu finden und das hat sicher mit dem Thema zu tun. Das Religionsding ist einfach ein fucking Tabu und Leute haben Angst, sich daran die Finger zu verbrennen.

Aber es geht gar nicht darum, die Katholiken vor den Kopf zu stoßen, was bringt mir das? Der Papst schaut sich ja auch The Life of Brian an und kann Gefallen daran finden. Es geht vielmehr um eine Kirchenparodie. Aber natürlich bewegen wir uns jetzt in einem sehr traditionellen Umfeld. In der Schweriner Oper sitzen eben auch viele Abonnent*innen, das ist nicht gerade das Volksbühne-Publikum. Blasphemie hin oder her, sie werden es wahrscheinlich arg finden, dass da nackte Frauen auf der Bühne sind. Wenn irgendein Trash-Blatt das zerreißt, oder sich Rechte darüber beschweren, dass Steuergeld blasphemische Pornographie supportet, von mir aus. Ist auch gute Promotion. Darüber mache ich mir aber keine Gedanken. Ich mache mir tatsächlich Gedanken über das Schweriner Opernpublikum.

HL: Nochmal zur Besetzung: Susanna und Clementia sind mit Opernsängerinnen besetzt. Gibt es noch andere Stimmen?

FH: Es gibt noch eine alte Magd, die gefühlt einen Satz singt. Der Schweriner Damenchor ist eine Institution am Haus. Es wurde mir mitgeteilt, dass, wenn sich die Sängerinnen in einem erregten Gemütszustand befinden, sich ihr Zwerchfell hebt, was darin resultiert, dass sie nicht mehr qualitativ hochwertig singen können. Und deshalb sollten wir vermeiden, in Momenten, wo ihr Zwerchfell hochrutschen könnte, sie auf der Bühne zu haben. Und damit meinen sie Selbstverletzung usw. Also, Aufregung gilt es unter allen Umständen zu vermeiden.

HL: Gibt es nur eine oder mehrere Susannas bei euch?

FH: Ich würde sagen, es gibt mehrere Spiegelungen. Aber natürlich muss musikalisch alles sehr hochwertig sein, darauf legt die Oper größten Wert. Das heißt, die Figuren müssen von Opernsängerinnen gesungen werden. Das sind natürlich nicht die Art Performerinnen, mit denen ich für gewöhnlich arbeite.

HL: Das Orchester sitzt ja zum Glück mit dem Rücken zur Bühne. FH: Ja, die Musiker*innen sind im Orchestergraben. Die sind ja auch Arbeiter und Arbeiterinnen, die spielen, was auf den Noten steht und was der Dirigent ihnen angibt. Es gibt in der Oper Strukturen und Terminologien, an denen nicht gerüttelt wird. Zum Beispiel, dass es ein Damenchor und kein Frauenchor ist. Obwohl Damenchor extrem nach 1950er-Jahre-Haarsalon klingt. Meinen Vorschlag, das zu ändern, fanden sie gar nicht komisch.

Nonnen mit Rollschuhen: Sara Lancerio und Netti Nüganen. Foto: © Nicole Marianna Wytyczak

HL: Wer macht das Bühnenbild?

FH: Nikola Knezevic. Für die Messe wird das eine Mischung aus Boulder-Halle und Skatepark. Wir mussten uns diesmal dem Opernapparat beugen, weil da die Werkstätten schon fast ein Jahr vor der Premiere mit der Arbeit anfangen. Das Bühnenbild ist also schon fertig, so eine Timeline hatten wir noch nie. Normalerweise entsteht unser Bühnenbild im Prozess. Es ist das erste Mal, dass das Bühnenbild vor der Show fertig ist, was auch zu absurden Situationen geführt hat. Die Skaterampe musste zum Beispiel geplant werden, noch bevor ich eine Ahnung davon hatte, welche Dimensionen einer solchen Rampe für uns eigentlich spielbar sind. Mir ist irgendwann klar geworden: Scheiße, wir haben sie viel zu hoch geplant! Wir haben dann überlegt, ob wir sie noch absägen können, was viel gekostet hätte. Also schmeißen wir uns da jetzt einfach runter. Besser zu hoch als zu klein.

HL: Und wer hängt am Kreuz?

FH: Die Idee der Kreuzigung beschäftigt uns gerade und wie sie umzusetzen sei.

HL: Ihr wollt die Kreuzigung zeigen?

FH: Ja, natürlich, die Kreuzigung muss stattfinden. Nägel durch die Hand und den Körper Christi ingestieren und solche Sachen, klar. Mich interessieren die christliche Liturgie und die Rituale der katholischen Kirche, natürlich auch die Wunder und die Magie der Bibel. Wir arbeiten überhaupt sehr viel mit Magie in dieser Show, um diese christlichen Transformationen wirklich stattfinden zu lassen. Um die simpelsten zu nennen: Wasser zu Wein, Wein zu Blut, das Brot als Körper, den man essen kann. Dieser Kannibalismus fasziniert uns.

Unterm Neon-Kreuz: Veronica Thompson, Luz De Luna Duran, Annina Machaz und Jasko Fide. Foto: © Nicole Marianna Wytyczak

HL: Und Weihrauch?

FH: Natürlich extrem viel Weihrauch. Wir haben auch einen überdimensionierten Weihrauchschwenker gebaut, in Anlehnung an den in Santiago de Compostela, der zu besonderen Anlässen geschwenkt wird. Unser Weihrauchschwenker erinnert auch an eine Abrissbirne. Abgesehen davon, haben wir noch eine zwei Tonnen schwere Kirchenglocke, mit menschlichem Klöppel dabei. Da hängt eine Performerin drin und Engel kommen von der Decke und bearbeiten die Glocke mit Werkzeugen.

Glocken im Weihrauch: Blathin Eckhardt, Otay Onii, Luz De Luna Duran und Xana Novais. Foto: © Nicole Marianna Wytyczak

HL: Und gibt es schon ein Ende für deine Susanna?

FH: Auch das steht noch nicht fest. Die Struktur jedenfalls besteht aus drei Teilen: Sancta Susanna, Exorzismus und Messe. Wobei nicht klar ist, wer genau exorziert wird, ob es Susanna ist oder das Publikum. Dieser Exorzismus findet jedenfalls statt, bevor wir in die Messe schreiten können und wird begleitet von elektronischer Musik. Dafür haben wir Musikerinnen aus dem Heavy-Metal-Bereich dabei, die für einen musikalischen Exorzismus sorgen werden. Der etwas abstraktere Fahrplan ist, dass das Publikum die Erfahrungen der Sancta Susanna teilt. Es geht darum, dass die Sinneswahrnehmungen verstärkt eingeschaltet werden und eine gewisse Geilheit im Raum entsteht und womöglich in einer Publikumsorgie endet. Aber ob unsere Opernabonnent*innen da mitmachen?

Heavy Metal in der Oper: Blathin Eckhardt, Otay onii, Luz De Luna Duran and Xana Novais. Foto: © Nicole Marianna Wytyczak

HL: Wie hältst du es mit der Kirche?

FH: Nur so viel Kirche, dass ich meinem Damenchor sagen kann, dass ich römisch-katholisch getauft bin. Aber ich bin nicht religiös aufgewachsen, meine Großeltern natürlich schon. Insofern würde ich sagen, dass ein gewisser religiöser Imprint vorhanden ist, auch weil ja Österreich vor Katholizismus trieft. Die Kirche hat in meinem Leben nie eine große Rolle gespielt, aber sie ist trotzdem Teil von mir, allein schon, weil im Klassenzimmer immer ein Kruzifix hing.

HL: Neben dem Bild vom Bundespräsidenten.

FH: Als unkommentierte Wahrheiten.

HL: Ich war vier Jahre auf einem katholischen Knabeninternat.

FH: Wirklich?

HL: Ja. Das wurde zwischenzeitlich abgerissen, weil die Kundschaft ausblieb.

FH: Und wie war das?

HL: Extrem scheiße. Die Gefühle und Sehnsüchte von Hochpubertierenden sind in so einem Laden mit extremer Peinlichkeit, Scham und Bestrafung belegt. Man kommt da als Individuum, wenn überhaupt, nur als ein in irgendeiner Weise straffällig Gewordener vor. In so einem Umfeld entwickelt man sehr schnell Überlebensstrategien. Die funktionieren über Mutproben. Wie zum Beispiel nachts in die Sakristei zu rennen und den Messwein auszutrinken. Das Gerücht, dass der Pfarrer heimlich säuft, spricht sich natürlich schnell rum. Rache! Als schlimmste Strafmaßnahme galt die Vorladung der Eltern. Dieser Entfremdungsversuch von der Familie war wirklich perfide. Als ich mit vierzehn sozusagen ins weltliche Milieu entlassen wurde, war ich jenseits jeglicher Kontrolle.

Aber zurück zu deiner Sancta. Wie lang wird der Abend?

FH: Das weiß ich noch nicht. Wir überlegen tatsächlich, diesmal eine Pause einzubauen. Anderseits hat eine Messe auch keine Pause. Was mich an einer Messe reizt, ist dieser fast postmoderne Ansatz: Alle essen und trinken gemeinsam, alle legen eine Art Geständnis ab, oder teilen ihr Leid und werfen Geld in die Kollekte. Damit kann man arbeiten. Und am Ende einer Messe werden die Menschen mit einer Mission rausgeschickt.

HL. Im Vorfeld hat jemand von einer feministischen Messe geschrieben.

FH: Eine feministische Messe macht eine Messe auch nicht besser oder schlechter. Aber wir wollen Spaß haben mit der Messe und das Maximum an Freiheit für uns herausholen. Das wird sicher hart, aber vielleicht kommen wir zu einem harten kathartischen Moment. Es geht darum, die Aufopferung, die im Agnus Dei drinsteckt, zu vergegenwärtigen. Wir werden uns für die Sünden unseres Publikums aufopfern.

HL: Ich finde, dass in den Besprechungen deiner Arbeit der Tanz viel zu kurz kommt.

FH: Seitdem wir im Theaterkontext gelandet sind, nennen es alle Theater, oder Performance. Aber als Tanzmacherin nimmt man mich nicht ganz ernst. Deswegen betone ich immer, dass ich Choreographin bin. Da komme ich her und damit identifiziere ich mich. Alles andere ist für mich eher nebensächlich oder sogar Alibi. Ein Text beschäftigt mich nicht so dezidiert wie der Körper.

Im Tanz passiert oft eine Konzentration auf die Oberflächlichkeit oder die Form. Ich respektiere das wirklich aufs Höchste, dass das jemand macht, aber bei uns geht es ja nun wirklich sehr stark um das Gegenteil. Deswegen wirft man mich so gerne in den Aktionistentopf. Auch nichts wirklich Neues.

HL. Die Wiener Aktionistin ist auch allzu naheliegend. Aber die Bildproduktion, die du anwirfst, ist schon sehr überwältigend, da sehe ich durchaus eine Verbindung zu Nitsch oder Brus. Ich kann die Lust am Theater aber nachvollziehen, alles zu nehmen und auszureizen, was das Theater technisch aufzufahren hat.

FH: Ja klar. Und ich habe das Glück, mit so einem guten Team zu arbeiten, wo jeder Lust hat, die Dinge beim Schopf zu packen und noch eins draufzusetzen, wo doch gerade immer die Rede von wirtschaftlicher Krise ist. Es fällt uns wirklich schwer, sich dem zu entziehen, wenn die Gewerke oder die Bürokratie ständig nein sagen. Aber der Schritt aus der freien Produktion in die Institution war schon extrem richtig.

HL: Wie viele Leute gehören denn zu deiner Bühnen-Family?

FH: Ich arbeite sehr eng mit Nikola Knezevic. Die technische Direktion ist auch ein sehr wichtiger Posten bei uns, weil das ein sehr komplexes Feld ist. Und natürlich habe ich ein Team an Leuten, die ich irgendwann angefangen habe, Dramaturgen zu nennen, damit wir sie in Förderungen einbeziehen können. In der Regel sind das Leute, mit denen ich studiert habe und aus meinem engeren Umfeld, denen ich blind vertraue. Menschen, die meine Arbeit seit zehn Jahren kennen und mitverfolgt haben und denen ich so etwas wie die End-Regie übergebe. Ihre Meinung ist mir extrem wichtig und dass sie am Ende der Proben kommen und draufschauen und ihren Senf dazugeben. Zu Hausdramaturgen haben ich aber ein kompliziertes Verhältnis. Die sind zwar total scharf drauf, mit mir zu arbeiten, aber für sie gibt’s bei uns keine Rolle. „Was genau wird da gesagt?“ und solche Sachen, das interessiert mich als Choreographin nicht.

HL: Nach welchen Kriterien besetzt du ein Stück? FH: Also grundsätzlich bin ich natürlich immer froh, mit Leuten zu arbeiten, mit denen ich schon Arbeitserfahrung habe. Auch weil das extrem talentierte Leute sind, die alle möglichen Sachen machen können und von denen ich einfach weiß, dass wir eine Begeisterung für ähnliche Dinge teilen. Ich hasse es auch, rechtfertigen zu müssen, warum Leute auf der Bühne nackt sein müssen und arbeite daher mit Leuten, die das für sich selber klarkriegen und diesbezüglich auch große Verantwortung übernehmen. Und Leute, die mir sagen, worauf sie Lust haben und worauf nicht. Zwischen uns besteht ein tiefes Vertrauensverhältnis und auch Respekt.

Für Sancta Susanna habe ich mich zu interessieren begonnen, weil ich wusste, dass es nicht nur für mich lustig sein wird, eine Nonne zu spielen, sondern dass das auch alle anderen aus der Truppe super finden. Und Nonnen auf einer Skateramp? Noch besser!

“Nonnen auf einer Skateramp? Noch besser!” Xana Novais, Fibi Eyewalker, und Sänger*innen des Mecklenburgischen Staatstheater. Foto: © Nicole Marianna Wytyczak

HL: Natürlich können auch nicht alle alles machen. Eine Ensemblespielerin kann höchstwahrscheinlich kein Schwert schlucken.

FH: Die Schwertschluckerin habe ich ursprünglich für Ophelia gecastet und sie ist jetzt wieder dabei. Sie wird zwar kein Schwert schlucken, aber dafür vielleicht ein Kreuz, wer weiß. Ich suche immer nach Leuten, die in diese jeweils spezifische Welt passen, natürlich diesmal Leute, die eine Beziehung zur Kirche haben. Es sind jetzt auch immer mehr immer fixer dabei. Natürlich hätte ich mir gewünscht, dass Diamanda Galas [2] mitspielt. Sie kommt ja von der Arie und hat sich mit dem Katholizismus beschäftigt. Aber ich glaube, sie ist einfach schon zu alt dafür. Es wäre interessant gewesen, jemanden dabei zu haben, der die Stimme derart in die Extreme treibt. Aber es wird bestimmt auch ohne sie sehr toll.

HL: Frau Holzinger, ihr Flieger wartet!


[1] Sancta Susanna ist der dritte von Hindemiths drei Opern-Einaktern des Jahres 1921. Zuvor waren bereits Mörder, Hoffnung der Frauen und Das Nusch-Nuschi aufgeführt worden.

[2] Diamanda Galas ist ein US-amerikanische Sängerin und Vokalartistin. Ihre Arbeit bewegt sich an der Schnittstelle von Performance, Schrei-Oper, Blues und Jazz. https://de.wikipedia.org/wiki/Diamanda_Gal%C3%A1s

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