Oktober 2021
In einem Post macht Semjon Semjon auf die Drohung der Berggruen Holding, der Galerie Semjon Contemporary zum Ende des Jahres zu kündigen, aufmerksam. Semjon Contemporary ist eine Galerie für zeitgenössische Kunst in der Schröderstraße in Mitte. Seit dem Jahr 2000 bespielt Künstler und Galerist Semjon Semjon diese Räume, zunächst für sein Projekt KioskShop und seit 2010 als Galerie. Nun droht das Aus.
An Politiker*innen, Journalist*innen und Bürger*innen wird ein Brief verfasst, indem die Beggruen Holding gebeten wird, die Kündigung der Gewerberäume rückgängig zu machen. „Sie entziehen damit dem Galeristen die wirtschaftlichen Grundlagen, gefährden seine Existenz und schädigen darüber hinaus die über 20 Künstler:innen, mit denen die Galerie enger zusammenarbeitet“, heißt es darin und weiter: „Semjon war als Künstler ein Pionier in der Schröderstraße und hat diese mit seinem KioskShop und seiner Galerie ab 2011 wesentlich mitgestaltet, so sehr, dass das Haus von Ihnen, Herr Berggruen, erworben wurde.“
Anfang Dezember 2021
Zu Besuch in der Galerie, in deren hell erleuchtete Räume man bereits durch die breiten Schaufenster hineinschauen kann. Im ersten Raum der Galerie hängen Werke unterschiedlicher Künstler*innen an den Wänden, präsentiert in einem einheitlichen Format und Rahmen. Es handelt sich um die Jubiläumsedition X x X, für die Semjon 29 Künstler*innen eingeladen hat. Er hat sie in einer Auflage von zehn Stück produziert und verkauft sie in einer eigens hergestellten Box. Das ausgeglichene Geschlechterverhältnis fällt ebenso auf wie die Internationalität der Kunstschaffenden und die Tatsache, dass sich mit Michael Kutschbach (Jahrgang 1975) und Ursula Sax (Jahrgang 1935) sowohl jüngere als auch ältere Positionen unter ihnen finden. Auch die Arbeitsweisen sind vielfältig: es gibt Zeichnungen, Collagen, Fotografien und Malerei. Ich frage Semjon, wie die Auswahl der Künstler*innen der Galerie zu Stande kommt, und er sagt, dass ihn Künstler*innen interessieren, die eine eigene Sprache gefunden hätten und eine gewisse Materialintelligenz besäßen. Künstlerisch würden sie einen Bogen schlagen von konstruktivistisch über konkret bis zu poetisch.
Auf dem Weg in die hinteren Räume werfe ich einen Blick in das kleine Büro, das vollgestellt ist mit Büchern, Kunstwerken und zwei Bildschirmen. Mein Blick fällt auf eine Zeichnung von einem gestrandeten Pottwal und ich erinnere mich an die riesige Installation The Cast Whale Project des israelischen Künstlers Gil Shachar in der St. Elisabethkirche in der Invalidenstraße im Frühsommer 2021, die Semjon organisiert hatte und die ein großer Publikumserfolg war. Semjon, das wird während des Erzählens über seine Aktivitäten schnell klar, nutzt nicht nur seine eigenen Galerieräume, sondern kooperiert mit anderen Institutionen, initiiert Ausstellungen und vertritt seine Künstler*innen auf Messen. Stolz reicht er mir eine Postkarte, auf der ein Glaskasten mit Skizzen- und Notizbüchern in einer Bibliothek abgebildet ist. Es handelt sich um die Installationsskulptur Bibliothek / Library von Li Silberberg in der Philologischen Bibliothek der Freien Universität zu Berlin, die Semjon begleitet hat. Wie umtriebig er ist, zeigt sich auch an den erhaltenen Förderungen: So konnte er die Edition X x X und seine neue Webseite durch die Neustart-Projektförderung für Galerien finanzieren.
Linkerhand geht es in das sogenannte Schaulager, einen kabinettartigen und verwinkelten Hinterraum, der mit Kunstwerken und Skulpturen in Regalen und an Wänden gefüllt ist. Auf einem Zeichenschrank liegen mehrere Bücher aus, unter ihnen zwei umfangreiche Kataloge von Ursula Sax, die Semjon herausgegeben hat. Ältere Künstler*innen wie Ursula Sax zu unterstützen, ist für Galerist*innen eher ungewöhnlich bzw. mit einem Risiko verbunden, dass Semjon dies trotzdem macht, spricht für sein Verständnis des Galeristen als Initiator und Spiritus Rector denn als Unternehmer.
Vom Schaulager gelangt man in den Gartensalon, der rechterhand auf den Hof hinausgeht und linkerhand in einen Flur übergeht, der sich bis zur Straße hin erstreckt. Der vorderste Raum ist mit weißen Regalen und Vitrinen gefüllt und erinnert an einen Kiosk. Das ist kein Zufall, denn Semjon hat hier von 2000 bis 2010 den KioskShop eingerichtet und betrieben. Er bestand aus wächsernen Produktskulpturen – Lebensmittel-Verpackungen, denen Semjon durch die Konservierung in Wachs zur Unsterblichkeit verholfen hat. Eine Brandt-Zwieback-Tüte befindet sich ebenso darunter wie Prinzenrollen, Lux-Seifen und Zeitungen. Parallel dazu hat Semjon andere Künstler*innen eingeladen, um in den Raum zu intervenieren, sodass dieser immer wieder sein Gesicht verändert hat. Als er 2010 die Galerie eröffnete, entschied er sich, den KioskShop hinter Wänden zu „verstecken“, um den Ausstellungsraum der Galerie zu vergrößern. Um klarzumachen, dass mit einer Kündigung auch diese ortsspezifische Arbeit zerstört werden würde, hat Semjon das „künstlerische Denkmal zur Wirtschaft- und Warenwelt“ wieder freigelegt. Man sieht dem Shop Semjons Faible für Pop-Art an, das ein wichtiger Motor war, nach dem Kunststudium nach New York zu gehen. Als Semjon von dieser Erfahrung spricht, wird die Energie spürbar, die ihn ausmacht: Die Bereitschaft, Wagnisse einzugehen, dabei zu scheitern und trotzdem weiterzumachen. Er erzählt: „Ich hatte einen Haufen Geld bekommen, unter der Bedingung, dass ich dort jemanden finde, der mir dieselbe Summe noch einmal stiftet. Aber das ist mir nicht gelungen. Dennoch war es eine gute Zeit.“
Beim Hinausgehen komme ich an einer Petitionsliste vorbei, die auf der Fensterbank liegt. Im Text heißt es über die Berggruen Holding: „Die zahlreichen entmieteten Atelierhäuser, die Bar Babette und das Café Moskau sind beredtes Zeugnis, wie die eigenen Interessen jenseits gesellschaftlich-kulturellen Augenmaßes durchgedrückt werden. Die Selbstbeschreibung auf ihrer eigenen Homepage erscheint gemessenen an der Realität grotesk: ‚Unser Ziel ist der Aufbau eines vielfältigen Immobilienportfolios, mit charaktervollen Bauten, als langfristige Vermögensanlage.‘“
Ich frage nach dem Stand der Dinge und Semjon erzählt von seinen bisherigen Versuchen, Kontakt mit der Holding aufzunehmen und Weggefährt*innen und Unterstützer*innen zu mobilisieren. Zwar sei er ein guter Kommunikator und kenne eine Menge Leute, doch schwankt sein Tenor immer wieder zwischen Ungläubigkeit, Aktionismus und Fatalismus, denn alle bisherigen Versuche, einen Kompromiss zu finden, seien gescheitert. Er ergänzt: in dieser Gegend vergleichsweise Räume zu finden, sei quasi unmöglich. Die Preise seien explodiert, ein Umzug sei nicht finanzierbar. Auf die Frage nach den nächsten geplanten Schritten sagt Semjon, dass er auf das letzte Mittel setzen wird, das ihm bleibt: er wird sich weigern, die Räume zu verlassen, auf die Gefahr hin, zwangsgeräumt zu werden.
Mitte Dezember 2021
Semjon schaltet eine Anzeige in der Monopol, die er direkt an Nicolas Berggruen richtet: „Dear Mr. Nicolas Berggruen. Will you protect – or destroy – Semjon Contemporary & Kiosk Shop Berlin? Sincerely Semjon H.N. Semjon“
Beiträge im rbb, Tagesspiegel und bei Monopol erscheinen, in denen von seiner misslichen Lage berichtet wird und Bezüge zum Buchladen Kisch & Co in der Oranienstraße und anderen Kultureinrichtungen gezogen werden, denen von der Beggruen Holding bereits gekündigt wurde.
Vier SPD-Mitglieder des Bundestages (Cansel Kiziltepe, Annika Klose, Kevin Kühnert und Michael Müller) verfassen einen offenen Brief an Herrn Bergguen und appellieren darin, die Kündigung der Geschäftsräume zu verhindern. Darin nehmen sie Bezug auf die besondere Beziehung der Familie Berggruen und der Stadt Berlin: „Ihre Familie zeichnet sich in Berlin, aber auch weltweit, durch ihr besonderes Engagement für die zeitgenössische und Kunst der klassischen Moderne aus. Mit dem Namen Ihres Vaters [der Galerist Heinz Berggruen, auf dessen Sammlung das Berggruen Museum in Charlottenburg basiert], mit Ihrem Namen gehen gerade im Kunst- und Kulturbetrieb hohe Erwartungen einher.“ Zur Sprache kommt in dem Brief auch die besondere Rolle, die kleine Galerien, Freiräume für Künstler*innen, dezentrale Kulturbetriebe und lokale Angebote spielen, da sie „neben den großen Museen und Sammlungen das Bild, das Selbstverständnis und die Lebensqualität von Berlin [prägen].“ Er endet mit der Aufforderung: „Wenn Sie sich dafür einsetzen, dass die Kündigung der Gewerberäume zurückgenommen wird, können Sie hier einen Beitrag leisten, damit die Stadt lebenswert und vielfältig bleibt.“
Anfang März 2022
In seinem Newsletter verkündet Semjon: „Das große Wunder ist geschehen, an das kaum jemand mehr hier in Berlin und anderenorts geglaubt hatte. Es ist mit der Nicolas Berggruen Holdings ein neuer Vertrag verhandelt worden, der bei gleichem (!) Mietzins bis zum 31. März 2027 gültig ist!“
Semjon Contemporary
Galerie für zeitgenössische Kunst
Schröderstr. 1
10115 Berlin
Öffnungszeiten
Dienstag – Samstag, 13 – 19 Uhr
Dr. Anna-Lena Wenzel ist Autorin und Künstlerin. Nach ihrem Studium der Angewandten Kulturwissenschaften in Lüneburg promovierte sie über „Grenzüberschreitungen in der Gegenwartskunst“. Sie betreibt das Online-Magazin 99 % Urban und den Radiosalon für Alltägliches und ist in unterschiedlichen kollektiven Zusammenhängen unterwegs.
www.alwenzel.de