Marina Naprushkina (MN): Du bist nach Berlin gekommen, um an deinem Buch zu arbeiten „ Die Revolution hat ein weibliches Gesicht. Der Fall Belarus“. Es ist vor ein paar Wochen beim Suhrkamp Verlag erschienen. Doch diese Reise nach Berlin war keine geplante, du musstest aus Belarus fliehen. Für deine Teilnahme an den friedlichen Demonstrationen im Herbst bist du letztes Jahr ins Gefängnis gekommen und, um eine erneute Verhaftung zu vermeiden, bist Du ausgereist. Wie kann man unter solchen Umständen an einem Buch arbeiten?
Olga Shparaga (OS): Ich habe tatsächlich gleich nach meiner Flucht im Oktober angefangen zu schreiben. Ich bin zunächst nach Vilnius (Litauen) ausgereist, als ich dann in Berlin ankam, war mein Manuskript schon in wesentlichen Teilen fertig. Wir haben dann noch viel an der Übersetzung aus dem Russischen gearbeitet.
MN: Du hast Philosophie in Belarus und Deutschland studiert und fühlst dich sehr wohl mit der deutschen Sprache.
OS: Teilweise habe ich die Fragen, die bei der Übersetzung aufgekommen sind, gleich auf Deutsch beantwortet. Und es wurde viel intern über bestimmte Definitionen und Inhalte diskutiert. Das abschließende und auch konzeptualisierende Kapitel im Buch wurde in Berlin geschrieben. Hier kam zum Beispiel die Frage auf, ob der Begriff der Nation eingeführt werden soll…
MN: Du beschreibst die Revolution in Belarus als eine postnationale Bewegung, die für die ganze europäische Gemeinschaft von Bedeutung ist. Und du sagst, dass heutzutage die Werkzeuge zur Bekämpfung von Autoritarismus nicht nur lokal gesucht werden können.
OS: Die Werkzeuge dazu müssen tatsächlich über die Grenzen von Belarus hinaus gesucht werden. Und wir haben sie noch nicht gefunden. Das liegt auch daran, dass wir immer noch im Rahmen des Nationalstaates denken. Die nationalen Gemeinschaften sind exklusiv, sind hierarchisch. Die nationalen Identitäten helfen nicht, dass wir einander unterstützen und Unterschiede überwinden.
MN: Es ist an der Zeit, außerhalb der nationalen kulturellen Identitäten zu denken, auch außerhalb einer Staatssprache. Das ist ja oft längst gelebte Realität, aber auf der staatlich-rechtlichen Seite greift es nicht. Auch, dass acht Millionen Menschen in Deutschland (in Berlin-Mitte sogar jede*r Dritte) aufgrund ihrer Herkunft nicht wählen dürfen, ist eine harte Tatsache. Können wir von Belarus etwas lernen?
OS: Während der Revolution und der Proteste war es dort nie wichtig, ob man Russisch oder Belarussisch spricht. Diese Revolution in Belarus ist eine utopische, es geht um die Visionen einer Zukunft. Die Menschen wollten in einer demokratischen Gegenwart und Zukunft leben. Die Protestierenden zeigten, dass sie sich eine Demokratie der Beteiligung wünschen. Sie haben auch gezeigt, dass sie sich solidarisieren können. Und man durfte untereinander unterschiedliche Sichten auf die Vergangenheit haben, die kulturelle Identität hat eben keine Rolle gespielt.
Was für die Nationalismen ebenso wichtig ist, ist eine Dämonisierung, besonders der benachbarten Staaten. Das hat es allerdings in Belarus auch nicht gegeben: die Leute haben sich mit den Protestierenden in Russland solidarisiert. Die Frauen haben die Proteste geprägt durch horizontale Beziehungen und Empathie.
MN: Es ist eine neue politische Sprache der Fürsorge und Empathie.
OS: Und darin haben sich die anderen „schwachen“ sozialen Gruppen erkannt. Rentner*innen, Menschen mit begrenzten Möglichkeiten haben sich organisiert und sich den Protesten angeschlossen. Die Frauen haben dieses Vorbild der „Schwäche“ geschaffen, der Schwäche, aus der eine ungeheure Kraft entstehen kann.
Diese Revolution hat alle Schichten der Gesellschaft umfasst, deswegen war es keine Revolution der mittleren Klasse in einem Nationalstaat, die historisch meist von einer männlichen Elite gesteuert wird. Die Frauen haben einen sehr starken Impuls gesetzt – sie haben vorgemacht, dass es das Wichtigste ist, sich zu solidarisieren und dass Vieles im Prozess gelernt werden kann. Damit ist das Bild der professionellen Politikerin in den Hintergrund getreten. Wir haben die Emanzipation einer Gesellschaft beobachtet. Diese Bewegung war ein inklusiver Prozess. Darüber haben die Studierenden sehr viel gesprochen und erklärt, warum sie sich den Protesten anschließen. Auch LGBTQI+ Communities haben teilgenommen, sie wurden eben nicht ausgeschlossen.
OS: Wichtig ist, ein neues politisches System zu etablieren, damit Autoritarismus sich nicht reproduziert. Die Reformierung der Institutionen wird lange Zeit in Anspruch nehmen. Die Machtvertikale muss fallen, es muss mehr Selbstorganisation und Initiativen geben. Und wenn wir über Reformen sprechen, dann ist es wichtig, dass die Diskussionen in der Gesellschaft moderiert und geleitet werden. Nur so werden die Reformen greifen. Mich interessiert die deliberative Praktik. Dabei können die Leute sich bilden, austauschen und dann eine Lösung gemeinsam erarbeiten.
MN: Was muss sich an den Bildungsinstitutionen ändern?
OS: Wir haben in der Arbeitsgruppe des Büros von Svetlana Tsichanovskaja drei Prinzipien formuliert: Debürokratisierung, Deideologisierung und Wiederkehr der Autonomie: Alle Beteiligten müssen mitreden können und an der Entscheidungsfindung teilnehmen. Studierende, Lehrer*innen, an den Schulen auch Eltern. An den staatlichen Institutionen in Belarus gab es kaum Orte der öffentlichen Diskussion und horizontalen Entscheidungsfindung. Die Menschen sind unerfahren und unsicher. Deswegen müssen gute Bedingungen, der Kontext geschaffen werden, in dem Menschen selber über ihre eigenen Bedürfnisse sprechen können und damit die anderen Perspektiven und Erfahrungen sichtbar werden. Und auch Mechanismen, wie Leute zusammenarbeiten und kollektive Entscheidungen treffen.
MN: Du bist in Berlin in das kulturelle Leben stark involviert, bist gleichzeitig weiterhin für Belarus aktiv. Du bist Teil vieler Arbeitsgruppen, der Femgruppe, der Gruppe, die an der bevorstehenden Reformierung des Bildungssystems arbeitet. Wie organisierst du deinen Arbeitstag hier in Berlin?
OS: Ich verteidige diese postnationale Identität vielleicht deswegen, weil ich selber so bin. Ich bin immer in Belarus geblieben, weil ich das Gefühl hatte, dass ich und mein Wissen dort sehr gefragt sind. Aber um dem gerecht werden zu können, habe ich immer Forschungsreisen unternommen und ich habe in anderen Ländern unterrichtet. Und ich interpretiere meinen jetzigen Aufenthalt hier als eine erzwungene Auslandsreise, die ich für mich nutzen möchte, um zu lernen. Es gibt jetzt viel Unterstützung und Austausch im akademischen Bereich und das möchte ich weiterentwickeln. Es gibt viele Diskussionen, zum Beispiel über die Frage der Nationalismen, oder es wird Hannah Arendts Nachlass diskutiert und überall gibt es jetzt Platz für Belarus. Es ist spannend aus unserer Perspektive auf diese Fragen zu schauen… Naja wie sieht mein Alltag aus? Soll ich über Joggen im Park am Nordbahnhof erzählen?
MN: Gerne!
OS: Ich jogge paarmal in der Woche, um die fünf Kilometer. Das mache ich, um Kraft für meine Arbeit zu generieren. Es gibt im Park am Nordbahnhof viele Leute, die nicht nur spazieren gehen, sondern auch Sport machen. Und ich habe schon meine Lieblingssorte in der Nachbarschaft. Ich mag die Gedenkstätte Berliner Mauer, wie hier die Geschichten der Stadt, der Menschen, des Widerstands erzählt werden, die Geschichte einer Stadt mit Trauma.
MN: Was verbindet dich mit Kunst, und warum ist Kunst für dich wichtig?
OS: Ich bin seit Jahren als Kunstkritikerin tätig, ich stand immer schon im Austausch mit Künstler*innen. In Belarus sind die Orte der zeitgenössischen Kunst als selbstorgansierte, unabhängige Orte entstanden. Das hat die Diskussion über soziale und politische Fragen dort möglich gemacht. In den Nullerjahren gab es viel Misstrauen der politischen Kunst gegenüber, die oft als Konjunkturkunst gesehen wurde. Das hat natürlich geschichtlich mit der sowjetischen Zeit zu tun, als der Staat Auftraggeber für Kunst war, einer Zeit, als Kunst im Auftrag des Staates entstand. Die politische Kunst, die eben den Staat herausfordert, die musste sich in der Kulturszene erstmal durchsetzen. Aber ich bin immer der Meinung gewesen, dass sozial- und politikkritische Kunst eine Avantgarde der Gesellschaft ist. Das ist ein großer Experimentierraum. Die Kunst kann eine visuelle, aber auch verbale Sprache schaffen, die es uns ermöglicht zum Beispiel die Situation in Belarus zu beschreiben.
MN: Und eine Vorstellung der Zukunft schafft.
OS: Das utopische Andere.
Olga Shparaga ist Philosophin und Professorin am European College of Liberal Arts in Belarus (ECLAB). Sie studierte Philosophie in Belarus und Deutschland. Von 2001 bis 2014 unterrichtete sie Philosophie an der European Humanities University in Vilnius. Von 2006 bis2014 war sie Redakteurin der intellektuellen Zeitschrift „Novaja Eŭropa“ („Neues Europa“). 2014 gründete sie in Minsk zusammen mit KollegInnen das European College of Liberal Arts in Belarus (ECLAB). Forschungsaufenthalte an den Universitäten und wissenschaftlichen Zentren von Tschechien, Polen, Litauen, Deutschland und USA.
Olga Shparaga ist Mitglied der feministischen Gruppe des Koordinationsrats in Belarus.
Ihr aktuelles Buch „Die Revolution hat ein weibliches Gesicht. Der Fall Belarus“ ist im Suhrkamp Verlag im Sommer 2021 erschienen.
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