Anna-Lena Wenzel

Dr. Anna-Lena Wenzel* ist Autorin und Künstlerin. Nach ihrem Studium der Angewandten Kulturwissenschaften in Lüneburg promovierte sie über „Grenzüberschreitungen in der Gegenwartskunst“. Sie betreibt das Online-Magazin 99 % Urban und den Radiosalon für Alltägliches und ist in unterschiedlichen kollektiven Zusammenhängen unterwegs.

Pionierin der Nachhaltigkeit   

14.12.2022
In der "Bibliothek der Dinge" kann man Werkzeuge und Gartengeräte ausleihen, Foto; ALW

Die Bibliothek Tiergarten-Süd in der Lützowstraße hat sich auf Nachhaltigkeit spezialisiert: Es gibt Fachliteratur zu den Themen Urbanes Gärtnern, Do-It-Yourself und Umwelt sowie ein erweitertes Leihangebot, das neben Saatgut auch Werkzeuge umfasst. In Kooperation mit den Gärtner*innen vom Gemeinschaftsgarten wachsenlassen sind zudem die Grünflächen neu gestaltet und viele Veranstaltungen durchgeführt worden. Mit Ende der Projektförderung steht nun eine Neujustierung an.

Dass die Stadtteilbibliothek in der Lützowstraße etwas anders tickt als andere Bibliotheken, kann man schon an den Außenanlagen erkennen. Erstens stehen mehrere Hochbeete herum, in denen noch einige vereinzelte Blumen blühen. Zweitens ist der Grünstreifen eine artenreiche Blumenwiese statt eine Rasenfläche, und wo sonst schnöde Büsche das Areal begrenzen, kann sich Spontanvegetation ausbreiten.

Antje Wenzel, seit etwas mehr als zwei Jahren zuständig für die Bibliothek Tiergarten-Süd, begrüßt mich Anfang Oktober am Eingang und führt mich durch die Räumlichkeiten der Bibliothek. Obwohl das EU-geförderte Projekt „Umwelt hautnah – Natur verstehen und erleben“ im März diesen Jahres zu Ende ging, sind dessen Spuren noch überall präsent. So kann man bereits von außen die „Bibliothek der Dinge“ erkennen, die Werkzeug und Gartengeräte wie Messerschleifer, Akku-Bohrschrauber und Spaten enthält. Wie die Bücher auch können sie für vier Wochen ausgeliehen werden. Ein Angebot, das viel genutzt wird, wie Wenzel erzählt.

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EIngangsbereich der „Umweltbibliothek“, Foto @ ALW
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Die spezialisierte Buchauswahl, Foto @ ALW

Als nächstes stehen wir vor der Saatgut-Bibliothek, die aus einem braunen Holzkasten mit Samentüten besteht. Die Idee: die Besucher*innen füllen sich etwas des samenfesten, regionalen Saatguts in eine Papiertüte und säen es zu Hause oder in ihrem Garten aus. Im Herbst ernten sie das Saatgut und bringen es zurück in die Bibliothek. Unter dem Holzkasten sind einige Anleitungen und Bücher zum Thema zu finden und doch ist mein erster Gedanke, dass es hierzu eine ausführliche Anleitung und Informationsveranstaltungen bräuchte. Wenzel nickt, das hätte es auch gegeben, nur hätte durch die Corona-Pandemie und das Auslaufen des Projektes alles etwas brach gelegen und müsste nun wieder angeschoben werden. Für das nächste Jahr seien aber bereits drei Veranstaltungen zum Thema Saatgut geplant.

Wie umfangreich das Veranstaltungsprogramm während der Projektlaufzeit war, lässt sich anhand der Foto-Dokumentation nachvollziehen, die an den Wänden hängt: Es gab regelmäßige Sprachlernangebote für Kinder, Pflanzenführungen vor der Bibliothek, Workshops zum Nisthilfenbauen für Bienen oder Anleitungen zum Advents- und Weihnachtskränze-Binden. Wenzel weist zudem auf weitere Veranstaltungen hin, die nach Projektende stattgefunden hätten, wie ein Spielzeugtausch-Nachmittag, ein Taschendruck- und ein Furushiki-Workshop, der Anregungen gibt, wie man Geschenke nachhaltig verpacken kann.

Viele Aktivitäten wurden mit Akteur*innen aus der Nachbarschaft durchgeführt, zum Beispiel mit Gabriele Koll vom Gemeinschaftsgarten wachsenlassen nebenan oder Mitarbeiter*innen der Allegro-Grundschule auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Doch das Pflegen dieser Kontakte wäre in letzter Zeit zu kurz gekommen, bedauert Wenzel, die als Leiterin bedingt durch die Corona-Pandemie keinen einfachen Start hatte. Es ist eine Zwickmühle: ist sie einerseits auf die Zusammenarbeit mit Partner*innen wie wachsenlassen oder den Jungen Tüftler*innen angewiesen, muss sie gleichzeitig mit begrenzten Ressourcen – sei es zeitlich oder finanziell – haushalten.

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Die Gartenanlagen in der Lützowstraße, Foto @ Anna-Lena Wenzel
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Als ich das Gebäude verlasse, begebe ich mich auf die Suche nach dem Garten in der unmittelbaren Nachbarschaft, den Wenzel zuvor erwähnte. Sie befinden sich auf dem großzügigen Grundstück des Jugendamtes gleich nebenan. Geht man auf die Villa Lützow, das Kiez-Zentrum, zu, befindet sich rechterhand ein Gartenhaus. Biegt man scharf rechts ab, kommt man direkt auf den Interkulturellen Garten zu. Hier blühen Rosen, Cosmea und Tagetes, wachsen Kohlrabi-Pflanzen, Mangold und Tomaten, während das Kartoffelbeet gerade abgeerntet wurde. Es ist ein richtiger Nutzgarten, der vornehmlich von Frauen aus der Nachbarschaft bewirtschaftet wird. Ganz anders mutet der Gemeinschaftsgarten wachsenlassen an, der sich am anderen Ende des Geländes parallel zur Straße befindet. Hier sieht es etwas verwildert aus, gibt es kaum abgesteckte Beete, und doch blühen auch hier die Herbstblüter. Es gibt einen Kräutergarten, ein Hochbeet mit Färberpflanzen und Wasserstellen für Vögel. Als ich durch den Garten laufe, bringt eine ehrenamtliche Mitarbeiterin einen Nistkasten für Vögel an, eine andere pflanzt eine Staude und streut am Ende Holzspäne drüber. Es ist Gabriele Koll, die den Gemeinschaftsgarten vor zwölf Jahren mitinitiiert hat. Sie erzählt, dass es sich um einen Permakulturgarten handelt, dessen vornehmliches Ziel es sei, die Artenvielfalt zu erhalten, statt möglichst viel Ertrag aus dem Boden zu ziehen. Das grundlegende Motto steht auf einem Schild am Eingang: „Begrenze Konsum und Wachstum, verteile Überschüsse.“

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Eingang zum Gemeinschaftsgarten wachsenlassen, Foto: ALW
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Die Leihsämerei in der Villa Lützow, Foto @ALW

Nach der Kooperation mit der Stadtteilbibliothek gefragt, holt sie etwas weiter aus. Sie berichtet, dass der Bibliothek 2013 die Schließung drohte und aus diesem Grund gemeinsam mit dem Amt für Weiterbildung und Kultur Berlin Mitte, Fachbereich Bibliotheken, ein neues Nutzungskonzept mit dem Schwerpunkt Nachhaltigkeit entwickelt wurde. Die Schließung konnte abgewendet und durch das Einwerben von EU-Geldern der neue Schwerpunkt aufgebaut werden. In Folge dessen wurden viele Pläne gemeinsam umgesetzt wie die Grünflächengestaltung vor der Bibliothek, die Leihsämerei oder Workshops. Aktuell jedoch würden beide Parteien eher getrennte Wege gehen.

Gabriele Koll bietet mir an, mir die Garten-Arbeitsräume in der Villa Lützow zu zeigen und gemeinsam laufen wir herüber. Im Garten-Arbeitsraum duftet es angenehm nach Kräutern– kein Wunder, denn an einer Leine sind allerlei Kräuter zum Trocknen aufgehängt und auf einem Gestell liegt Pfefferminze aus. In zahlreichen Tüten und Behältern wird Saatgut gesammelt; Arbeitsutensilien zeugen von der Gartenarbeit ebenso wie von Workshops mit Kindern. Seit Mitte des Jahres befindet sich im Flur in einem kleinen Raum der größere Teil der Leih-Sämerei, der zuvor in der Bibliothek untergebracht war. Sie besteht aus Saatgut zum Tauschen, einer kleinen Bibliothek und zahlreichen Fotos und Anleitungen. Gabriele Koll ist anzuhören, wie froh sie ist, diesen Raum in der Villa Lützow nutzen können. Trotzdem klingt sie ernüchtert. Es hört sich so an, als wenn sie und Antje Wenzel zwar dasselbe wollen, aber nicht mehr an einem Strang ziehen würden, dabei wäre es beiden Kooperationspartner*innen zu wünschen, dass sie sich im Interesse der Sache wieder annähern, um weiterhin Bibliotheksangebote mit konkretem Erfahrungs-Wissen zu verknüpfen und das vorhandene Netzwerk in die Nachbarschaft auszubauen.

Als ich zurück zur Stadtteilbibliothek gehe, komme ich an aufgehängten Bienen-Nistkästen vorbei und werfe einen Blick auf die Reste der insektenfreundlichen Staudenpflanzungen im Hochbeet. Mein Blick bleibt an einem der Infoschilder hängen. Im Text gibt es hilfreiche Informationen über Blühwiesen, Tipps für Gartenbesitzer*innen und Anleitungen für mehr Artenreichtum – und einen Satz, den ich bemerkenswert finde. Dort heißt es, dass die Art der Gestaltung, die hier erprobt wird, Toleranz fordert, weil sie sich von der herkömmlichen Grüngestaltung unterscheidet. Mit einem kleinen Satz wird dadurch angedeutet, wie vielschichtige das Vorhaben Nachhaltigkeit ist: sie geht nicht nur mit einer Änderung der Konsum- und Essgewohnheiten einher, sondern auch mit einem Umdenken auf ästhetischer Ebene. In den Angeboten der Bibliothek kann man zugleich das Umdenken üben und mit gutem Beispiel vorangehen.   

Stadtbibliothek Tiergarten Süd
Lützowstr. 27, 10785 Berlin
Öffnungszeiten: Mo – Fr: 12.30-18.00 Uhr

Öffnungszeiten der Leih-Sämerei im Kiez Zentrum in der Villa Lützow: Di-Do, 11.00 – 17.00 Uhr

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