Subversive Strategien der Performancekunst, die sich aus Drag, politischen Manifesten und engagierten Formen des körperlichen Widerstands ableiten, setzt die Choreografin und Künstlerin Ania Nowak ein, um mit den Rollen zu spielen, die wir einnehmen. Dabei arbeitet sie eng mit anderen Künstler*innen zusammen.
Maja Smoszna (MS): Wir führen dieses Gespräch, während du an deinem neuen Werk »Lip Service« mit Athena Lange arbeitest. Bitte erzähle uns mehr über deine gegenwärtige Forschung und den Kontext deiner neuen Arbeit.
Ania Nowak (AN): Der Kerngedanke dieses Prozesses ist es, uns gegenseitig kennenzulernen, indem wir sehen, wie wir kommunizieren. Wir wollen herausfinden, was passiert, wenn wir aufhören, auf unsere gewohnte Art und Weise, uns auszudrücken und uns verständlich zu machen, für selbstverständlich zu halten, und sehen, was sich hinter der Gewohnheit verbirgt. Ich beherrsche die Deutsche Gebärdensprache nicht, die derzeit Athenas primäres Kommunikationsmittel ist. Gleichzeitig ist mein gesprochenes Deutsch alles andere als perfekt, was unsere Bemühungen, miteinander zu sprechen, manchmal etwas verwirrend, aber auch oft sehr lustig und intim macht. Mindestens die Hälfte der Zeit werden wir im Studio von einer Dolmetscherin für Deutsche Gebärdensprache begleitet, also einer dritten Person, deren Aufgabe es ist, das zu verkörpern und auszudrücken, was wir im Moment denken und fühlen. Während des Kennenlernens arbeiten wir in erster Linie mit Bewegung, Blicken und Berührung als Werkzeuge. Verbale Sprache und Übersetzung kommen als nächstes. Wir finden heraus, was da ist, wenn man aufhört, sich auf den Hörsinn zu fixieren. Wie sehen dann Beziehung, Zugänglichkeit, Humor, Kummer und Wut aus?
MS: Es ist nicht das erste Mal, dass du mit Athena gearbeitet hast, und es gab auch andere Künstler*innen mit chronischen Krankheiten und Behinderungen, mit denen du in den letzten Jahren zusammengearbeitet hast. Wie hat die Arbeit mit ihnen dich und deinen choreografischen Ansatz beeinflusst?
AN: Diese Art von Begegnungen haben meine Arbeit und mein persönliches Leben sehr beeinflusst. Die Zusammenarbeit mit Angela Alves und Laura Lulika, zwei Performerinnen des Live-Stücks »Inflammations« aus dem Jahr 2019, war von grundlegender Bedeutung für mein Lernen über Ableismus, sowohl auf gesellschaftlicher Ebene als auch in mir selbst, und über Barrierefreiheit. »Inflammations« beschäftigt sich mit chronischen Schmerzen und der sogenannten unsichtbaren Behinderung, also mit Zuständen, die nicht auf Anhieb erkennbar sind und deshalb oft nicht beachtet werden. So wie der Rollstuhl das wohl bekannteste Symbol für eine Behinderung ist, war es auch eines unserer Hauptthemen, nicht als Mensch mit Behinderung erkannt zu werden. Die Arbeit in einem gemischten Team aus chronisch kranken, gesunden und neurodiversen Mitarbeiter*innen war eine Herausforderung in dieser Gig-Economy, in der erwartet wird, dass man nie krank ist, immer in Topform und zuverlässig ist. Wir haben uns erlaubt, in Crip-Time zu arbeiten, soweit das möglich war. Ich war für das Projekt verantwortlich, und das brachte einen gewissen Druck mit sich. Ich habe mich gefragt, wie ich die Fürsorge für das Team und die Arbeit an einem Stück unter einen Hut bringen kann. Und wie baut man eine Aufführung auf, wenn man weiß, dass einer (oder mehrere) der Darsteller*innen aufgrund eines Krankheitsschubs bei der Premiere nicht auftreten kann?
MS: In der Videoarbeit »Inflammations. Pandemic Edition« (2021) und in einer weiteren Videoarbeit »Can you Die of a Broken Heart?« (2018), die in der Ausstellung zu sehen sind, ist ein ganz wichtiges Ausdrucksmittel die eigene Stimme, die Stimmen der anderen und die Sprache als solche. Woher kommt dein Interesse an Sprache als choreografisches Mittel?
AN: Ich bin ein sehr rede- und sprachbegeisterter Mensch. Nach meinem Studium der spanischen Philologie in Kraków (Polen) bin ich nach Berlin gezogen, um Tanz, Kontext, Choreographie am Hochschulübergreifende Zentrum Tanz Berlin (HZT) zu studieren. Gegen Ende meines Studiums begann ich zu verstehen, dass ich durch die Bewegung meines Körpers einen anderen als den üblichen Zugang zur Sprache bekommen kann. Als ich 2017 an »Untitled« arbeitete, einer sprachbasierten Choreografie in Drag, übertrug ich einige Elemente, die ich aus der Bewegung kannte, wie Rhythmus, Wiederholung, Tempo, auf die Sprache. Später entwickelte sich daraus die Arbeit mit Reimen, das Sprechen in Sätzen von drei Wörtern, das Erstellen langer Wortlisten und neuer Bedeutungen bekannter Akronyme (wie LGB, FtM, DIY, etc.). Ich habe selten ganze Sätze verwendet. Vielmehr wollte ich eine neue Grammatik erfinden, die auf Rhythmus, Alliteration, Affinität und Kontrast beruht. Ich glaube, ich wollte meine eigene Sprache schaffen, weil ich mich nicht in der Lage fühlte, meine Wahrheit über Gender-, sexuelle, nationale und Klassenidentität und andere Dinge, die mich beschäftigen, auszusprechen. Während ich mit Athena arbeite, bringt sie mir gerade die Grundlagen der Deutschen Gebärdensprache bei. Es ist ein System sehr präziser Zeichen, die mit der Hand, dem Handgelenk, dem Arm, der Mimik und dem Flüstern artikuliert werden. Ich bin nicht daran interessiert, Sprache nur zu benutzen, um Inhalte zu vermitteln, sondern ich konzentriere mich sehr auf die Körperlichkeit der Sprache und was sie enthüllen oder verbergen kann.
MS: Wenn ich über deine Arbeit, deine Biografie, deine Mitstreiter*innen und Freund*innen nachdenke, mit denen du dich umgibst, kommt mir der Begriff »schwacher Widerstand« der polnischen Philosophin Ewa Majewska in den Sinn. Kannst du mit diesem Begriff etwas anfangen – schwacher Widerstand?
AN: Widerstand könnte bedeuten, dass man versucht, auf einer emotionalen, physischen und ethischen Ebene nachhaltig zu sein, und zwar durch Mikroaktivitäten und Mikroentscheidungen, die man jeden Tag umsetzt. Ich meine, dass wir versuchen, die Queer-Crip-Utopie heute durch die Art und Weise, wie wir unser tägliches Leben leben, möglich zu machen, nicht nur in der Theorie. Die Künstler*in Johanna Hedva und andere Disablity Aktivist*innen betonen, dass nicht jede*r die Körperlichen und emotionalen Möglichkeiten hat, auf die Straße zu gehen und im öffentlichen Raum Widerstand zu leisten. Ich frage mich, wie wir Allianzen mit denjenigen aufbauen können, die am meisten darum kämpfen, gehört zu werden. Für mich sind Unterrichten oder Vermitteln derzeit zaghafte Ansätze des Widerstands. In letzter Zeit habe ich mich an alternativen queer-feministischen und dekolonialen Bildungsprojekten beteiligt, wie der Kem School in Warschau oder der School of Kindness in Sofia. Ich habe mir überlegt, dass Bildung in einem nicht-traditionellen Sinne des Wortes ein effektiverer und interessanterer Weg sein könnte, um Veränderungen herbeizuführen und herauszufinden, wie wir uns der Aufmerksamkeitsökonomie und damit der Dynamik der sozialen Medien im wirklichen Leben widersetzen können.
MS: Um deine eigene Frage zu paraphrasieren: Ich habe mich gefragt, wie choreografische Arbeit genutzt werden kann, um eine neue Poetik der Zugänglichkeit zu schaffen, die nicht auf Mangel oder Schwäche basiert, sondern stattdessen zu einem Rahmen für neue Formen der Kommunikation und des gemeinsamen Zugangs zum öffentlichen Raum wird? Wie siehst du deine Rolle und die Rolle der öffentlichen Institutionen in diesem Prozess?
AN: Nun, das ist eine Sache, für die die Kunst definitiv gut ist – sich eine andere Art von Leben auf der Erde vorzustellen. Das allgemeine Verständnis von Unordnung, Unfähigkeit, Neurodiversität oder einfach Andersartigkeit basiert auf einem ableistischen Verständnis von Mangel. Wenn man POC ist, fehlt einem das Weißsein, wenn man taub ist, fehlt einem das Gehör, wenn man Autist*in ist, fehlen einem normative Möglichkeiten, sich mit der Umgebung zu verbinden. Ich wünschte, das würde nicht die Welt bestimmen. Ich lerne selbst ständig etwas über Barrierefreiheit und versuche, das zu befolgen, was Menschen über ihre Bedürfnisse sagen. Es geht darum, sich Zeit zu nehmen und die Energie aufzubringen, anderen zuzuhören und sich beeinflussen zu lassen. Aber auch zu verstehen, was man selbst braucht und wie viel man tatsächlich geben kann, ohne auszubrennen. Dieses Gleichgewicht zu finden, ist natürlich sehr schwierig, und Beziehungen und Empathie sind im Allgemeinen nicht einfach. Ich habe das Gefühl, dass persönliches Scheitern dazugehört – zumindest bei mir. Aber auch das Loslassen von Perfektionismus und damit verbundenem Selbsthass. Bezogen auf Kunstinstitutionen sprachen Athena und ich kürzlich darüber, dass Barrierefreiheit bei der Gestaltung von kuratierten Programmen in der Regel an letzter Stelle auf der Prioritätenliste steht. Sie erhält manchmal in letzter Minute das Angebot, Einladungen zu Kunstveranstaltungen in Deutscher Gebärdensprache zu verfassen, aber es ist sehr ungewöhnlich, dass Institutionen die Zugangsbedürfnisse von Tauben bereits bei der Erstellung eines Programms oder beim Aufbau einer Institution berücksichtigen.
MS: Auch wenn du dich mit komplexen Themen wie Krankheit, Trauer oder Behinderung befasst, bringen die meisten deiner Performances und Installationen auch Elemente der Freude, der Erotik und sogar des Humors ein. Welche Rolle spielen diese Lebenskräfte in deinem Werk oder sogar darüber hinaus?
AN: In meinem Fall gibt es eine Art Bindegewebe zwischen Schmerz und Vergnügen oder Trauer und Erotik. Letztlich ist es eine seltsame Sache, Freude und Lust, Ekstase und Exzess als Fluchtstrategien vor dem Schmerz zu benutzen. Natürlich ist die Lust, über welche in Selbsthilfequellen so viel geredet wird, nicht so einfach zu erreichen, wenn man an all die psychischen und physischen Probleme denkt, die wir haben könnten. Ich glaube, »relief« (Erleichterung) ist in letzter Zeit zu einer Art Schlüsselwort für mich geworden – seit meiner anderen Arbeit aus diesem Jahr (2022) »Golden Gate« – und es scheint etwas ganz anderes zu sein als Widerstand. Ich assoziiere Widerstand und Resilienz mit einer gewissen Anspannung und Selbstbeherrschung, während es bei »relief« vielleicht eher darum geht, in die Welt hinauszugehen und auszuhalten. Ich arbeite in meinen Stücken mit Erotik, weil Sexualität ein inkohärenter und zweideutiger Weg zur Lust ist, der nicht immer erfüllt wird. Ich muss regelmäßig und therapeutisch lachen. Ich vermute, dass Humor für Minderheiten schon immer ein Mittel zum Überleben und zur Erleichterung gewesen ist. Im Prozess und in der Videoarbeit mit Athena wird viel gelacht, aber wir dürfen nicht vergessen, dass es auch dazu da ist, die Frustration und die Wut auszugleichen, die Tauben und ihre Verbündeten angesichts all der Hindernisse in der hörenden Welt empfinden.
Übersetzung aus dem Englischen: Saskia Köbschall
Ania Nowaks (*1983 in Kraków, Polen) choreografische Praxis nähert sich der Verletzlichkeit und dem Begehren als Mittel, um sich neu vorzustellen, was Körper und Sprache leisten können und was nicht. Sie entwickelt Formate wie Live- und Videoperformance, Installation und Text. In ihrer Praxis beschäftigt sich Nowak mit den Körpern in ihrer nichtlinearen Gefühls- und Denkfähigkeit, um die Schwierigkeiten von Begleitung und Fürsorge in Zeiten einer ständigen Krise zu bewältigen. Nowaks Arbeit versucht, die Begriffe Unordnung, Vergnügen, Krankheit, Intimität, Schmerz, Sexualität, Klasse und Zugänglichkeit als Orte eines binären, freien Lebens neu zu definieren. Sie arbeitet mit alternativen Bildungsprogrammen in Osteuropa zusammen, wie der Kem School in Warschau und der School of Kindness in Sofia. Ihre Arbeiten wurden im HAU Hebbel am Ufer, in der Berlinischen Galerie, der Akademie der Künste und den Sophiensæle in Berlin, im Nowy Teatr Warschau, im La Casa Encendida Madrid, bei der Baltic Triennial im CAC Vilnius, im Q21 Wien und im M HKA Antwerpen u.a. gezeigt. Nowak lebt und arbeitet in Berlin.
Ill Delights
Eine Ausstellung von Ania Nowak & Friends
Kuratiert von Maja Smoszna
Friends: Angela Alves, Anu Czerwinski, Athena Lange, Cee Füllemann, Grzegorz Matlag »Maldoror«, Janne Ebel, Justyna Stasiowska
14.04. bis 27.05.2023
Im Rahmen des Ausstellungsprogramms POLY 2023–24 in der Galerie Wedding
Künstlerische Leitung: Solvej Helweg Ovesen
Galerie Wedding – Raum für zeitgenössische Kunst
Müllerstraße 146 – 147
13353 Berlin
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