Rustikal verputze Wände stehen im Kontrast zu den frischen Tulpen, die auf einem Klavier und mehreren kleinen Tischen arrangiert sind. Dazu gedimmte Kronleuchter und Kerzenschein: Es herrscht ein stimmungsvolles Ambiente. Samtüberzogene Stühle, Sofas und Bistrotische umrahmen eine kreisförmige Fläche auf dem Holzdielenboden. Noch ist die Tanzfläche leer, erst in wenigen Minuten wird es losgehen. Einige Gäste haben sich auf den Sitzmöglichkeiten niedergelassen und unterhalten sich entspannt, andere ziehen gerade ihre Tanzschuhe an. Mit der ersten lauterwerdenden Musik begibt sich das erste Paar auf die Tanzfläche und beginnt langsam zu tanzen. Es ist Freitag. In der Tanzschule Nou Tango in Berlin Mitte heißt das automatisch: Zeit für eine Milonga.
Eine Milonga ist eine offene Tanzveranstaltung, bei der argentinischer Tango getanzt wird. „Gastgeber einer Milonga zu sein, ist ein bisschen so, wie Gastgeber einer Dinner Party zu sein“, meint Thomas Rieser, einer der Inhaber von Nou Tango Berlin. Bei beiden Anlässen kommen verschiedene Menschen zusammen, die sich teilweise nicht kennen. Als Gastgeber sei es sein Anliegen, dass sich alle wohlfühlen und einen schönen Abend haben. „Du hast so ein Bewusstsein dafür, wie es den Leuten geht. Du siehst, wer was trinken möchte, oder wer gerade eine Pause braucht. Oder wer vielleicht alleine da ist, dann gehst du hin und führst ein Gespräch. Bei einer Dinner Party kümmerst du dich um das Licht, um Kerzen, um Musik, um Sitzmöglichkeiten, um Getränke: Hier ist das ähnlich.“ Unter seinen Gästen seien viele Paare, aber auch viele einzelne Tänzer und Tänzerinnen.
Wer mit wem tanzt, das entscheidet sich nicht über ein Auffordern im klassischen Sinne, sondern vielmehr durch nonverbale Kommunikation. Genauer spricht man von „Mirada“ und „Cabeceo“. „Mirada“ bezeichnet Blicke, die man miteinander austauscht. Sollte also beispielsweise ein Mann mit einer bestimmten Frau tanzen wollen, sucht er ihren Blick. Erwidert sie diesen und nickt ihm leicht zu, spricht man von „Cabeceo“, das ist ebenfalls spanisch und bedeutet so viel wie Nicken. „So verabredet man sich zum Tanzen ohne Worte. Was ganz schön ist, weil es so nicht zu komischen Situationen kommt. Durch die Blicke ist der Damm schon gebrochen, gewisse Sympathie ist da, auch wenn man sich noch nicht kennt“, beschreibt Thomas Rieser das nonverbale Auffordern. Hat man sich also zum Tanzen verabredet, bedeutet das meist, dass man während des nächsten Liederblocks, einer sogenannten „Tanda“, miteinander tanzt. Innerhalb dieses Blocks werden vier Lieder des gleichen Orchesters gespielt, die sich in Stil und Rhythmik ähnlich sind. Das habe den Vorteil, dass sich die Tanzenden auf die Musik einstellen können. Auf den Milongas der Tanzschule Nou Tango wird traditionelle Tangomusik gespielt, meist aus der Goldenen Zeit des Tangos.
Die goldene Zeit des Tangos
Der Tango hat weltweit eine lange Tradition: Seine Entstehung wird am Río de la Plata angesiedelt, der Flussmündung zwischen Argentinien und Uruguay. Ende des 19. Jahrhunderts trafen hier die verschiedensten Kulturen aufeinander. Allein zwischen 1880 und 1930 wurden circa 6 Millionen Menschen von den Hafenstädten am Río de la Plata angezogen, in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Irgendwann waren die Hafenstädte vollends überfüllt, es herrschten Armut und Elend. Und das war die Zeit, in der Tango geboren wurde. Auf die neu entstandene Musik Tango wurde getanzt – zunächst war es ein aufeinander abgestimmtes Gehen eines Paares, woraus sich nach und nach der uns heute bekannte argentinische Tango entwickelte. Der Tango wurde bekannter und bekannter und schaffte es kurz vor dem Ersten Weltkrieg auch in Pariser Salons und Bars und wurde somit zum erfolgreichen Modetanz in Europa.
Tango tanzt man Herz an Herz. Foto: Ishka Michocka
Bis Ende der 1930er-Jahre hatte Argentinien seine inländischen Probleme zwar noch nicht gelöst, trotzdem erlebte es den größten wirtschaftlichen Aufschwung seiner Geschichte: Äußere Umstände wie Lebensmittelnot des vom Zweiten Weltkrieg geplagten Europas ließen die Nachfrage an argentinischen Agrarprodukten enorm steigen und machten Argentinien zum reichsten Land Südamerikas. Dieser Wohlstand verhalf dem argentinischen Tango zu seiner „Goldenen Zeit“. Zwischen 1935 und 1955 konnten Tanzsäle und Orchester gar nicht groß genug sein.
Um den als verrucht geltenden Tanz aus südamerikanischen Vororten für europäische Verhältnisse „salonfähiger“ zu machen, entwickelten englische Tanzlehrer und Choreografen den Tango als Standardtanz, der bis heute als Turniertanz bekannt ist. Er unterscheidet sich vom argentinischen Tango insofern, als dass hier festgelegte Schritt- und Figurenabfolgen getanzt werden. Der argentinische Tango hingegen ist ein improvisierter Paartanz. Zwar gibt es auch hier Schrittelemente und Figuren, sie können aber in beliebiger Weise miteinander kombiniert werden.
Tango in Berlin
In Deutschland ist ein zweiter Aufschwung des südamerikanischen Tanzes seit den Achtzigerjahren zu spüren. Auslöser könnten politische Notstände in Argentinien und Uruguay gewesen sein. Viele Menschen von dort kamen nach Deutschland, und mit ihnen ihre Tangokultur. „In Berlin ist es eine sehr große und auch stetig wachsende Szene“, sagt Thomas Rieser. Zwar ist noch immer die größte Tangoszene in Buenos Aires vertreten. Als weltweit zweitgrößte Szene gilt aber die in Berlin. Das sieht Thomas Rieser in den vielen Vorzügen der Stadt begründet. Berlin sei international, von überall aus der Welt gut erreichbar, habe relativ niedrige Lebensunterhaltungskosten und dazu das besondere Flair. Den Rest habe das Schneeballsystem dazu beigetragen: Wo viele Tangotänzer und Tangotänzerinnern sind, wird viel Tango getanzt. Und wo viel Tango getanzt wird, kommen immer mehr Tangobegeisterte aus aller Welt dazu. „Das zeichnet Berlin schon aus als Szene: Es gibt hier sehr viele Orte zum Tangotanzen, und auch sehr verschiedenen Orte“, meint Thomas Rieser.
Gerade durch seine Lage gilt Berlin Mitte als Knotenpunkt für die Tangoszene. Im Sommer ist die Strandbar Mitte im Monbijoupark ein starker Anziehungspunkt, wo Tango und viele andere Tanzstile unter freiem Himmel direkt an der Spree getanzt werden können. In den vielen Tanzschulen werden das ganze Jahr über Workshops, Kurse und Milongas angeboten. Die Nou Tango Tanzschule ist seit über acht Jahren in der Chausseestraße angesiedelt.
„Die Tangokultur in Berlin macht aus, dass sie sehr lebendig ist, dass sie sich immer wieder neu mischt“, sagt Thomas Rieser. Zwar sei der Großteil der Szene zwischen Mitte 30 und Mitte 40 Jahre alt, Thomas Rieser zähle aber Menschen im Alter von 18 bis 80 Jahren zu seinen Gästen. Nicht nur das Alter scheint unwichtig zu sein, sondern auch die soziale Herkunft: „Es gibt Professoren und Millionäre und auch Arbeitslose, eben alles Mögliche. Aber das spielt keine große Rolle. Dieses respektvolle Umgehen miteinander, das betrifft alle und es ist gar nicht so wichtig am Ende, wer du bist. Weil, wenn wir miteinander tanzen, hast du deine Millionen auch nicht dabei, dann kann ich trotzdem der bessere Tänzer sein.“
Ein Tanz mit Suchtpotential
Für viele Menschen hat der als leidenschaftlich geltende Tanz hohes Suchtpotential. Um diesen doch sehr engen und intimen Tanz miteinander tanzen zu können, bedarf es laut Thomas Rieser Vertrauen: „Das funktioniert nur, wenn wir eine Vertrauensbasis haben. Die Leute, die Tango tanzen, die wissen das und die suchen das. Die bringen das mit und erwarten das auch von den anderen. Und das erfordert eine gewisse Selbstreflektion und Sensibilität.“ Sich öffnen, einander vertrauen, ohne dass man sich immer kennt, das könne Menschen verändern: „Ich glaube schon zu beobachten, dass Tango die Menschen öffnet.“ Immer wieder spricht er von dem Moment. Ein Moment, in dem die Verbindung, das Vertrauen und das Gefühl der Nähe sehr stark zu sein scheinen: „Wenn man in so einen Flow kommt und einfach tanzt, ohne darüber nachzudenken. Wenn es einfach so fließt und man merkt: das reicht aus. Man ist umarmt, und tanzt einfach zu toller Musik und redet gar nicht: Dann ist das ist etwas, das viele süchtig macht.“
Thomas Rieser sieht in einem Zitat, das besagt, dass Tango ein Herz mit vier Beinen sei, das Besondere Gefühl des Tangotanzens gut ausgedrückt. „Das beschreibt diesen Moment. Wenn du in der engen Tanzhaltung tanzt, liegen die Herzen ja wirklich aneinander, und man spürt auch oft den Herzschlag des Partners. Dann hat man das ein bisschen, dass die Herzen verschmelzen. Oben in der Umarmung ist man eins, ist man total verbunden. Unten mit den Beinen macht man unterschiedliche Bewegungen, trotzdem hat man diese Verschmelzung. Und das kann ein sehr schöner Moment sein.“
Kein Wunder also, dass sich so viele zu diesem sinnlichen Tanz hingezogen fühlen. Denen, die noch nie Tango getanzt haben, sich aber auch auf die Suche nach dem Moment machen möchten, empfiehlt Thomas Rieser einen Tanzkurs oder einen Einsteiger-Workshop. Um einen Eindruck der Berliner Tangokultur zu bekommen, seien aber die Milongas genau das Richtige. Um hier einen schönen Abend zu haben, müsse man kein Profi sein: „Man muss tanzen gehen als Anfänger, um fortgeschritten zu werden. Und deswegen sind die Milongas auch explizit für alle Niveaus.“ Auch an diesem Freitag sind Tänzer und Tänzerinnen aller Niveaus vertreten: Mittlerweile hat sich die Tanzfläche gefüllt. Die Paare scheinen zwar sehr mit sich beschäftigt, trotzdem ist es eine Gesamtdynamik, die auf der Fläche zu sehen ist. Eine Tanzrichtung, eine Rhythmik. Nach den jeweiligen „Tandas“, also den Liederblöcken, halten viele Paare kurz inne, lächeln sich an und verlassen die Tanzfläche. Als Zuschauerin fragt man sich direkt, ob sie in den letzten gemeinsamen Minuten wohl den Moment hatten.