Ferial Nadja Karrasch

Immer wieder Neues zu lernen, die Welt für einen Augenblick mit den Augen einer fremden Person sehen, sich auf die unterschiedlichsten Perspektiven einlassen – das sind nur einige Aspekte, die Ferial Nadja Karrasch an ihrer Tätigkeit als Kunstjournalistin so schätzt. Sie lebt in Berlin und schreibt für verschiedene digitale und analoge Formate über Kunst und Kultur. Studiert hat sie Kunstwissenschaft, Philosophie und Ausstellungspraxis an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe, an der Universiteit van Amsterdam sowie an der Universität der Künste Berlin.

Ein Kunstwerk zum Cornern

07.07.2020
Ein Kunstwerk zum Cornern
Ein Kunstwerk zum Cornern

Treffen sich mehrere Personen an einem Ort im öffentlichen Raum, beispielsweise an einer Straßenecke, um hier gemeinsam Zeit zu verbringen und um (vorwiegend) alkoholische Getränke zu sich zu nehmen, so nennt sich das „cornern“. „Cornern“ ist die Mitte zwischen dem Bar-Besuch und dem sogenannten „Weg-Bier“ (das natürlich auch ein Weg-Wein oder eine Weg-Limo sein kann). Der Ort, an dem das Getränk gekauft und jener, wo es getrunken wird, sind nicht dieselben, doch anders als beim Weg-Bier bewegt man sich beim Verzehr nicht fort, sondern bleibt an einer Stelle. Man cornert.

Ein Kunstwerk zum Cornern
1/2
Ein Kunstwerk zum Cornern
Ein Kunstwerk zum Cornern
2/2
Ein Kunstwerk zum Cornern
Ein Kunstwerk zum Cornern

Ein Ort, an dem es sich derzeit hervorragend cornern lässt, ist die kleine, dreieckige Grünfläche an der die Almstadtstraße und die Rosa-Luxemburg-Straße aufeinander zulaufen.

Hier hat der Künstler Simon Mullan (*1981, lebt in Berlin) seine Arbeit Popularis (Tresen) installiert; eine lange, weiß geflieste Skulptur, die sich im gleichen Maße von ihrer Umgebung abhebt, wie sie hierher zu gehören scheint. Die Symmetrie ihrer Gestalt, die geraden Kanten der unterschiedlich zugeschnittenen Kacheln und die grauen Fugen, die sich von Weitem wie eine abstrakte Zeichnung über die Oberfläche ziehen (eine wunderbare Unsicherheit beim Betrachten: was macht dieses Kunstwerk aus? Sind es die Kacheln oder das Dazwischen?) stehen in Kontrast zum eigenwilligen Wuchs der Bäume und zum grellen Grün des Rasens. Gleichzeitig ist die Skulptur genau richtig hier, ist kein Fremdkörper, sondern stimmige Ergänzung des Ortes.

In Anwesenheit des Künstlers wurde die Arbeit am 18. Juni 2020 eingeweiht. Eingeladen hatte der Kunstverein am Rosa-Luxemburg-Platz, der es sich zum Ziel gesetzt hat, mit den von ihm initiierten Kunstprojekten verschiedenste Aspekte des städtischen Lebens zu reflektieren. Dabei soll es insbesondere darum gehen, die unmittelbare Umgebung des Kunstvereins, das ehemalige Scheunenviertel, in den Blick zu nehmen und hierbei eine möglichst breite Öffentlichkeit zu erreichen. Und so cornern am Eröffnungsabend die ersten schon um kurz nach 18 Uhr; sie lehnen an dem Kunstwerk, stellen ihre (um die Ecke gekauften) Getränke darauf ab und nutzen es als Unterlage um ihre Zigaretten zu drehen. Und das geht alles mit rechten Dingen zu, denn der Untertitel kann wörtlich genommen werden: Die eigens für diesen Ort entwickelte Skulptur heißt nicht nur Tresen, sondern soll auch als ein solcher genutzt werden. Tresen ist die neueste Arbeit aus Mullans Reihe Popularis. Vorgänger sind unter anderem die Skulptur Popularis (A Monument for the Common), die er 2016 vor dem Messegebäude der abc errichtete und eine In-situ-Arbeit, für welche er 2017 im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Good to talk“ Kacheln auf der Herrentoilette in der Berghain Kantine neu anordnete. Eine kleine Grünfläche zwischen zwei Straßen, ein Vorhof, eine Club-Toilette – alle drei Orte haben gemeinsam, dass sie eher dem Nebensächlichen gewidmet sind, sie sind räumliche Ergänzungen, Begleiterscheinungen, sie sind dem Hauptsächlichen – den Straßen, der Veranstaltungshalle, dem Club – angegliedert und werden zu kleinen Inseln zufälliger, meist kurzweiliger Zusammenkünfte.

Mullan nutzt diese Zwischen-Räume für seine Kunst, oder andersherum: Mullan nutzt seine Kunst, um in diesen Zwischen-Räumen Begegnungen zu initiieren. Jenseits des institutionellen Rahmens der Galerie sollen seine Sozialskulpturen, wie er seine Popularis-Reihe bezeichnet, auch kunstfernem Publikum zugänglich werden. Jedermann und jedefrau ist eingeladen, hier im Baumschatten am Tresen an der Almstadt- Ecke Rosa-Luxemburg-Straße, zu verweilen und nach Herzenslust zu cornern. Es ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass manch jedermann oder manch jedefrau sich auf den noch schneeweißen Fliesen verewigt. Für den Künstler ist das kein Problem. Sollte das passieren, so Mullan, könnte man darüber nachdenken, das Ganze „rumzudrehen“. Der getaggte Tresen könne dann nach Ablauf der vier Monate, die er auf der Grünfläche bleiben wird, aus dem öffentlichen Raum in den White Cube der Galerie übersetzt werden. Mullan verwendet für seine Popularis-Werke handelsübliche Materialien, die es in jedem Baumarkt zu kaufen gibt. Damit knüpfen die aus Fliesen und Fugenkitt bestehenden Arbeiten an die Erfahrungswelt eines jeden und einer jeden an – man fühlt sich bei ihrem Anblick an Schwimmbäder erinnert, an Badezimmer, vielleicht auch an eine Metzgerei. Andererseits ruft die Anordnung der Fliesen Assoziationen zum Minimalismus und Konstruktivismus hervor. Das Muster der unterschiedlich zugeschnittenen Fliesen erinnert an Piet Mondrians Kompositionen aus schwarzen Linien und rechteckigen Feldern, nur ohne die Grundfarben. Der Künstler kombiniert so das Arte Povera-Prinzip der Verwendung einfacher Materialien mit der Klarheit und Präzision des Minimalismus.

Dem Entstehungsprozess kommt hierbei eine besondere Bedeutung zu. Zum einen hebt Mullan die handwerkliche Komponente hervor: Den Akt des Fliesenlegens versteht er als eine Hommage an das Handwerk. Zum anderen bezeichnet der Künstler die schrittweise Fertigstellung der Skulptur als eine „konstante Problemlösung“. Die Arbeit entsteht spontan, ohne vorab durchdachte Vorgehensweise; mit dem Setzen der ersten Fliese ergibt sich die Frage, wie mit dem Rest der Fläche umzugehen ist. Denn jeder Abschnitt muss zu einem Ende gebracht werden, die vorab zerschnittenen Fliesen müssen so angebracht werden, dass letztlich kein Verschnitt übrigbleibt. Für den Künstler selbst stellt sich die fertige Skulptur so als eine „Timeline“ dar, die den mehrwöchigen Entstehungsprozess dokumentiert. Die jeweilige Anordnung der Fliesen unterteilt sich in verschiedene zeitliche Abschnitte, die seinen Umgang mit der Fläche der Skulptur sichtbar machen. Für die Betrachtenden bleibt diese subjektive Dokumentation freilich unsichtbar. Für sie präsentiert sich die Oberfläche des Werks als ein harmonisches Mosaik geometrischer Formen. Oder schlicht als eine praktische Möglichkeit, das im Späti gekaufte Getränk abzustellen und zu cornern.

Teilen