Anna-Lena Wenzel: Du arbeitest hauptsächlich mit Pflanzen – sammelst sie, machst Collagen aus ihnen und organisierst Veranstaltungen mit essbaren Blüten und Samen. Auf diese Weise machst du die Wechselbeziehungen zwischen Kunst und Natur erlebbar und schaffst Räume für Begegnungen. Deine Arbeit ist nicht nur interdisziplinär, sondern auch interaktiv und politisch, wenn sie im Kleinen die große Ernährungsfrage stellt. Magst du mir einige deiner Projekte genauer vorstellen?
Marisa Benjamin: Ja, gerne. Ich fange am besten mit der Arbeit Mediterranean Trilogy an, die 2018 in Portugal während einer Residency entstanden ist. Ich habe die Leute aus dem Ort gebeten, mir Rezepte zu bringen, die aus nur drei Zutaten bestehen: Brot, Wein und Öl, welche die Basis der dortigen Küche sind. Am Ende habe ich eine „Edible Installation“ an einer großen Tafel veranstaltet und alle Beteiligten eingeladen, wobei wir nicht nur lecker gegessen und getrunken, sondern auch über die intensive Landwirtschaft und die ausgelaugten Böden diskutiert haben.
Im Jahr darauf habe ich für das Projekt Terreno – Urban eco-biographical action auf einer Brache in der Hiroshimastraße im Ortsteil Tiergarten gearbeitet. Portugal hatte dieses Stück Land erworben, auf darauf die künftige portugiesische Botschaft zu errichten, wozu es bis heute nicht gekommen ist. Auf dem leeren Areal ist mit der Zeit ein Ökosystem entstanden, das mich interessiert hat. Ich habe einen Schlüssel zu diesem Areal bekommen und habe dort über fünf Monate „Feldforschung“ betrieben: ich habe Pflanzen bestimmt und eine Veranstaltung organisiert. Zu dieser gehörte eine Tour über das Gelände, bei der ich auf die Vielfalt der Pflanzen hingewiesen habe, und eine weitere „Edible Installation“, in deren Rahmen die Besucher*innen die Landschaft „schmecken“ konnten.
Ein weiteres über einen längeren Zeitraum und prozessual angelegtes Projekt war Hortus Deliciarum fürdas Tinguely Museum in Basel 2020. Es bestand aus mehreren Teilen: einem Gewächshaus im öffentlich zugänglichen Park, einer Installation aus Tisch und Hochbeet im Museum und einer Performance mit essbaren Blüten und Pflanzen aus Basel. Das Projekt hat sich über mehrere Monate hingezogen, in denen ich immer wieder nach Basel gefahren bin, um mit den Leuten vor Ort in Kontakt zu kommen, Pflanzen auszuwählen, das Gewächshaus zu bauen etc., aber ich konnte natürlich nicht die ganze Zeit vor Ort sein. Ich war auf die Unterstützung der Mitarbeitenden des Museums und der Stadtgärtnerei angewiesen.
ALW: Wenn Projekte über einen längeren Zeitraum gehen, ortsspezifisch und partizipativ angelegt sind, stellt sich für mich automatisch die Frage nach dem Honorar.
MB: Was die Finanzierung betrifft, hatte ich Glück, weil das Projekt Hortus Deliciarum eine Kooperation mit der Stadtgärtnerei war, ohne deren Hilfe, ich das Projekt so nicht hätte realisieren können. Wichtig war auch, dass ich den Willen gespürt habe, mich bestmöglich zu unterstützen. Es ist nicht nur eine Frage des Geldes, sondern geht auch um andere Dinge wie Wissen und das Kennenlernen interessanter Menschen, die zu meiner Arbeit beigetragen haben, und mit denen sich neue Projekte ergeben können.
ALW: Und was ist von deinem Projekt in Basel geblieben?
MB: Sie haben das Gewächshaus wieder abgebaut, das war schade.
ALW: Die Künstlerin Hanwen Zhang hat dich für ihr Projekt in die Psychosoziale Initiative in Moabit eingeladen, wo du unter dem Motto „Sprache der Pflanzen“ einen Workshop gegeben hast. Was habt ihr da genau gemacht?
MB: Beim Workshop in der Initiative haben wir Pflanzen gesammelt, probiert und gezeichnet. Dabei sind sehr schöne Bilder entstanden!
ALW: Sind Workshops für dich eine Möglichkeit dich zu finanzieren?
MB: Ja, sie sind ein Weg, um etwas Geld zu verdienen.
Wir gehen zu ihrem Zeichenschrank und Benjamim zeigt mir einige ihrer Papierarbeiten: Zunächst die Pflanzenbilder, für die sie Gemüse oder Obst ganz fein schneidet, auf ein Papier legt und dann mit einer Maschine presst, sodass am Ende Bilder entstehen, die wie gemalt aussehen. Dann zieht sie eine weitere Schublade auf und zeigt eine Kombination aus Pflanzencollage und Zeichnung, die an Bewegungsbilder erinnern.
ALW: Woran arbeitest du zurzeit?
MB: An meinem Langzeit-Recherche-Projekt Rezepte zum Widerstand, das ich in Portugal begonnen habe, und das ich in ein Buch überführen möchte. Ich sammle dafür alte Rezepte aus Büchern, aber auch selbst kreierte Rezepte, die aus der Not der Lebensmittelknappheit eine Tugend machen, also mit wenigen Zutaten auskommen und auf lokalen Lebensmitteln basieren. Die Rezepte dafür finde ich in Kochbüchern auf Flohmärkten, aber spreche auch Nachbar*innen hier in Berlin an, was wegen Corona leider nicht so einfach war.
ALW: Wie kommst du mit den Leuten in Kontakt?
MB: Unterschiedlich. In Portugal war es so, dass die Betreiber der Residency aus dem Ort kamen und mich mit Interessierten zusammen gebracht haben. Es funktionierte dann ein bisschen wie nach dem Schneeballprinzip. Das Projekt hat sich immer weiter rumgesprochen und so kannte jemand noch jemanden, der wiederum jemand anderes kannte, der Interesse haben könnte. Generell schreibe ich bei diesen Community-basierten Arbeiten sehr viele E-Mails – nicht immer mit Erfolg. Man muss schon eine kontaktfreudige Person sein, wenn man so arbeitet.
ALW: ich habe das Gefühl, dass Community basierte Kunst dafür, dass sie mit so viel Einsatz verbunden ist und bestimmte Skills, wie Kontaktfreudigkeit und Offenheit, erfordert, zu wenig Wertschätzung erfährt. Wie empfindest du das?
MB: Ich würde sagen, es verändert sich gerade. Was die Wertschätzung dieser spezifischen Art von Kunst betrifft, habe ich jedoch das Gefühl, es verschiebt sich nur langsam.
Während des Interviews sitzen wir an einem Tisch, der Teil von Benjamims Kitchen war, ihrem Beitrag zur Riga Biennale 2018. Sie zeigt mir Fotos einer wandfüllenden Installation mit getrockneten Blumen, Zeichnungen, Glasbehältern und Gartengeräten, Büchern und Pflanzenabbildungen und schlägt vor, eine kleine Verköstigung mit essbaren Pflanzen aus ihrer Sammlung zu machen. Ich stimme neugierig zu. Sie holt eine kleine Holzkiste aus dem Regal, nimmt eine Ampulle und holt mit einer Pinzette einen Samen heraus, den sie sorgfältig auseinandernimmt, um mich dann aufzufordern zu probieren. Der Geschmack ist überraschend zitronig-frisch und ich bekomme noch eine weitere Kostprobe, deren intensiver Geschmack mich ebenfalls überrascht.
ALW: Kannst du erzählen, woher dein Interesse an Pflanzen kommt?
MB: Eine Person, die mich sehr geprägt hat, war meine Großmutter. Sie konnte nicht lesen und schreiben, aber sie hatte ein unglaubliches Wissen über die Natur und eine beeindruckende Intuition. Sie kannte verschiedene Heilpflanzen, wusste immer wieviel Uhr es war und konnte vorhersagen, wann es regnen würde! Dieses Wissen geht in unserer digitalisierten Zeit zusehends verloren, mit meiner Arbeit möchte ich es erhalten.
ALW: Was sind deine nächsten Pläne?
MB: Im Sommer habe ich eine Residency in Saxdorf in Thüringen. Da fahre ich mit meiner Familie hin und kann zwei Monate mit dem Pfarrgarten und der dortigen Community arbeiten. Da freue ich mich schon sehr drauf.
Die zweite Veranstaltung zu Community basierter Kunst mit Marisa Benjamim wird am Freitag, den 13. Mai stattfinden:
Zu Community basierter Kunst, Teil #2
Veranstaltungsort: OKK – Organ kritischer Kunst, Prinzenallee 29, 13359 Berlin
Veranstaltungsprogramm:
18.00 Uhr Lecture Performance mit Marisa Benjamin
19.00 Uhr Diskussion mit den Künstlerinnen Marisa Benjamin und Marta Sala (“Arbeitspause”)
Moderation: Nika Grigorian und Agnieszka Kilian
Die Veranstaltungsreihe wird organisiert durch die kuratorische Arbeitsgruppe: Nika Grigorian, Agnieszka Kilian und Marina Naprushkina
Im zweiten Teil widmen wir uns dem Thema Nahrungsmittelpolitik, Degrowthing und der Gemeinschaft. Wie können wir in unsicheren Zeiten gemeinsam handeln und uns untereinander organisieren? In ihrer Lecture Performance bereitet Marisa Benjamin vor Ort ein Gericht zu und bespricht gleichzeitig Food Strategien. Ausgehend von Kochrezepten wird die Künstlerin uns mit unseren alltäglichen Praxen und Gewohnheiten konfrontieren. Dabei setzt Marisa Benjamin auf einen Wissenstransfer und die Bildung von Communities, die die Idee einer gerechten und lokalen Nahrungsmittelverteilung entwickeln.
In der anschließenden Diskussion mit den Künstler*innen Marisa Benjamin und Marta Sala (“Arbeitsgruppe”) widmen wir uns folgenden Fragen: Welche Rolle spielt die künstlerische Praxis, um Nahrungsmittelpolitik, Ökologie und Ökonomie in unserem täglichen Leben zu verorten? Ist nachhaltiges Kochen nur eine Vision für Reiche? Wie kann man aus der lokalen Perspektive auch die globalen Fragen einbeziehen? Was bedeutet heute Food Justice?
Marisa Benjamim (*1981, Portugal) lebt und arbeitet in Berlin. Sie hat an der Universität der Künste Berlin (Kunst im Kontext, Master) und Bildhauerei und Bildende Kunst an der ESAD Caldas da Rainha in Portugal studiert. Ausgehend von Blumen und Lebensmitteln als Kunstmaterial kreiert Marisa Benjamim multisensorische Installationen, in denen sie kulinarische Archäologie, Geschmack, soziale Interaktion und die Ausweitung von Kunst in öffentliche und unkonventionelle Räume erforscht. Ausgewählte Ausstellungen: Yūgen APP, Porto Biennale (2021); Amuse-bouche.The Taste of Art, Tinguely Museum, Basileia (2020); Plant cure, Humanity Gallery at LIU, Nova York; Licht Luft Scheisse, Portugiesische Botschaft in Berlin (2019); Floristaurant, Riga Biennale für zeitgenössische Kunst (2018).
Marta Stanisława Sala (*1985, Polen) hat einen Abschluss in Malerei an der Jan-Matejko-Akademie der Bildenden Künste in Krakau und in Kunst im Kontext an der Universität der Künste in Berlin. Ihr Schwerpunkt liegt auf Themen wie Intersektionalität, Prekarität, das Recht auf Stadt, Ökologie, Gemeingüter und Commoning, kreativer Anarchismus und Solidarität in der Vielfalt. Sala erforscht das Problem der Verschwendung, Ausgrenzung und Marginalisierung und schafft Werke aus verschiedenen materiellen Überresten.
In 2021 organisierte sie gemeinsam mit Johanna Reichhart, Marcos García Pérez, Costanza Rossi, Katarzyna Sala, Cheong Kin Man, Francis Kamprath und geladenen Gästen “Arbeitspause“ im Görlitzer Park, künstlerische Beziehungssysteme im öffentlichen Raum (2021)”. Die “Arbeitspause” arbeitet in kollektiven Strukturen in einem Zusammenschluss von Künstler*innen und Kulturschaffenden. Ab Herbst 2022 sind fünf Aktionen des Gemeinschaffens im Görlitzer Park geplant, die sich mit Essen und Gemeinschaft beschäftigen, wie z.B. Careful Listening – Gemeinsame Teezeit / – tea time together.