Sophie Aigner

Sophie Aigner ist Künstlerin und Autorin. Sie studierte Bildhauerei an der HfBK Hamburg. Ihre Arbeiten wurden unter anderem in folgenden Ausstellungsräumen gezeigt: Benaki Museum Athen, Union Gallery London, Hiltibold St. Gallen, Eikon Schauraum/Museumsquartier Wien, Galerie im Körnerpark Berlin, Industriemuseum Chemnitz, Temporary Gallery Köln, D21 Leipzig, Museo dell`Osservatorio Vesuviano Neapel, Kunsthaus Hamburg, Kunsthalle Schloss Isny, Emily Harvey Foundation New York. In ihren Arbeiten interessiert sie sich für den „suchenden Menschen“ sowie für die Darstellung von Fragilität und Instabilität in der uns umgebenden Realität. Sie gibt regelmäßig Seminare, wie zum Beispiel an der HfBK Hamburg und an der UdK Berlin, die sich oft den Schnittstellen von Kunst und Schreiben widmen.

Kiki, Dorothy und The Illustrated Adventures of Attention, Memory and Expectation 

04.04.2023
Barbara Kruger. Untitled (Hello/Goodbye), Ausstellungsansicht Neuer Berliner Kunstverein (n.b.k.), 2021 © Foto: n.b.k. / Jens Ziehe

From Hello To Goodbye sehe ich („und umgekehrt“), denke ich – als ich die Räume der Artothek betrete. Ich komme, um mir eine Arbeit für zu Hause auszuleihen.

Zu Hause

Kürzlich habe ich das erste Mal in meinem Leben Kunst gekauft und sie neben meinen Schreibtisch gehängt: eine Edition von Kiki Smith. Ich würde gerne mehr Kunst bei mir zu Hause anschauen können, beispielsweise etwas von Dorothy Iannone. Ich würde gerne, das Geld habe ich im Moment aber nicht.

Neulich, mehr zufällig, sehe ich auf der Website des Neuen Berliner Kunstvereins (n.b.k.) folgende Stichworte: größte Artothek Deutschlands, über 4.000 Arbeiten, um die 11.000 Ausleihen pro Jahr. Ich scrolle durch die Sammlung: es gibt auch Arbeiten von Dorothy Iannone.

Website des n.b.k. mit Link zum Onlinekatalog, https://www.nbk.org/de/artothek

In der Chausseestraße

Ich bin verabredet mit der Leiterin der Artothek, Lidiya Anastasova in der Chausseestraße 128/129. In der Mitte des ersten Raumes steht das Stecksystem Ellen (1998) der Künstlerin Silke Wagner, als Präsentationsdisplay für die Artothek entworfen. Eine kleine Auswahl der Sammlung liegt und lehnt hier, kann betrachtet oder ausgeliehen werden. Momentan zum Beispiel darauf zu sehen ist: berlin-tokyo, aus der Serie: Phantomclubs (1998) von Nina Fischer & Maroan el Sani und Carmen inszeniert von Dan Graham (2009) von Aura Rosenberg.

Die Fakten: 1970 wurde die Artothek gegründet (damals noch in Berlin-Charlottenburg). Seitdem wird die Sammlung ständig erweitert. Bislang wurden die Ankäufe vorwiegend mit Mitteln der Lotto Stiftung Berlin umgesetzt, aktuell tut dies die Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa. Um die 20 Arbeiten werden jährlich angekauft, mit Fokus auf zeitgenössische Künstler*innen, die in Berlin leben und arbeiten.

Neuankäufe des Jahres 2021 für die Artothek des Neuen Berliner Kunstvereins (n.b.k.), mit Display-Architektur von Silke Wagner (Ellen, 2008) © Foto: n.b.k. / Jens Ziehe, 2022

Lidiya Anastasova und ich setzen uns zum Gespräch in den Nebenraum. Sie erzählt von der Idee des Sharings, das sie heute für aktueller denn je hält, spricht von Gesprächen über Kunst, die sich in den Räumen schnell mal mit den Besucher*innen ergeben, erzählt von einer kommenden Ausstellung im n.b.k. in Zusammenarbeit mit dem DAAD, durch den seit den 1960er-Jahren viele internationale Künstler*innen nach Berlin kamen (Dorothy Iannone kam 1976 und blieb). Ich wiederum erzähle von meinem vorausgegangenen Scrollen durch den Onlinekatalog, von den vielen auftauchenden (mir unbekannten) Namen, die eine Ahnung der Kunstankäufe der Artothek-Anfangsjahre aufscheinen lassen (viel Fluxus), die aber auch ganz grundsätzlich von einer berlintypischen Breite an Künstler*innen über all die Jahrzehnte bis heute berichten – und die mich neugierig machte.

Die offiziellen Öffnungszeiten beginnen. Manche Besucher*innen sind im Eingangsbereich und sehen sich die Auswahl auf Ellen an, andere gehen gezielt ins Depot. Andere geben Ausleihen zurück, so zum Beispiel eine kleine Männergruppe, Ärzte einer Gemeinschaftspraxis, wie ich höre. Seit Jahren leihen sie regelmäßig Arbeiten für ihre Praxisräume aus: nicht interessiert an Namen, sondern interessiert „an Motiven, die Optimistisches ausstrahlen“. Ein anderer Mann, um die dreißig, leiht seit 15 Jahren aus. Zu gerne hätte er mal Warhols Lenin, aber „das habe ich aufgegeben“, sagt er, „ist leider immer verliehen“.

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Kitagruppe in der Artothek des Neuen Berliner Kunstvereins (n.b.k.), 2017 © Foto: n.b.k.
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Nutzer*innen in der Artothek des Neuen Berliner Kunstvereins (n.b.k.) mit Display-Architektur von Silke Wagner (Ellen, 2008) © Foto: n.b.k. / Jens Ziehe, 2022

Von Lidiya Anastasova erfahre ich, dass neben Privatpersonen auch Institutionen leihen: zur Ausstattung einzelner Räume oder um themenbasierte Ausstellungen zusammenzustellen, die von der Institution selbst oder mit Beratung der Artothek kuratiert wird. Identität, Grenzen, Flucht und Vertreibung im Büro des Landes Berlin in Brüssel ist da ein aktuelles Beispiel. Unter dem Begriff Artothek mobil wiederum arbeitet die Artothek gezielt mit öffentlichen Einrichtungen wie Schulen, Kitas, Krankenhäusern zusammen und möchte so den Austausch und den Zugang über und zu Kunst fördern.

Im Depot

Ich gehe jetzt ins Depot im Raum nebenan, in dem alle ausleihbaren Arbeiten versammelt sind, 1/3 des Bestandes sind das in der Regel. Da stehen Bronze- und Holzarbeiten, Unikate auf Leinwand und viel Gerahmtes: Lithographien, Siebdrucke, Fotografien. Ich gehe einzelne Regalflächen durch. Da ist eine Serigrafie von Panamarenko, hier eine übermalte Fotokopie von Elvira Bach. Und da ist eine Bleistift-Zeichnung: The Illustrated Adventures of Attention, Memory and Expectation zeigt einen Mann mit einem unbeschriebenen Buch in der Hand. Dieser Mann entreißt dem Buch die Seiten, eine Frau hinter ihm wiederum bemüht sich diese aufzusammeln. Der Künstler heißt Alejandro Cesarco. Ich merke ihn mir und gehe trotzdem nochmal ins Büro um sicherzugehen: Schade, von Dorothy Iannone ist im Moment alles ausgeliehen.

In anderen Räumen

Später, zurück zu Hause, hänge ich die Zeichnung von Alejandro Cesarco auf. Ich habe sie nun hier für drei Monate. Sie hängt gegenüber von Kiki Smith. Während ich diesen Text schreibe, schaue ich immer mal wieder hin, ich schaue gerne hin. Ich scrolle nochmal durch den Onlinekatalog. Ich möchte doch genauer wissen, bis in welches Jahr die Bestände zurückreichen. Die drei ältesten Arbeiten der Sammlung: Die Hand Gottes (1896) von Rodin, eine Bronze auf Marmorsockel, Zyklus Bauernkrieg, eine Radierung von Käthe Kollwitz (1903) sowie Das Unsichtbare – Zyklus: Der tote Tag, eine Lithographie von Ernst Barlach (1910).

Alejandro Cesarco, The Illustrated Adventures of Attention, Memory and Expectation, © Foto: Sophie Aigner

Kürzlich habe ich das erste Mal in meinem Leben Kunst gekauft. Gegenüber dieser Edition von Kiki Smith hängt nun eine geliehene Zeichnung aus der Artothek, sie ist von Alejandro Cesarco. Eine Arbeit zu besitzen ist schön. Sie wird Teil der eigenen Wohnung. Ich hätte nichts dagegen, wenn auch die Zeichnung von Alejandro Cesarco für immer bei mir bliebe. Aber mir gefällt ebenso die Idee, dass sie bald wieder woanders hin geht, und vielleicht wird sie bei dieser Person neben dem Schreibtisch hängen, so wie bei mir, und diese Person wird vielleicht, wie ich gerade, immer wieder die Augen für einen Moment vom Laptop wegdrehen und auf die Zeichnung an der Wand richten. Wenn ich dann in ein paar Monaten zur Rückgabe in der Artothek sein werde, werde ich im Büro nachfragen, ob gerade etwas von Dorothy Iannone da ist. Und wenn alle ihre Arbeiten verliehen sein sollten, dann mache ich es wieder so: Ich gehe durch die Regalflächen und picke etwas heraus, was ich jetzt noch nicht kenne. Dann hänge ich es zu Hause auf und lerne es kennen.

Über die Autorin:
Sophie Aigner ist Künstlerin und Autorin. Sie studierte Bildende Kunst an der HfBK Hamburg. Ihre Arbeiten wurden unter anderem in folgenden Ausstellungsräumen gezeigt: Benaki Museum Athen, Union Gallery London, Eikon Schaufenster Wien, Galerie im Körnerpark Berlin, Industriemuseum Chemnitz, Temporary Gallery Köln, D21 Leipzig, Emily Harvey Foundation New York. In ihren Installationen, Arbeiten auf Papier und Texten interessiert sie sich für den „suchenden Menschen“ sowie für die Darstellung von Fragilität und Instabilität in der uns umgebenden Realität. Ich- und Geschlechterbeziehungen sowie das Verschwimmen von dem Selbst und dem Anderem sind Stichworte, die sie in ihrer Arbeit immer wieder aufgreift. Sie gibt regelmäßig Seminare wie zum Beispiel an der HfBK Hamburg und an der UdK Berlin, interessiert an den Schnittstellen von Kunst und Schreiben. Letzte Stipendien und Auszeichnungen: Publikationsförderung Kulturministerium Österreich, Arbeitsstipendium Neustart Kultur Stiftung Kunstfonds, Stipendium Digitale Vermittlungsformate Deutscher Künstlerbund, Recherchestipendium Berliner Senatsverwaltung für Kultur, Deutschlandstipendium, Residency Pact Zollverein Essen, Residency Viborg Kunsthal Dänemark.

Über die Leiterin der Artothek:
Lidiya Anastasova ist Kunst- und Medienwissenschaftlerin, die in ihrer beruflichen Praxis an der Schnittstelle zwischen Kunstvermittlung und kuratorische Praxis arbeitet. Nach Beschäftigung an renommierten Kunstinstitutionen wie das Kunsthaus Bregenz und Kunstverein Düsseldorf arbeitet sie aktuell am Neuen Berliner Kunstverein (n.b.k.) als Leiterin der Sammlung Artothek und als Kuratorin der n.b.k. Billboard-Reihe, bisher mit Werken von Rosemarie Trockel, Nan Goldin, Gülsün Karamustafa und Carrie Mae Weems. Schwerpunkte ihrer Forschung und Praxis sind aktuelle Fragestellungen zu den Kategorien Gender/Race/Class/Age/Care im zeitgenössischen Kunstkontext. Sie ist Lehrbeauftragte für Kunsttheorie an der Universität Konstanz.

Neuer Berliner Kunstverein
Chausseestraße 128 / 129
10115 Berlin

Telefon: +49 30 2807022
E-Mail: /

Öffnungszeiten (nur nach Voranmeldung)
Di / Do, 14–20 Uhr
Mi / Fr, 14–18 Uhr

Leihbedingungen:
Der Neue Berliner Kunstverein verleiht grundsätzlich an alle Personen ab 16 Jahren, die ihren amtlichen Wohnsitz in Berlin haben. Die Ausleihe ist unentgeltlich. Pro entliehenem Kunstwerk wird eine Versicherungsschutzgebühr von 6 Euro pro Werk für 3 Monate (private Ausleihe, ermäßigt 3 Euro) fällig oder 18 Euro pro Werk für 3 Monate (öffentliche und betriebliche Ausleihe).

 

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