Anna-Lena Wenzel

Dr. Anna-Lena Wenzel* ist Autorin und Künstlerin. Nach ihrem Studium der Angewandten Kulturwissenschaften in Lüneburg promovierte sie über „Grenzüberschreitungen in der Gegenwartskunst“. Sie betreibt das Online-Magazin 99 % Urban und den Radiosalon für Alltägliches und ist in unterschiedlichen kollektiven Zusammenhängen unterwegs.

„Ach Mauerpark, ick lieb dir“

02.02.2021
Mauerpark
Der neugestaltete westliche Teil des Mauerparks, Foto: David Wagner

Der Lockdown hat dazu geführt, dass die Menschen lokaler unterwegs sind und mehr Zeit draußen verbringen, statt in Cafés zu sitzen oder Museen zu besuchen. Spazieren gehen ist plötzlich eine große Sache! Weil David Wagner ein Buch mit dem Titel Mauer Park veröffentlicht hat, verabreden wir uns auf einen Spaziergang durch den Mauerpark, der weit über die Grenzen der Stadt hinaus Kultstatus genießt.

„Ach Mauerpark, ick lieb dir. Obwohl du oft so hässlich bist. Obwohl in dir heute, Sonntag sicher noch der Müll von gestern liegt. Und obwohl da heute Abend sicher noch viel mehr Müll liegen wird und du wieder überfüllt sein wirst, ich mag dich, Mauerpark. Und bin damit nicht allein, Tausende mögen dich und strömen herbei, zum Flohmarkt, zum Mauerpark-Karaoke, oder um einfach bloß im Gras zu liegen. Mauerpark, mir gefällt der sonntägliche Ausnahmezustand, der Volkslauf, mir gefällt, daß jede Woche Woodstock ist, mir gefällt die sich selbst berauschende Menge, die auf der Wiese tanzt, sich filmt und fotografiert und das gleich postet. Und ja, mir gefällt, daß sie alle kommen, aus der ganzen Welt, sagt mir das nicht, ja, ich lebe in einer attraktiven Stadt?“[1]

Als David Wagner 2012 diese Zeilen schrieb, sah der Mauerpark noch anders aus als heute, gab es noch keine Corona-Pandemie. Und obwohl es Winter ist und ein Wochentag, ist der Mauerpark gut gefüllt. Der Lockdown hat dazu geführt, dass die Menschen lokaler unterwegs sind und mehr Zeit draußen verbringen, statt in Cafés zu sitzen oder Museen zu besuchen. Spazieren gehen ist plötzlich eine große Sache! Wagner wohnt in unmittelbarer Umgebung, deshalb kennt er den Park fast so gut wie seine Westentasche, auch wenn er das so nicht formulieren würde. Aber als wir den Park von der Bernauer Straße im Süden betreten, fängt er sofort an zu erzählen und mich auf Details aufmerksam zu machen.

Wir halten uns rechts und gehen die Anhöhe zum Friedrich-Ludwig-Jahn-Stadion hinauf, in das man von dieser Seite leider nicht reinschauen kann. Was man von hier aus jedoch gut überblicken kann, sind die jüngsten Umbaumaßnahmen im Park. Wagner zeigt auf die neuen Bäume, die im Eingangsbereich gepflanzt wurden und von weiß angestrichenen Holzgerüsten umgeben sind. Unter der Kopfsteinpflasterstraße, die von hier aus den Park Richtung Norden durchquert, wurde in den letzten Jahren ein unterirdischer Mischwasser-Sammelkanal gebaut, der das altbekannte Berliner Problem überlaufenden Schmutzwassers bei Starkregen beheben soll. Während rechts Sprayer bunte Bilder an die Mauer sprühen (unter ihnen muss es einen Loriot-Fan geben, der diesen in wechselnden Posen inszeniert, weiß Wagner zu berichten), schweift der Blick in Richtung Westen, hin zum Teil des Parks, auf dem sich jahrelang Baracken, eine Gärtnerei und das Flohmarktgelände befanden, der Sonntags die Massen in den Park zog. Nun sind die meisten Gebäude abgerissen und einer parkplatzähnlichen Fläche gewichen, wie Wagner bedauernd feststellt, während sich die zahlreichen Skater*innen, die dort hin und her fahren, wahrscheinlich über den festen Untergrund freuen. Einige Baracken sind geblieben und wurden mit Holzlamellen formalisiert, insgesamt sieht alles aufgeräumter aus, was dazu führt, dass der informelle Charakter des Geländes, der so lange seinen Charme ausgemacht hat, zusehends verschwindet.

Wir gehen die Anhöhe wieder hinunter und laufen querfeldein über den matschigen Rasen der Grillzone, an den in den Boden eingelassenen Mülleimern vorbei, schauen auf die spielenden Kinder auf dem erneuerten Regenbogenspielplatz und staunen über den aus groben Granitblöcken erbauten Kreisel, in dessen Mitte ein überdimensionierter Tisch zum Picknicken einlädt. Er erinnert mich an die Gestaltung des Grünstreifens um das Engelbecken in Kreuzberg herum, der ebenfalls auf dem ehemaligen Grenzstreifen errichtet wurde. Beiden Grünflächen ist gemeinsam, dass weniger neu gestaltet, als das Vorhandene konturiert wurde. Im Mauerpark galt es die bestehenden Nutzungen und die wild gewachsenen oder in selbstorganisierter Arbeit gepflanzten Bäume einzubeziehen – was in Form mehrerer Bürgerwerkstätten versucht wurde.

Foto der selbstorganisierten Bepflanzungsaktionen im Mauerpark 1990, Foto: Gerd Danigel in Die Mauerpark-Affäre

Wir stehen mitten auf der Ost-West-Passage durch den Park, die lange unrealisiert geblieben ist. Weil es von der Gesundbrunner Seite keinen direkten Zugang zum Park gab, wurde er von der dortigen Bevölkerung viel weniger genutzt. Es ist, als ob sich die ehemalige Grenzziehung fortgesetzt hätte – räumlich, aber vor allem sozial. Denn während im Prenzlauer Berg und im Ortsteil Mitte die Bewohnerschaft nach der Wende fast komplett ausgetauscht wurde und die Mieten in die Höhe geschossen sind, ist die Brunnenviertel-Seite durch sozialen Wohnungsbau geprägt und hat sich langsamer verändert. Auch bei ihm hätte es relativ lange gedauert, bis er die unsichtbare Grenze in Richtung Wedding hin überschritten hätte, gesteht Wagner. Um mir zu zeigen, wie es dort aussieht, gehen wir aus dem Park heraus zur verkehrsberuhigten Swinemünder Straße. Der Gegensatz zur belebten Oderberger Straße, in der sich Café an Boutique an Café reiht, könnte nicht größer sein, denn hier gibt es bis auf einen Späti an der Ecke keine Konsummöglichkeiten, nur Bänke und Bäume im Mittelstreifen.

Wagner lotst mich zum Vinetaplatz, der einmal so aussah wie der Arkonaplatz. Doch während dieser in seiner historischen Form erhalten geblieben ist, hat der Vinetaplatz eine vollkommen andere Anmutung bekommen. Von einem durch Altbauten umgebenen zentralen Platz ist nichts mehr übrig geblieben, vielmehr ist der Platz dezentral in einzelne Grünanlagen unterteilt. Dennoch kann man sich auch hier gut aufhalten, wie Wagner weiß. Er zeigt mir ein öffentliches Sitzmöbel mit vier Stühlen und einem Tisch in der Mitte und erklärt, das sei sein Freiluftbüro. Auf dem Tisch steht eine leere Flasche Wodka, wahrscheinlich wird der Ort nicht nur tags als Büroersatz benutzt, sondern auch abends als Kneipe. Wir laufen durch den vernachlässigten Grünstreifen bis zur Brunnenstraße und zurück. Wagner erzählt, dass es hier sogar Nachtigallen gäbe, deren Gesang er gelauscht habe. Ob er auch nachts Spazieren gehen würde, frage ich ihn daraufhin in Anspielung auf sein jüngstes Buch Nachtwachin dem Wagner zusammen mit einer Schildkröte an prägnanten Orten der Stadt zu sehen ist. „Manchmal“, entgegnet er, „nachts ist die Stadt leerer und hat ihren eigenen Reiz.“[2]

Wir gehen die Swinemünder Straße Richtung Norden bis wir zu einem orangenen, verlassenen Gebäude kommen. Es ist die Diesterwegschule, die vor einem Jahr in die Denkmalliste aufgenommen wurde, aber trotzdem auf ihre Wiedererweckung wartet. Fasziniert von dieser eigenen Architektursprache, den vertrockneten Pflanzen innen und den wuchernden Pflanzen außen, umrunden wir das Gebäude und rätseln, warum es weiterhin leer steht.

Um zurück in den Park zu gelangen, laufen wir unter dem baufälligen und überschwemmungsanfälligen Gleimtunnel und kommen auf der Prenzlauer Berg-Seite des Parks hinaus. Wir stehen vor einem kleinen Wasserbecken, in dem sich drei Solaranlagensonnenblumen und zahlreiche Findlinge befinden. Aus undurchdringlichem Grün klingt Spatzengezwitscher. Wir lassen den Falkplatz (der viel älter ist als der Mauerpark und tatsächlich als Grün- bzw. Spielfläche angelegt war, während der Mauerpark erst durch bürgerliches Engagement dazu wurde) sowie die Max-Schmeling-Halle links liegen und gehen zum Birkenwäldchen. Wagner ist begeistert von der Höhe der Birken, schließlich sind die Bäume noch keine dreißig Jahre alt. Er zeigt auf eine Baumreihe an der Seite und kommentiert, dass diese Bäume wahrscheinlich westlich der Maueranlage standen, wo sie in den Jahren nach dem Mauerfall ungehindert wachsen konnten, weil sich erstmal niemand um sie scherte. Wir folgen freigelegten Gleisen im Boden und Wagner erzählt, dass diese zum Güterbahnhof gehörten, zu dem die Züge der Nordbahn fuhren. Zwischen dem Güterbahnhof im Westen und dem Jahn-Sportpark, der 1951 für die Weltjugendfestspiele errichtet wurde, verlief seit 1948 die Grenze zwischen Ost und West-Berlin, das heißt hier war Sperrzone.

Heute ist der Park hochfrequentiert – und ein Abbild der heterogenen Bewohnerschaft aus den angrenzenden Vierteln, bemerkt Wagner als wir an der Miniversion der Prinzessinnengärten vorbei kommen, die im Winter etwas trostlos aussieht. Ich füge hinzu, dass mir positiv auffällt, wie oft der Park sein Gesicht verändert und immer wieder anders anmutet.  

Als wir zu unserem Ausgangspunkt zurückkehren, macht er mich auf das neue archäologische Fenster aufmerksam. Ein schon jetzt rostiges, etwas brachial anmutendes, in den Boden gelassenes Rechteck, das kryptisch aussehende Reste der DDR-Grenzanlagen umrandet. Auf einem Infoschild kann man etwas zur Geschichte des Parks nachlesen, „Vom Exerzierplatz zum Mauerpark“ lautet die Überschrift. Auf den aufgebrachten Fotos kann man gut die Entwicklung des Parks nachvollziehen, wobei mich besonders das Bild fasziniert, dass Anwohner*innen nach der Wende zeigen, die damit beschäftigt sind, das brachliegende Niemandsland eigenmächtig zu begrünen und zu einem Park umzufunktionieren. Auf dem Infoschild heißt es dazu: „Nach der Öffnung der Mauer 1989 eigneten sich Bürgerinitiativen den früheren Mauerstreifen an. Aus den vielfältigen Aktivitäten zur Begrünung des Grenzstreifens entstand seit 1992 der Mauerpark.“ Das Ringen um die Fertigstellung des Parks hat fast 30 Jahre gedauert. Eine Chronologie dieses zähen Kampfes liefern Heimo Lattner und Judith Laub mit ihrem Buch Die Mauerpark-Affäre. Sie arbeiten nicht nur die Vielzahl der unterschiedliche Akteur*innen heraus (von mehreren Bezirken über diverse Interessengruppen wie trampelwütige Feiernde, Sporttreibende, Familien), sondern legen auch die Spannungsfelder offen, innerhalb derer sich der Park befindet: einerseits Kultstatus, anderseits politisches Streitobjekt, einerseits der Wunsch, historischen Spuren zu erhalten, andererseits das Bemühen, um den Erhalt von Freiräumen: „Der Mauerpark genießt Kultstatus, weit über die Grenzen der Stadt hinaus. Ein Terrain im Dialog mit den noch lesbaren Spuren der Vergangenheit. Ein von der Geschichte gezeichnetes Gelände, in das man eintreten kann, das Raum für individuelle Aneignung und eigenwillige Nutzung bietet.“[3]

[1] David Wagner: Mauerpark, in: ders.: Mauer Park, Verbrecher Verlag Berlin, 2013, S. 224.
[2] Ingo van Aaren/ David Wagner: Nachtwach, Distanz Verlag, Berlin, 2020
[3] Heimo Lattner und Judith Laub: Die Mauerpark-Affäre, Berliner Hefte zu Geschichte und Gegenwart der Stadt, Berlin 2016, S. 7.

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