Anna-Lena Wenzel

Dr. Anna-Lena Wenzel* ist Autorin und Künstlerin. Nach ihrem Studium der Angewandten Kulturwissenschaften in Lüneburg promovierte sie über „Grenzüberschreitungen in der Gegenwartskunst“. Sie betreibt das Online-Magazin 99 % Urban und den Radiosalon für Alltägliches und ist in unterschiedlichen kollektiven Zusammenhängen unterwegs.

Diversity Arts Culture: „Wir sind ein lernendes Projekt“

24.04.2019

Ein Gespräch zum zweijährigen Jubiläum von Diversity Arts Culture mit Sandrine Micosse-Aikins und Eylem Sengezer

Im April 2017 wurde Diversity Arts Culture – eine Konzeptions- und Beratungsstelle für Diversitätsentwicklung – vom Berliner Senat gegründet. Zwei Jahre nach ihrer Gründung befrage ich die Leiterin Sandrine Micosse-Aikins und Eylem Sengezer, Referentin für Öffnungsprozesse Kulturinstitutionen über ihre Arbeit und dazu, was sie in den zwei Jahren erreicht haben.

Anna-Lena Wenzel: Woraus ist Diversity Arts Culture entstanden? Was war der Startschuss für die Gründung?

Sandrine Micosse-Aikins: Wir sind aus dem Projektfonds Kulturelle Bildung und der Abteilung Kulturelle Bildung der Kulturprojekte Berlin GmbH hervorgegangen. Beim Projektfonds haben wir bereits Diversitätsentwicklung gemacht, nur in ganz klein. Mit der Wahl des Berliner Abgeordnetenhauses 2016 gab es einen Auftrag, eine Stelle einzurichten, das war so im Koalitionsvertrag festgehalten worden. Weil die Kulturprojekte dem Senat solche Aufgaben zum Teil abnehmen, wurden wir mit dem Aufbau beauftragt.

ALW: Wie groß ist euer Team?

SMA: Anfangs waren wir zu dritt, mittlerweile sind wir sieben Mitarbeiterinnen.

ALW: Was für Hintergründe habt ihr?

SMA: Wir kommen alle aus dem Kulturbetrieb und haben in unterschiedlichen Bereichen und Institutionen gearbeitet. Eine Kollegin ist zum Beispiel Schauspielerin und Kulturwissenschaftlerin, andere kommen aus dem Bereich Bildende Kunst und dem Kuratorischen. Zugleich waren wir alle kulturpolitisch aktiv, als Freiberuflerinnen und/oder Aktivistinnen. Deswegen sind wir mit diesen Themen schon lange vertraut. Dieses Community- und Erfahrungswissen tragen wir in das Projekt.

ALW: Was macht ihr genau?

SMA: Es gibt fünf Säulen: Erstens die Arbeit mit der Verwaltung; zweitens die Arbeit mit Institutionen und drittens die Arbeit für die Öffentlichkeit. Da gibt es Programme, die sich aufsplitten in Sensibilisierung und Professionalisierung für Leute, die sich über Antidiskriminierung informieren wollen und Empowermentangebote, die sich an diejenigen richten, die von Diskriminierung betroffen sind. Fünftens gibt es noch den Bereich Forschung und Datenerhebung, wo wir meistens Aufträge vergeben, die stichprobenartig und modellartig Daten erheben.

ALW: Und wie muss ich mir einen Arbeitstag von euch vorstellen?

Eylem Sengezer: Unser Arbeitsalltag besteht unter anderem darin, Kulturinstitutionen und Kulturschaffende, die uns anfragen, zu beraten. Auf Podiumsdiskussionen oder in Workshops stellen wir unsere Konzepte und Methoden vor. Neben der punktuellen Beratung begleiten wir Institutionen aber auch in diversitätsorientierten Organisationsentwicklungsprozessen. Wir moderieren diese Prozesse und erheben zudem in einer Studie Gleichstellungsdaten. Darüber hinaus organisieren wir entsprechende Strategiegespräche mit Wissenschaftler*innen und Expert*innen aus dem Bereich Diversitätsentwicklung.

SMA: Wir verbringen viel Zeit mit Vermittlung und Konzeption und damit, uns Dinge auszudenken, sie zu iterieren und auszuwerten. Wichtig sind auch die Vernetzungsarbeit und das Kennenlernen von potentiellen Partnern, die zum Beispiel Workshops für uns machen.

ES: Netzwerkarbeit ist ein großes Thema. Wir versuchen uns auch über Berlin hinaus zu vernetzen und auszutauschen zum Beispiel mit Kolleg*innen wie dem Arts Council England oder dem Social Fund for the Performing Arts in Brüssel. Gleichzeitig strecken wir permanent unsere Fühler aus und reagieren auf aktuelle Ereignisse wie zum Beispiel die Debatte um die Anti-Rassismus-Klausel.

SMA: Vieles, von dem, was wir machen, hat niemand vorher je so gemacht hat. Das ist auf jedem Fall etwas, was uns von anderen unterscheidet. Deswegen müssen wir die ganze Zeit überprüfen, ob es überhaupt funktioniert und dann eventuell die Dinge noch mal neu denken. Es gibt nicht eine stringente Logik, der wir folgen, wir sind ein lernendes Projekt, ein permanenter Lernprozess und häufen unglaublich viel Wissen an.

ALW: Was habt ihr in den zwei Jahren erreicht?

SMA: Wir haben ein großes offenes Workshop-Programm zum Thema Antidiskriminierung im Kulturbetrieb aufgebaut, das sehr stark nachgefragt ist. Außerdem haben wir eine Webseite entwickelt, auf der wir in verschiedenen niedrigschwelligen Formaten Wissen zum Thema Diversität vermitteln. Wir haben sehr viel zu tun, aber ich weiß nicht, ob wir immer die erreichen, die wir erreichen wollen. Wir würden uns wünschen, dass es mehr Engagement seitens der Leitungsebenen gibt. Oft wird das Thema in den Mittelbau oder die Vermittlung geschoben, aber dort verhungert es oft. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass es relevant ist, ob sich eine Leitung dahinterklemmt und aktiv wird oder nicht.

ES: Es kommt aber auch vor, dass sich in Institutionen eine kritische Masse von Mitarbeitenden bildet, die dann Druck ausübt und etwas verändern kann. In einigen Institutionen haben sich mittlerweile Diversity-AGs gegründet, das ist eine tolle Entwicklung.

SMA: Dennoch ist es so, dass man sich an den Strukturen reibt, in denen man arbeitet. Es gibt Bedarf Strukturveränderungen durchzuführen, doch die Verwaltungen sind ziemlich träge. Da ist erst mal viel Widerstand. Es ist eine langfristige Aufgabe.

ES: Unsere direkten Ansprechpartner sitzen im Grundsatzreferat der Senatsverwaltung für Kultur und Europa. Dadurch haben wir nicht immer guten Zugang zu den einzelnen Referaten, die unmittelbar mit den Kulturinstitutionen und Projekten zusammenarbeiten. Wir müssen meistens Umwege gehen – im Idealfall gäbe es in allen Referaten Ansprechpersonen, die für Diversitätsfragen verantwortlich sind. Unser Vorschlag ist deshalb, Diversitätsfragen als Querschnittsaufgabe in der Kulturpolitik zu verstehen.

ALW: Wie offen sind die Kulturinstitutionen für Veränderungen – bei einigen, wie dem Hebbel am Ufer oder der Galerie Wedding könnte man ja denken, dass sie euch mit offenen Armen empfangen, weil sich ihr künstlerisches Programm ebenfalls mit Diversität beschäftigt?

SMA: Wir machen die Erfahrung, dass das Thema auf einer künstlerischen Ebene zwar verhandelt wird, die Bereitschaft etwas zu verändern, aber schnell an ihre Grenzen stößt, sobald es um die strukturelle Ebene geht. Wenn die Machtfrage gestellt wird, und man fragt, wer eingestellt wird, dann wird es kritisch.

ES: Dabei zeigt sich oft, dass Institutionen Diversität oder Vielfalt unterschiedlich verstehen. Dieses Verständnis zielt häufig darauf ab, ein diverses Publikum anzusprechen. Nur selten stehen die Mitarbeitenden der Institution im Fokus. Der Kulturbetrieb ist zwar international aufgestellt, aber Kulturschaffende mit Rassismuserfahrungen, die in Deutschland aufgewachsen sind, sind deutlich unterrepräsentiert.

ALW: Du hast grad die unterschiedlichen Diversitätsverständnisse angesprochen. Was für einen Ansatz verfolgt ihr?

SMA: Grundsätzlich verfolgen wir einen intersektionalen Ansatz. Weil sich unterschiedliche Diskriminierungen aufgrund von Geschlecht oder einer bestimmten Klassenzugehörigkeit oft vermischen, lassen sich die Diskriminierungen nicht voneinander trennen. Sie wirken zusammen und führen zu einer spezifischen Erfahrung, auf die es zu reagieren gilt. In einem Wörterbuch auf unserer Webseite sammeln wir die für unsere Arbeit zentralen Begriffe mit kurzen Erläuterungen. Ich habe den Eindruck, dass es zurzeit relativ viele Diskussionen über Macht im Kulturbetrieb gibt. Da geht es nicht immer nur um Rassismus, sondern um Strukturen, Hierarchien und Machtmissbrauch…

ALW: …wie bei der Barenboim-Debatte

SMA: Ja, genau. Ich finde, das muss man zusammendenken, weil es zusammengehört. Diversitäts- und Antidiskriminierungsarbeit kann nur funktionieren, wenn sie mit einer grundsätzlichen Debatte über Macht und Machtmissbrauch geführt wird.

ALW: Hat sich euer Selbstverständnis über die Zeit verändert?

SMA: Es war von Anfang an klar, dass wir die Diskurse, die wir in wissenschaftlichen Kreisen führen, nicht als Grundlage nehmen können, sondern viel übersetzen müssen, damit das anschlussfähig wird. Ich habe das Gefühl, dass das relativ gut funktioniert, weil wir nur wenig Backlash bekommen. Das hatte ich anders erwartet.

ES: Das liegt aber auch daran, dass es für unsere Arbeit eine gesetzliche Grundlage gibt. Jede*r Arbeitgeber*in muss eine Gleichstellung gewährleisten und aktiv Diskriminierung entgegentreten.

ALW: Ihr habt von Veränderungen gesprochen, die gerade viel Zeit und Energie einnehmen. Was für Veränderungen sind das?

SMA: Unser Träger hat sich mit dem 1. Januar 2019 verändert. Wir sind nicht mehr Teil der Kulturprojekte Berlin GmbH, sondern sind ein Projekt der Stiftung für Kulturelle Weiterbildung und Kulturberatung und werden von der Senatsverwaltung für Kultur und Europa gefördert. Durch diesen Wechsel mussten wir uns mit vielen administrativen und bürokratischen Fragen beschäftigten, die uns leider von unserer eigentlichen Arbeit abgehalten haben. Zudem sind wir umgezogen: aus der Klosterstraße in Mitte in den Spandauer Damm in Charlottenburg. Das fühlt sich hier schon anders an. Wir sind hier einfach nicht mehr so gut erreichbar. Ich freue mich aber auch, dass wir jetzt ein eigenes Büro und ein bisschen mehr Gestaltungsfreiheit haben.

ALW: Was wünscht ihr euch? Wo seht ihr aktuell den dringendsten Handlungsbedarf?

SMA: Bei uns landet viel, was nicht zu unserer Kernaufgabe gehört. Weil es keine Anlaufstelle für Menschen gibt, die Diskriminierungserfahrungen im Kulturbetrieb gemacht haben, kommen die Leute zu uns.

ES: Aber wir können sie weder juristisch noch psychologisch betreuen. Es bräuchte eine überbetriebliche Antidiskriminierungsstelle für den Kulturbetrieb, die Vorfälle systematisch dokumentiert, evaluiert und daraus Erkenntnisse für die Politik zieht. Wir können lediglich Kontakte vermitteln und uns solidarisch zeigen.

SMA: Man bräuchte zudem für die Zusammenarbeit mit der Verwaltung eine Person, die die Veränderungsprozesse managt. Nur weil sich der Kultursenator für etwas ausspricht, haben das noch nicht alle mitbekommen und finden das alle gut. Es braucht zusätzliche Kapazitäten, das an die Leute heranzutragen und zu vermitteln.

Teilen