Vanessa Gravenor: Deinen professionellen Hintergrund hast du als Übersetzerin und Autorin. Jetzt arbeitest du aber hauptsächlich im Bereich Dokumentarfilm und befasst dich mit solchen Themen wie Krieg, syrische Diaspora, Propaganda und Gewalt. Wie kamst du zum Film?
Liwaa Yazji: Ich habe englische Literatur und Dramaturgie in Damaskus studiert. In Syrien haben wir keine audiovisuellen Studiengänge. Der Staat bietet das nicht an. Nicht, weil er es nicht könnte, sondern es ist eine politische Haltung gegenüber dem Film. Man möchte es nicht. Das Ergebnis ist, dass viele Regisseur*innen im Ausland studieren – in Russland, Polen, Frankreich oder Großbritannien. Ab 2005 interessierte ich mich sehr für Kameraarbeit. Und so half ich Freunden bei ihren Shootings, habe mir viel selbst beigebracht.
VG: „Haunted” war dein Debütfilm. Er lässt uns tief in die frühen Tage des Bürgerkriegs schauen, zeigt Gegenstände und Häuser, welche Menschen zurücklassen mussten. Wie bist du beim Filmen und Recherchieren vorgegangen, hast du die Interviews in Syrien und im Libanon geführt?
LY: Ich habe vor der Revolution als Regieassistentin für einen Film gearbeitet und wir haben die Dreharbeiten an dem Tag beendet, an dem die Revolution ausbrach. Der Film „Haunted” ist keine Metapher, sondern zeigt, was passiert, wenn der Krieg in dein eigenes Zuhause kommt. Was tu ich in diesem Moment? Was nehme ich mit (Zeugnisse, Liebesbriefe, …)? Zumal nicht jeder den Luxus hatte, sich diese Frage überhaupt stellen zu können.
Ich habe 2012 angefangen zu filmen und bin Ende 2014 fertig geworden. In dieser Zeit gab es noch keine Flüchtlingskrise. Ich war froh, dass ich die Gelegenheit hatte, mit Menschen in ihren Häusern in Syrien drehen zu können. Denn ab 2015 sah es medial immer so aus, als wären Syrer*innen plötzlich natürlich geborene Flüchtlinge und lebten in Zelten. Einige der Protagonist*innen lebten während der Dreharbeiten bereits in Lagern, andere waren dabei ihre Sachen zu packen. Vor dem Hintergrund der eigenen Familiengeschichte konnte hier jeder diese Bilder in Verbindung bringen und sehen, wie es zu den Fluchtereignissen kam.
VG: Dein Stück „Goats”, das sich mit dem Thema Propaganda und Mediengewalt befasst, wurde am Royal Court in London uraufgeführt und bietet insbesondere eine vergrößerte und beunruhigende Perspektive auf das Leben innerhalb des syrischen Regimes. Während des Krieges überreichte das Regime jeder Familie, deren Sohn den Märtyrertod starb, eine Ziege. Dies war dein Ausgangspunkt für das Stück. Wie begann die Recherche für die Produktion?
LY: Als der Krieg ausbrach, bemerkte ich dass wir ständig versuchen, alle Ereignisse als normal zu klassifizieren, nur um mental gesund zu bleiben.
Es gibt keinen Strom, aber wir haben immer noch Wasser. Wenn es dann auch kein Wasser mehr gibt, versuchst du es mit Durchalteparolen. Du kannst es schaffen. Aber es kommt der Punkt, da zerschmettert dich der Krieg.
Ich fing an, surreale Geschichten zu hören, sie aufzuschreiben und zu fragen: Würde man diese Bedingungen in einer anderen Situation akzeptieren? Die Menschen waren in einem inneren Verteidigungsmechanismus, man hat gesehen wie der Krieg sie verändert. Natürlich war die ganze Propaganda eine Herausforderung, weil es ein Krieg der Erzählungen war. Wenn eine Bombe auf die Straße fiel, hat jeder seine eigene Art zu erzählen, wie es passiert ist, und dies macht es schwierig, die Wahrheit zu entschlüsseln.
Ich habe an meinem Projekt gearbeitet, indem ich Notizen aufgeschrieben und Geschichten gesammelt habe und so dieser Schneeball größer wurde.
Daraus entwickelte sich meine Teilnahme am Royal Court Theatre-Programm für internationale Dramatiker*innen, und ich hatte das Gefühl, dass hier ein Moment entsteht, in dem sich die einzelnen Noten zu einem Stück verdichten, ich sie zusammen komponieren kann. Zeitlich fiel das in die Trump-Präsidentschaft, zu der ja international das Thema “post-truth” diskutiert wurde. Propaganda und narrative Manipulation wurden so zu einem globalen Thema.
VG: Im Moment arbeitest du an einem Stoff aus Berlin. Es geht um eine Fernsehserie mit dem Titel „Heim”, um geflüchtete Menschen, die in einer Notunterkunft in Tempelhof leben. Inzwischen gibt es diese Notunterkunft nicht mehr, aber viele ähnliche in Deutschland. Was ist dein Ansatz für diese Erzählung?
LY: Von Menschen, die aus Syrien geflohen sind, hörten mein Partner und ich immer wieder Erzählungen zu diesem speziellen „Heim”am Tempelhofer Feld. Wirdachten, wir müssen mehr erfahren und wollten vor Ort recherchieren. Aber wir bekamen keinen Zutritt. Also haben wir Freund*innen gefragt und Ausweise von Journalist*innen bekommen, damit wir an Pressekonferenzen teilnehmen können. Je mehr wir recherchierten, desto mehr sahen wir, dass alles was wir hörten und lasen, sich tatsächlich dort so abspielte. Die Entscheidung, nach Berlin zu gehen, als Stadt mit all dieser Geschichte und diesen Schichten von Migrant*innen war richtig. Dieses Heim war ein modernes Ghetto in einer Großstadt, so haben wir das empfunden.
VG: Es gab auch ein Zerwürfnis mit der deutschen Produktionsgesellschaft.
LY: Wir haben versucht,die Geschichte in Bezug auf Deutschland zu vertiefen, also mehr deutsche Charaktere einzuführen. Die Produktionsgesellschaft bestand darauf, alles auf deutsch zu synchronisieren, was aber die ganze Sache ad absurdum geführt hätte. Das Wesentliche an der dramatischen Verbindung und den Missverständnissen zwischen Protaganist*innen ist, dass sie nicht dieselbe Sprache sprechen. Dass wir hier Afghaninnen, Syrerinnen, Irakerinnen, Rumäninnen, Brasilianerinnen, Somalierinnen haben – wenn sie alle perfektes Deutsch sprechen, wäre das karikaturistisch. Jemand, der gerade aus Afghanistan gekommen ist, fließend Deutsch spricht, komm schon, das ist nicht möglich! [lacht]
Dann wurde auch diese Handygeschichte thematisiert, dass geflüchtete Menschen doch unmöglich so teure Smartphones besitzen können. Ja, sie verkaufen alles, um ein gutes Smartphone zu haben, weil dies die einzige Möglichkeit ist, zu navigieren. Wir haben gestoppt und der Produktionsgesellschaft gesagt, so können wir nicht weitermachen. Wir wollen dieses Projekt so nicht. Wir waren ein bisschen überrascht, da wir die Fernsehbranche in der arabischen Welt kennen und wissen, welche Einschränkungen sie haben. Aber wir wollten nicht glauben, dass wir in Deutschland die gleichen Probleme haben würden.
VG: Wie geht es mit diesem Projekt jetzt weiter?
LY: Es ist ja ein fiktionaler Stoff, eingebettet in diese reale Situation der damaligen Notunterkunft in Tempelhof. Eine Liebesgeschichte, ein Krimi. Wir haben uns beim Doha Film Institute beworben und ein Stipendium zur weiteren Entwicklung des Stoffs erhalten. Wir suchen jetzt eine Produktion für diese Serie. Bestimmte Projekte gedeihen in einem historischen Moment. Ich hoffe unser Projekt behält seine Relevanz, auch wenn Corona im Moment natürlich alles überlagert.
VG: Du lebst seit einigen Jahren in Berlin, nachdem du Syrien verlassen hast und zwischendurch in Beirut gearbeitet hast. Was ist deine Beziehung zu Berlin? Hat dich die Stadt künstlerisch bereichert?
LY: Es war ja eine bewusste Entscheidung, für das Projekt „Heim” nach Berlin zu kommen. Je mehr Zeit wir hier verbringen, desto besser verstehen wir die türkischen, libanesischen, syrischen Flüchtlingsgemeinschaften, die Beziehung der Deutschen zu diesen geschlossenen Gemeinschaften, die Ghettos und welche Arten von Jobs sie ausführen dürfen. Das gibt „Heim” mehr Tiefe.
Und ich kümmere mich parallel immer um die Frage, warum Menschen nicht einfach zurückkehren in Länder, aus denen sie geflüchtet sind. Ich habe ja nicht nur mit Leuten gefilmt, die gegangen sind sondern auch mit denen, die geblieben sind. Und es ist unglaublich: Menschen in Syrien wollen nicht, dass die Gegangenen zurückkehren, während die Geflüchteten glauben, in der Heimat wartet jemand auf sie. Die europäischen Regierungen ermuntern ja Geflüchtete, zurückzukehren, bieten finanzielle Anreize. Es gibt eine Menge Leute, die metaphorisch in den internationalen Gewässern geblieben sind, niemand will sie. Ich war mit diesem Film in der Doc Station der Berlinale. Bei diesen Fragen geht es nicht nur um Menschen aus Syrien sondern auch um die Einstellung, warum diejenigen, die reisen, nicht zurückkehren. Warum heißen manche Menschen Flüchtlinge und andere Expats?
VG: Du hast an vielen Projekten teilgenommen bei denen sich Kunst mit Aktivismus überschneidet z.B.an der Protest- bzw. Kunstausstellung „The Economy of Borders“ am Moabiter Rathaus, die zu Beginn der Pandemie auf die europäische Schließung von Grenzen reagierte. Welche Rolle spielt die politische Verantwortlichkeit in deinerkünstlerichen Praxis?
LY: Ich glaube, dass ich eine Künstlerin bin, die sich mit der politischen Situation um mich herum befasst. Ich verstehe Menschen, die Kunst um der Kunst willen machen, vollkommen, aber ich bin mit gesellschaftspolitischen und menschlichen Strukturen beschäftigt. Meine Arbeit kommt von etwas, das mich beunruhigt, mich stört. Aktivismus ist für mich ein Teil meines Lebens. Meine politische Haltung, die Art und Weise, wie ich die Welt verstehe, welche Rolle ich bei Katastrophen spiele, welche Rolle ich beim Leben in einer Gemeinschaft spiele. Ich versuche diese Position zu verstehen und frage mich dann was ich tun kann um zu verstehen, wie ich es tun soll.
Liwaa Yazji ist Filmemacherin, Lyrikerin, Autorin und Übersetzerin. Sie machte ihren Abschluss in englischer Literatur und Theaterwissenschaften. Ihr erstes Stück Here in the Park wurde 2012 veröffentlicht, gefolgt von einer Reihe von Gedichten unter dem Titel In peace we leave home sowie ihrer Übersetzung ins Arabische von Edward Bonds Text Saved. Liwaas Stück Q&Q wurde 2017 vom The Birth Festival des Royal Exchange Theatre in London produziert. Ihre erste Dokumentation Haunted realisierte sie 2014. Derzeit ist Yazij Co-Autorin von HEIM, einer TV – Serie, die in Deutschland produziert wird. Im Jahr 2015 hatte sie eine Residenz des New Yorker Poets House inne. Sie ist Mitglied der Ettijahat-Independent Culture.