Glück ist ein großes Wort, dessen Definition schwer allgemeingültig zu klären ist. Aber wenn Künstler*innen in Berlin-Mitte eine große Fläche finden, die sie nur zum Preis der Nebenkosten mieten können, dann kann man dieses große Wort dafür schon mal nutzen. Esther Lange Brencick hat es gehabt, besagtes Glück. Über einen Bekannten bei der Hausverwaltung erfuhr sie, dass an der Invalidenstraße eine große Erdgeschosswohnung – Keller, kleiner Garten, mehrere Räume – seit fünf Jahren leer steht. Die Wohnung müsste eigentlich renoviert werden. Doch weil noch nicht klar ist, ob das Haus nicht bald verkauft wird, passiert das nicht. Lange Brencick fragt an und darf es zur Zwischennutzung mieten. Unrenoviert, dafür aber eben nur zum Preis der Nebenkosten, was insgesamt nur 1.000,00 Euro sind.
Das war im letzten Sommer. „Ich habe dann Leute eingeladen, ein bisschen wie bei einem WG-Casting“, erzählt Lange Brencick. „Ich habe alle rein nach ihrer Persönlichkeit ausgewählt, nicht nach Kunst oder so.“ So findet sie elf Künstler*innen, die mit ihr ihre Ateliers beziehen – der Projektraum 145 ist geboren. Die Idee: Künstler*innen, die nicht viel Geld haben, sollen die Möglichkeit kriegen, zu arbeiten und ihre Kunst zentral auszustellen.
Guter Vibe erfüllt die Räume
Esther Lange Brencick, Michael Hazell und Roman Weiler führen mich an einem sonnigen Mittwochvormittag im August durch die Räume. Auf den Bildern, die man bei Facebook oder bei Instagram finden kann, wirkt es so, als wäre der Projektraum 145 nur ein einzelner kleiner Raum. Vier Wände, Fliesen, fertig. Doch Ausstellungsräume gibt es zwei kleine, seit neuestem sogar mit einer kleinen Bar. Und hinter den Galerieräumen erstreckt sich die Wohnung noch weiter, in einen langen Flur, drei große Räume, einen ausgebauten Keller und eine umgebaute Garage, Küche und Garten.
„Hier vorne wurde Yoga gemacht“, sagt Weiler, der mit einem Freund das Modelabel Vupax gegründet hat und im Projektraum Shirts bedruckt. „Vorher war hier die Glaubensgemeinschaft Hare Krishna drin“, ergänzt Lange Brencick. „Deswegen kleben hier an manchen Stellen noch so Sachen“, sagt sie und deutet auf einen Sticker mit dem Sanskrit-Zeichen Om. Die Räume sind heruntergerockt, es gibt keine Deckenbeleuchtung und im Winter auch keine vernünftige Heizung. Streichen, notdürftige Renovierungen, all das hat die Gruppe gemeinsam gemacht. „Alles ist ein bisschen Do-It-Yourself“, sagt Weiler. Weil die Künstler*innen vieles, aber eben nicht alles können, sind auch ein paar Dinge einfach kaputt: eine Toilette in einem der beiden kleinen Badezimmer, zum Beispiel.
Aber das sehe ich beim Durchgehen kaum. Zu sehr bin ich abgelenkt von bemalten Leinwänden, Farben, Pinseln, Poster, Computern, Fotografien, Leitern, Gipssäcken, Büchern, Garderobenstangen mit bunten Kleidungsstücken, die in den einzelnen Räumen auf Schreibtischen liegen oder an der Wand gelehnt stehen. „Wir haben nicht aufgeräumt, deswegen sieht es ein bisschen unordentlich aus“, sagt Lange Brencick etwas entschuldigend. Dabei wohnt den Räumen eine Atmosphäre inne, die sie nicht unordentlich wirken lässt, sondern Kreativität spürbar macht. Ob es an der Sonne liegt, die durch die Fenster hineinscheint oder daran, dass vorher die Hare Krishna-Gemeinschaft hier meditiert und gesungen hat: Der Projektraum 145 hat einen guten Vibe.
Vielleicht liegt es aber auch daran, dass sich alle Künstler*innen hier gut verstehen, es kein Zweck-Atelier ist. „Es ist toll, dass man hierher kommen kann und mit großer Wahrscheinlichkeit noch jemand anderes da ist“, sagt Claudia Gillies, die gern mit Acryl- oder Ölfarbe auf großflächigen Leinwänden arbeitet. Wir sitzen mittlerweile in einer kleinen Runde in dem Innenhof-Garten des Projektraumes in der Sonne um einen kleinen runden Tisch. Neben Gillies, Hazell, Weiler und Lange Brencick haben sich auch Zeichnerin Ève Simon und Malerin Cory Blair dazugesellt. Sie alle hielten die Annonce, die Esther Lange Brencick aufgegeben hat, erst für einen Scherz. „Eine so günstige Wohnung mitten in der Stadt – ich dachte erst, man wolle mich reinlegen“, sagt Michael Hazell, der viele Programme des Projektraums kuratiert.
Alle paar Wochen finden beispielsweise Ausstellungen statt. Die Themen variieren – genau wie die Besucher*innenzahl. Der Raum liegt zwar in Mitte und an einer Hauptstraße, aber außer Büroräumen ist nicht viel drum herum, was Leute veranlassen würde, zufällig an dem Projektraum vorbeizuschlendern und ihn so zu entdecken. Dass es genau einen solchen dort nun gibt, muss sich erst noch herumsprechen. Mit „Queerness“, einer der letzten Ausstellungen scheint das gelungen zu sein. Sie wurde anlässlich des 50. Jahrestages der Aufstände von Homo- und Transsexuellen in der LGBT-Bar Stonewall-Inn in New York, die als Beginn der Schwulenbewegung gelten, konzipiert. Queeres Leben wurde in unterschiedlichen Medien, wie Malerei, Film, Performance und Lesung, und unter unterschiedlichen Aspekten bearbeitet. Sie scheint einen Nerv der Zeit getroffen zu haben: zehn Tage waren die Räume immer gut besucht. „Das war echt Wahnsinn“, sagt Lange Brencick.
Wenn es nach den Künstler*innen ginge, könnte es so gerne weitergehen. Denn es steht ein besonderes Datum an: der erste Geburtstag des Projektraumes. Es steht zwar noch nicht fest, wann und wie – aber gefeiert werden soll er auf jeden Fall.