Wie stehengelassen lehnen die stählernen Zauntore an der Wand im Hamburger Bahnhof. Weiß lackierte Rundstäbe durchbrochen von roten Kreisen. Lange Sommertage kommen einem in den Sinn, an denen man die Vorgartenzäune auf dem Dorf mit der Hand entlangfuhr, der splittrige Lack unter den Fingerkuppen, Geruch von trockenem Gras und warmem Asphalt, müdes Vogelgezwitscher. Alle Sinneswahrnehmungen unterstrichen das Gefühl des Stillstands – nichts passierte.
Die Zäune am Eingang der Ausstellung werden sich später als Motiv in Pichls Zeichnungen wiederholen. Geschichte kann man auf viele Arten erzählen. Politisch-historisch im Großen und Ganzen oder ganz klein und persönlich, in der Erinnerung des Individuums. Andrea Pichl verknüpft in ihrer Ausstellung „Wertewirtschaft“, die nur noch kurze Zeit zu sehen ist, die unterschiedlichen Erzählstränge zu einem dicht gewobenen Netz, lässt untergegangene Objekte wieder aufleben, kontextualisiert sie – und lässt sie wieder untergehen.
Pichl ist die erste Künstlerin mit ostdeutscher Biografie, die 35 Jahre nach Ende der DDR im Hamburger Bahnhof ausstellt. Ausgerechnet mit Joseph Beuys, dem Kunst-Faktotum der alten Bundesrepublik, treten ihre zeitgenössischen Arbeiten in den Kleihueshallen in Dialog, unter anderem mit seiner Werkgruppe Wirtschaftswerte, für die Beuys Mitte der 1970er-Jahre Produkte des DDR-Alltags versammelte: Konserven, Reinigungsmittel, Haushaltswaren – ausgestellt in Regalen, musealisiert, aufgeladen und interpretiert als „Energiespeicher“, als stille Zeugnisse einer nicht-kapitalistischen Warenwelt.
Im Hamburger Bahnhof dreht Pichl nun nicht nur den Titel um. Auch die 1964 in Sachsen-Anhalt geborene Künstlerin gruppiert diverse materialisierte Überbleibsel des untergegangen deutschen Arbeiter- und Bauernstaats in ihren Installationen, teils materiell, teils dokumentarisch und deckt so kleinteilig die Komplexität des ostdeutschen Wirtschafts- und Wertesystems auf – und die zuweilen oberflächliche Naivität des Beuys’schen Werks, die exemplarisch für eine westdeutsche Perspektive auf die deutsch-deutsche Vergangenheit steht. Neben seine Straßenbahnhaltestelle setzt sie eine ostdeutsche Straßenlaterne – und taucht so fast wortwörtlich seine Werke in neues Licht.
Im Zentrum der Ausstellung steht das sogenannte Genex-System: ein Versandkatalog, über den Westdeutsche für DDR-Bürger Geschenk-Produkte – von Lebensmitteln bis hin zu Autos – erwerben konnten. Bezahlt wurde mit Devisen, die Ware blieb im Osten. Eine stille Exportwirtschaft – kapitalistisch genug, um wirtschaftlich bedeutsam zu sein, sozialistisch genug, um propagandistisch verschleiert zu werden. Eine eigene Form der Wertewirtschaft. Nicht als kapitalistischer Binnenmarkt, aber als durchorganisiertes, staatlich gelenktes System der Warenzirkulation mit dem Westen.
Vier Bungalows in schlichter Modularbauweise bilden das Herz der Ausstellung. Schwarz gestrichen, wirken die ambitionierten Architekturen wie Schatten ihrer selbst – stille Zeugen einer Architektur, die zwischen Funktionalität und sozialer Vision changierte. Doch Pichl belässt es nicht bei skulpturaler Geste. Die Bauten sind begehbar, verwandeln sich in thematische Miniaturen: kleine Ausstellungshäuser, die Aspekte von Wohnpolitik, Erinnerungskultur und Überwachungsgeschichte zusammenführen.
In einem der Räume begegnet man Pichls Buntstift-Zeichnungen – kleinformatigen Arbeiten, die mit bestechender Präzision Innenräume der ehemaligen Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg dokumentieren. Die Motive stammen von eigenen Fotografien und sind fast poetisch in ihrer Sachlichkeit. Ein Frühstückstisch, akkurat gedeckt nach den Vorgaben für Erich Mielkes morgendliche Mahlzeit, wird zur Metapher für ein Regime, das Kontrolle bis in die kleinsten Gesten perfektionierte. Während Beuys im Westen auf die Kraft des „Selberdenkens“ setzte, zeigt Pichl eine Welt, in der jeder Löffel seine festgelegte Position hatte.
So zusammengeflickt wie die teerpappigen Anbauten, die sich oft bis heute in den dörflichen Gegenden der neuen Bundesländer wie pockige Muscheln an ebenjene Gartendatschen gehaftet haben, ist auch der 100 qm große monumentale Vorhang, der die Halle und ihre Exponate in zwei Hälften teilt. Die Muster darauf sind gleichermaßen bekannt wie eklektisch: aus den Ruinen wuchsen orangene Dederon-Blüten und braune Rauten in Großproduktion. Die Individualität, sie war begrenzt. Durch die Repetition wird daraus eine ästhetische Aussage über Konformität, über normierte Lebenswelten und über die Rolle von Gestaltung in der politischen Steuerung des Alltags. Dass die DDR-Textilindustrie unmittelbar nach der Wende von der Treuhand stillgelegt wurde, ist keine Fußnote, sondern Teil des Erzählten.
Durch ein nüchternes Narrativ macht Pichl das System ihres Herkunftsstaates sichtbar, deckt es Schicht um Schicht auf, mit jedem Foto, jeder Vase, jeder bautechnischen Zeichnung. Das Visuelle erzählt die Struktur, mit all ihren Widersprüchen und all ihrer Ideologie.
Ganz am Ende des textilen Vorhangs liegt eine kleine Joseph-Beuys-Edition , herausgegeben ausgerechnet von Klaus Staeck, der noch vor dem Mauerbau 1956 nach seinem Abitur in Bitterfeld in den Westen umsiedelte – weil er für sich keine Perspektive in der DDR sah. „DDR-Riechstein“ steht da in schlichten Versalien auf grauem Karton. In ihm schläft ein von Beuys signierter und in der DDR erworbener Mineralstein für Vögel. Der vermeintliche Geruch der DDR, er mag sich über die Jahre neutralisiert haben. Die künstlerische Auseinandersetzung mit der Geschichte und ihre Aneignung, sie wird es hingegen wohl niemals sein.
Andrea Pichl: „Wertewirtschaft“, Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart, Berlin, noch bis zum 4. Mai 2025.