Annegret Richter und Anna Niestroj

Portrait von Arne Schmelzer

01.04.2017
Anna Niestroj
Anna Niestroj

Autor, Dichter, Automatenheld. Ein Porträt von Ghettogether (Annegret Richter & Anna Niestroj)

Wer bist Du, was machst Du und woran arbeitest Du gerade?

Wer ich bin, weiß ich nicht, nur dass ich bin, was ich in meinem Gedichtband „Du bist“ zum Ausdruck zu bringen versucht habe. Nichts Halbes, nichts Ganzes, bin ich wie so viele von den Möglichkeiten des Lebens berauscht und verwirrt. Ich bin gegenwärtig: Verleger und Autor im Schmelzer & Krause Verlag UG (haftungsbeschränkt) sowie Aufsteller von Glückstext-Automaten, Kaugummiautomaten mit (meiner) Literatur gefüllt. Ansonsten wandere ich gern arglos durch die Gegend und höre mir Geschichten an. Früh war mir eine gewisse Beobachtungsgabe zu eigen, hinter die Kulissen des alltäglichen Geredes zu schauen und so manche Maske zu entlarven, zuvörderst meine eigene, die mir immer wieder zu Boden fiel und ich staunte, dass die Geschichte, die ich bislang der Welt von mir erzählte, längst nicht alles ist. Dass da noch soviel mehr ist, in mir und in anderen, und ich mich wunderte, warum wir uns immer nur unseren Affenarsch gegenseitig zeigen.

Um an unsere schlummernden Keime zu erinnern, habe ich ein kleines Büchlein geschrieben, ein poetisches Konversationslexikon, dessen Vermarktung ich gerade aktiv betreibe. Dieses Buch ist eng mit meiner Heimatstadt verknüpft, Altenburg bei Leipzig, weil der alte Brockhaus dort sein erstes eigenes Konversationslexikon 1813 herausbrachte. Welch ein Zufall! Dann habe ich noch ein paar Jahre in Brandenburg gelebt und durfte mit 15 das erste Mal alleine nach Berlin fahren, wohin wohl: Wedding. Und zwar stieg ich U-Bahnhof Pankstraße aus und lief Richtung Norden.

Warum Wedding?

Ich könnte jetzt etwas über den Schicksalsort Wedding schreiben, tatsächlich lebe ich hier, weil ich damals aus meiner Ein-Zimmer-Wohnung in Friedrichshain raus wollte. Da hat es sich angeboten, dass mein gegenwärtiger Mitbewohner eine Wohnung angemietet hatte, in der Gerichtstraße. Den Ausblick in die Hinterhöfe mit den vielen Garagen und dem Schriftzug an der Hinterwand eines Gebäudes des Gerichtstraße-23-Areals kannte ich schon von früher: Another brick in the wall.

Hier wohnte Günther, der Bunte, als ich 18 war. Den Bunten lernte ich in Potsdam kennen, er spielte Flöte auf einem Rohr in einer Baustelle. Ich gesellte mich zu ihm und sang Brecht. Günther war ein 66-jähriger Punk, ehemals NVA-Offizier des Militärorchesters, machte er sich einen Iro nach der Wende und fuhr jugendliche Punker zu Musikfestivals. Er hatte sich in der Gerichtstraße ein Zimmer gemietet, an der Tür ein Bild von Condoleezza Rice, seine Wichsvorlage. Hier war er am Wochenende, in der Woche führte er ein bürgerliches Leben mit seiner Frau in einem Haus in Straußberg. Das ist Wedding für mich. Letztes Jahr erfuhr ich von zwei Anglern an einem See in Brandenburg, dass der Bunte vor ein paar Jahren ertrunken ist.

Was ist Dein Lieblingsort im Wedding?

Ich bin gerne in der Wiesenburg, auch wenn jetzt große Teile von ihr abgeschlossen sind. Mein Lieblingsort aber ist unser kleiner Hinterhof, ein kleiner umzäunter Garten mit einer Linde, einem Sandkasten und einer Bank. Ich kenne keinen ruhigeren Ort im Wedding. Oft sitze ich dort allein, schreib ein Gedicht und träume von anderen Orten als dem Wedding.

(Erstveröffentlichung auf dem Blog Ghettogether)

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