Birgit Eusterschulte: Vor ein paar Tagen hast Du Wohnung und Atelier in Mitte verlassen, um einen Arbeitsaufenthalt im Bezirk Lichtenberg anzutreten, genauer gesagt hast Du ein Atelier im Stadthaus Lichtenberg bezogen. Das heißt, Du bist quasi innerhalb der Stadt verreist. Berlin ist sehr stark von seinen einzelnen Kiezen geprägt und man kennt den eigenen am besten, aber den nächsten oder übernächsten vielleicht gar nicht mehr. Lichtenberg kann von Mitte aus gesehen erst einmal ziemlich weit weg sein.
Yuki Jungesblut: So weit weg ist es eigentlich nicht, mit der S-Bahn sind es 20 Minuten. Aber ja, psychologisch schon. Und weil ich hier vorübergehend wohne, fühlt es sich tatsächlich so an, als wäre ich verreist in der eigenen Stadt. Eigentlich wäre dieses Atelier jetzt belegt von Künstler*innen aus Indien, die aber aus Pandemiegründen erst später hierher kommen können. Um dieses Vakuum zu überbrücken sind Künstler*innen aus Berlin jetzt in diesem Atelier. Der Auftrag ist, den Bezirk zu erkunden und zu schauen, was coronabedingt anders ist. Mir kommt es sehr gelegen; ich kenne den Bezirk nur wenig, da gibt es viel nachzuholen.
BE: So ein Auftrag passt ja ganz gut zu Deiner Arbeitsweise… Erkundungen von Orten, das Unterwegssein, die Suche nach etwas und das Aufsuchen von Orten beschäftigen Dich auch sonst in Deiner Arbeit. Kannst Du schon etwas zu Deinen Beobachtungen hier sagen?
YJ: Dafür ist es noch etwas früh nach einem Tag… Prinzipiell interessiert mich das Entdecken, etwas zu verstehen oder nachzuvollziehen. Das sind sehr allgemeine Begriffe des Nachdenkens und das Grundmotiv ist einfach meine Neugier. Manchmal geht es um einen Wissensbereich, den man sich durch Bücher, Beobachtungen oder Ausprobieren aneignet, aber der reale Raum ist genauso wichtig. Also, dass ich Landschaften erfahren möchte, Städte erlaufen oder andere Kulturen, und dies fotografisch festhalte, und dieses Erkunden und Fotografieren ist gewissermaßen auch eine Aneignung… und das Unterwegssein für mich Metapher oder Teil des Denkens, wenn nicht Lebens.
BE: Das klingt noch sehr abstrakt. Was ist der Ausgangspunkt für ein solches Unterwegssein – egal, ob es gedanklich oder als reale Reise stattfindet?
YJ: Der Ausgangspunkt ist ein persönlicher. Man verspürt eine Sehnsucht und sie ist an etwas gebunden, das fern ist, das nicht oder nicht mehr da ist. Es ist wie ein Bild, das ruft. Bei mir kommt das meistens von literarischen Vorlagen oder Filmen, manchmal auch von Träumen. Ich versuche, etwas Vergangenes oder Imaginiertes mit dem heute real Gegebenen zu verbinden und das ist häufig der Anlass für eine Reise oder aber genauso dann für ein Foto. Manchmal ist es auch der Versuch einen fiktiven Raum physisch zu betreten, manchmal einfach eine Gelegenheit. Das ist ein bisschen wie Grenzarbeit.
BE: Das Verhältnis von Fiktion und Realität spielt in Deinen Überlegungen eine große Rolle.
YJ: Die Realität ist ja das, womit man sich jeden Tag auseinandersetzen kann… muss… und die das Leben bestimmt. Die Fiktion oder Imagination sind das Reich der Möglichkeiten, sie sind das, was man aus der Realität machen könnte oder wie die Dinge gelegen haben könnten. Man ist ja nicht immer ganz zufrieden mit der Realität. Insofern denkt man sich alle möglichen Methoden aus, die Realität zu verbiegen, Begrenzungen aufzuheben. Manchmal auch einfach, um spekulative Modelle aufzubauen oder alternative Lesarten auszuprobieren, also herkömmliches zu unterlaufen oder manches aber auch zu bestätigen oder zu erinnern.
BE: Und „Free Style Research“ – das ist ein Begriff, den Du auf Deiner Website verwendest – beschreibt diese Vorgehensweise?
YJ: Der Begriff kommt eher aus einem anderen Zusammenhang… aus dem Recherchieren. Dieses Recherchieren ist ein Suchen oder Wiedersuchen, ein Einholen von Fakten und Konstellationen, auch um zu verstehen, wie die Wirklichkeit überhaupt so gebaut ist oder wie man sie anders zusammensetzen könnte. Da gibt es natürlich solche Institutionen wie die Wissenschaften, und diese pflegen gewisse Konventionen – dass man zum Beispiel bestimmte Methodologien anwendet und kennzeichnet oder dass man anständig seine Quellen zitiert, damit es für andere auch überprüfbar ist. Wenn ich sage „Free Style“ ist es nicht so, dass ich nicht möchte, dass jemand anderes das nachvollziehen kann, sondern, dass ich diese Recherche freimache von einem, vielleicht auch nur vermeintlichen Korsett von Bestimmungen, die mitunter gegeben sind. Auch weil mein Interesse letztlich wahrscheinlich eher mit einem Wunsch nach Erfahrbarkeit verbunden ist. Ich möchte auch etwas von der Traumwelt oder dem Unterbewusstsein da unterbringen. Das heißt… ich halte auch an bestimmten Konventionen fest, aber ich hoffe mit dem Free Style Research ein bisschen Spiel in das Ganze hineinzubringen, was für mich mit einer Form von Freiheit zu tun. Spiel und Freiheit liegen nah beieinander.
Yuki Jungesblut, Verwandtschaftsgrade (Degrees of Kinship), Extremity of a Whale, Muséum national d‘histoire naturelle (Galerie de Paléontologie et d’Anatomie comparée), Paris, 2014
BE: Es fällt auf, dass Du nicht von künstlerischer Forschung sprichst, obwohl Du Dich z.B. mit Methoden des Forschens und künstlerischer Wissensproduktion auseinandersetzt.
YJ: Tatsächlich ist mir das Free Style wichtig, das sich an der Musik orientiert, z.B. an Free Jazz, und mit dem Improvisieren, dem freien Spiel und dem Performativen in Verbindung gesetzt wird. Was ich tue, verstehe ich als eine Form von Erforschung oder Erkundung und es ist ein In-Verbindung-Setzen, also stimmt das, ich mache künstlerische Forschung. Aber wenn ich das zugegeben darf: Ich hege auch ein bisschen Argwohn, weil natürlich auch Forschung an ökonomische Gegebenheiten oder Interessen gebunden ist, und ich manchmal Sorge hatte, dass die Kunst mit dem Begriff der künstlerischen Forschung domestiziert werden könnte. Wenn Kunst als wildes Wesen gedacht wird, so ist das sozusagen die graduelle Einfriedung.
BE: Das heißt, Du möchtest Dich diesen Einhegungen der künstlerischen Forschung entziehen?
YJ: Also, ich habe ja Interesse an Gepflogenheiten aus der Wissenschaft, auch daran, dass man eine Gesellschaft, oder hier dann eher Gemeinschaft, hat. Dass man nicht allein forscht, sondern mit anderen und deren Erkenntnis einschließt. Und seinen eigenen Erkenntnisprozess gibt man wieder zurück an die Gemeinschaft, es wird geteilt und mitgeteilt. Natürlich ist das eine Idealisierung. Denn es gibt immer Hierarchien und Machtkonstellationen, die manchmal – zumindest von außen betrachtet – nicht immer gerechtfertigt erscheinen. Und es ist immer die Frage, wer darf rein oder bleibt draußen, wer darf sprechen und wer nicht, und wer entscheidet.
Yuki Jungesblut, Colonial Desire, 2013
Und z.B. ist es so, dass mich die Magie im Verhältnis zur Kunst und aber auch zur Wissenschaft beschäftigt. Das hat auch wieder mit Wissen zu tun, aber zum Teil eben auch nicht… das sind andere Repräsentationsstrukturen. Ich weiß nicht so genau, ob der Begriff Herrschaftswissen oder Deutungshoheit es trifft, jedenfalls gehört Magie nicht in den klassischen Wissenskanon der Zeit, obwohl ich meine, dass sie auf andere Weise doch recht ubiquitär geworden ist, in der Populärkultur und auch in der Kunst.
Das ist jetzt vielleicht etwas anderes, aber aus solchen Gründen denkt man dann, ok, also schaue ich eben aus einer bestimmten Perspektive, meiner eigenen, die sehr viel auch in Verbindung mit dem Film setzt, und versuche, die Welt in einer poetischen Weltsicht zu erfassen, das hat dann auch eine Struktur, es ist auch eine Form von Wissen, aber es ist jetzt kein hierarchisches Wissen in dem Sinne.
Yuki Jungesblut, Journey Meal (Chicken Nanban), 2019 aus: Kirin Quest (ongoing) / Murmurings (2020)
BE: Um Dein Vorgehen und Deinen Blick auf die Welt besser verstehen zu können, ist es vielleicht hilfreich etwas konkreter zu werdenIch dachte an ein Foto von einem Gericht namens Chicken Nanban, das eines von vielen Knotenpunkten – so könnte man sagen – in einem deiner letzten Forschungsprojekte ist.
YJ: Hm, ja. Genau, ein Knotenpunkt, ja, ein Forschungsprojekt… Für mich treffen sich in dem Bild, das ich auf meiner letzten Reise in Japan, auf dem Schiff festgehalten habe, verschiedene Erzählungen und verschiedene Zeiten, also wandert das Bild auch bei mir in verschiedene Kontexte oder Inszenierungen. Chicken Nanban ist so etwas wie frittiertes Hühnchen, ein beliebtes Gericht aus Kyushu.
BE: Du bist ausgehend von diesem Begriff den Spuren des Austausches zwischen Portugal und Japan nachgegangen, denn mit Nanban waren zunächst die Portugiesen gemeint.
YJ: Ja, die Portugiesen waren die ersten Europäer, die sich in Japan eingefunden haben und die haben ein paar Sachen mitgebracht: u.a. Zucker, Christentum, Gewehre und ein paar Wörter. Die Zeit des Austausches wird auch heute noch die Nanban-Periode genannt. Die Begegnungen sind dargestellt auf bemerkenswerten, ausgesprochen narrativen Paravents, aus japanischer Perspektive, den Nanban Screens. Nanban bedeutete ursprünglich „Südbarbaren“, weil die Schiffe aus dem Süden von Macao kamen, hieß aber eigentlich portugiesisch/spanisch und heute eher so etwas wie „fremd“ oder exotisch.
BE: Was ich an diesem Projekt interessant finde ist, dass Du nicht nur die kulturellen Einflüsse ausgehend von den Portugiesen in Japan nachvollzogen hast, sondern eigentlich die Geschichte umgedreht hast. Du hast dich in Portugal, vor allem in Porto, auf die Suche nach Spuren gemacht, die die japanische Kultur dort hinterlassen haben könnte.
YJ: Genau, das war die Idee. Oder die Spekulation. Die tatsächliche Spurensuche war erst einmal nicht so einfach bzw. die Spuren waren nicht so offensichtlich. […]
Aber das findet man ja erst im Tun heraus. Aber letztlich lasse ich mich auf einen Ort ein und sammele fotografische Notizen, Eindrücke, Stimmungen, Hinweise und verdichte sie. Am Ende steht ein Netz von Assoziationen im Raum, wie eine Geschichte, wie ein Film im Raum.
Yuki Jungesblut, The Park (Waterlow Park), London, 2016
BE: In Deinen Recherchen suchst Du häufig konkrete Orte auf, an denen Du nach Spuren suchst.Du selber hast diesbezüglich mal vom Re-Visiting gesprochen. Könnten Orte in Berlin auch Gegenstand einer solchen wiederholten Erkundung sein?
YJ: Ja, könnten sie schon und sind sie auch, aber mehr noch als ich hier noch nicht gewohnt habe. Das Re-Visiting hat damit zu tun, dass ich mich aufmache zu einem anderen Ort, um dort eine Geschichte einzuholen, die kann literarisch oder historisch sein. Es hat ja auch mit Erinnerungsstrategien zu tun, etwa so, als wenn man an den Ort eines Geschehens zurückkehrt oder eine Erinnerung durch eine Gegenüberstellung provoziert wird. Irgendetwas zwischen Re-Enactment und Re-Reading, ein Verhandeln zwischen physischem und mentalem Raum.
Berlin ist literarisch, filmisch und historisch gleichzeitig reichhaltig und durchwachsen. Es gibt genug Dinge zu entdecken, zu verhandeln, zu erzählen und auch zu fotografieren. Nur wenn man an einem Ort lebt, dann verändert das den Blick und das Anliegen und die Dringlichkeit. Da ist der ganze Alltag, das Funktionieren oder nicht. Manchmal tut da, wie mit dem Begehren, auch eine gewisse Distanz ganz gut. Es ist ja so, dass ich letztlich einem Phantasma beizukommen versuche. Beim Fotografieren braucht es für mich manchmal diesen etwas distanzierten oder fremd gewordenen Blick, sonst wird es zu sehr zur Routine. Und dann gibt es an dem Ort, an dem man lebt, andere Mittel der Interaktion und andere Zeitlichkeiten. Man kann sich eigentlich vor Ort auch einbringen, Freunde, andere Menschen treffen, es gibt ein öffentliches Leben. Man ist weniger Beobachter und wird mehr zum Teilnehmer.
Yuki Jungesblut, My Neighbour (Kitakyushu Memory Grid), 2019
BE: Daher war es Dir immer wichtig, nicht nur einen eigenen Atelierraum irgendwo zu haben, sondern ein Studio, an dem Du mit mehreren Leuten arbeiten oder auch zusammen ausstellen oder ähnliches machen kannst?
YJ: Ja. Das Atelier und die Ateliergemeinschaft ist für mich ein Referenzpunkt als ein geteilter Raum. Theoretisch kann man ja überall arbeiten, aber es ist auch ein wenig wie bei einer Wohngemeinschaft, man kann immer wieder zurückkehren, der Raum bleibt da und jeder hat letztlich seine eigene Agenda, aber wenn es passt, kommt es nebenbei auch zum Austausch, man unterhält sich, und lädt manchmal zusammen ein. Das ist eine erste Form von Zusammenkunft oder Gemeinschaft. Und in meinem Kopf ist es so wie ein idealisiertes Labor, etwas passiert dort, man arbeitet da an etwas, etwas entwickelt sich und die Spieler treten eben in diesen Austausch, und das Studio heißt ja auch nicht umsonst Turtlelab, ein Platz für langsame Forschung (und freies Spiel).
„Lebt und arbeitet in Berlin“ ist unsere neue Reihe, in der Künstler*innen miteinander sprechen. Das Format wechselt zwischen verschiedenen Genres, die die Künstler*innen jeweils wählen. Die Reihe ist Teil des Projekts Institutions Extended.
Für diese Ausgabe trafen sich die Künstlerin Yuki Jungesblut und die Kunsthistorikerin Birgit Eusterschulte zum Gespräch in den Lichtenberg Studios und im Turtlelab in Berlin Mitte.
Yuki Jungesblut arbeitet mit Fotografie, Video, Installation, gefundenem Material sowie Sprache und performativen Elementen. Ihr Interesse gilt vor allem Schwellenphänomenen und
-zuständen und dem Grenzbereich von Fiktion, Realität und Imagination. Ihre Arbeiten gehen oft von offen angelegten Recherchen, Beobachtungen und einem filmischen Denken aus. Im Spannungsfeld von Raumerkundung, Medienreflexion und Alltagsbezug artikuliert sie eine poetisch-sinnliche und gleichzeitig verschrobene Sicht der Dinge.