Als die Idee zur Ausstellung entstand, war Covid-19 noch ein unrealistisches Zukunftsgespenst und das Thema Angst eines, das Huang Xiaopeng aus der spezifischen politischen Situation in China heraus entwickelte. Als die Pandemie kam, wurde es zu einem universalen Phänomen. Doch auch für das Team selber wurde die Vorbereitungszeit zu einer Zeit der Erschütterungen und Unwägbarkeiten, nicht nur weil die Ausstellung immer wieder verschoben werden musste, sondern weil Huang Xiaopeng im Oktober 2020 plötzlich verstarb.[1] Wie sollte man auf diese Situation reagieren? Die drei Kurator*innen, die alle auch mit ihm befreundet waren, entschlossen sich gemeinsam mit dem Team des Times Art Center Berlin die Ausstellung dennoch – und gerade deswegen zu realisieren – als Würdigung und Erinnerung an einen außergewöhnlichen Künstler und Menschen.
Folgerichtig beginnt die Ausstellung mit einem Videointerview mit ihm, das Antje Majewski zusammen mit Vangjush Vellahu in China mit ihm geführt hat. Vor einer urbanen Kulisse lehnt ein hagerer Mann an einem Baum, an der Hand einen Totenkopfring, und spricht offen über die aktuelle Situation in China, seine Lehre an der Kunsthochschule und schlechtes „Qi“. Huang Xiaopeng, so wird schnell klar, war ein unabhängiger Geist und scharfsinniger Denker, ein Pendler und Übersetzer zwischen den Welten. So ging er zum Studieren nach London, lehrte für kurze Zeit in Hongkong und zog 2019 nach Berlin; dazwischen lebte er in Guangzhou und war dort als Künstler und Lehrender aktiv. Es verwundert nicht, dass er im Film von einem Gefühl der Ortlosigkeit spricht.
Seine Idee war es, eine Ausstellung zu machen, die sich prozessual entwickelte und sich auf diese Weise „verunstetigte“. Er lud die drei Kurator*innen ein, die wiederum ca. zehn Künstler*innen einluden, sodass sich die Idee netzwerkartig ausbreitete und sich von seinem Initiator, der selber vorwiegend Künstler*innen aus China einbrachte, ein Stück weit emanzipierte.
Die Kurator*innen haben an dieser ambitionierten Idee festgehalten, sodass die Ausstellung in drei Kapitel unterteilt ist (Uncertainties 7.4.-1.5., Panic 12.5.-12.6. und Potentialities 25.6.-17.7.). Jedes Kapitel versammelt unter der jeweiligen thematischen Klammer neue Positionen und/oder zeigt Arbeiten, die von den Künstler*innen an den neuen Kontext angepasst wurden. Das lässt sich gut am Übergang der ersten zur zweiten Ausstellung nachvollziehen: Während im Untergeschoss, wo vorwiegend Videoarbeiten gezeigt werden, alle Arbeiten ausgetauscht wurden, haben Franziska Hünig und Anja Gerecke im Erdgeschoss ihre raumbezogenen Arbeiten so modifiziert, dass sich der Raumeindruck verändert. Hünig hat eine Plane heruntergelassen, die zuvor als Stapel oben lagerte, und Gerecke ihre Installation aus Holz um ein Dach über der nach unten führenden Treppe erweitert. Auf diese Weise wird nicht nur eine Verbindung zwischen dem ersten Stock (von dem man die Ausstellung betritt) und dem Erdgeschoss hergestellt, sondern insgesamt die Raumatmosphäre verändert, weil sich ein Gefühl der latenten Bedrohung breit macht. Dieses Gefühl wird durch den plötzlich auftretenden, undefinierbaren Sound verstärkt, der aus dem Lautsprecher der Installation von Stefan Rummel kommt, und der begleitet wird von einem zeitweisen Beben der Fadenkonstruktion, die am Lautsprecher befestigt ist. Insgesamt ist der Raum dichter geworden, was auch an einer großformatigen Fotografie und den zwei großen Sceens liegt, die zum zweiten Kapitel vor dem Fenster aufgestellt wurden. Wird das Thema „Panik“ im vorderen Teil eher räumlich und atmosphärisch verhandelt, vermitteln die Arbeiten im hinteren und unteren Teil mitunter sehr direkte Eindrücke von Gewalt und Zerstörung: so hält Vangjush Vellahu in seiner 2-Kanal-Videoarbeit „Tolls of Resistance“ eine undefinierte wie aggressive Straßenkampfszene in Palästina fest, während Abrie Fourie einen Blutfleck auf einer Straße fotografiert hat und auf der gegenüberliegenden Wand eine Serie durcheinander gewirbelter, zerstörter Plastikstühle zeigt. Im Untergeschoss wird das Motiv der Gewalt in Form einer Malerei von Iyad Dayoub aufgegriffen, auf der Menschen in Neoprenanzügen und Sturmgewehren auf einem Schlauchboot eng beieinander liegen und die Betrachter*innen fixieren. Die für die Ausstellung entwickelte Arbeit von Pinar Öğrenci nimmt dagegen einen anderen Aspekt in den Blick, wenn sie den Verlust von geliebten Menschen in den Blick nimmt.
Im dritten Kapitel wird sich die Ausstellung erneut komplett verändern und durch ein Performance-Programm ergänzt. Die Überschrift Potentialities nimmt die Energien und Neu-Figurationen in den Blick, die durch die Infragestellung und Auslöschung bisherigen Werte und Gewissheiten entstehen.
Schon von Anfang an gibt es ein breites digitales Angebot (unter dem Button Online-Screening), bei dem man sich einige der Videoarbeiten anschauen konnte, was nicht nur aufgrund der eingeschränkten Besuchsmöglichkeiten sinnvoll ist, sondern grundsätzlich eine zukunftsweisende Option ist, um die oft längeren Videoarbeiten auch zu Hause verfügbar zu machen, wo man den Zeitpunkt selber bestimmen kann und nicht mit zu wenigen oder kaputten Kopfhörern zu kämpfen hat.
Bereits die erste Ausstellung des Times Art Center in Berlin, die im November 2018 in den damaligen Räumen in der Potsdamer Straße eröffnete, war in drei Episoden unterteilt und verfolgte das Ziel „Berlin einen bedeutenden Teil der chinesischen Kunstwelt vor[zustellen], der dem internationalen Publikum wenig bekannt und in der globalen Kunstszene unterrepräsentiert ist.“[2] Das Times Art Center Berlin versteht sich darüber hinaus als „experimenteller Raum für zeitgenössische Kunst aus China“ und ist eine gemeinnützige Kunstinstitution, die dem Guangdong Times Museum im südchinesischen Guangzhou zugeordnet ist – und von ihr finanziert wird.
Guangzhou ist übrigens auch die Stadt, in der Huang Xiaopeng an der Guangzhou Academy of Fine Arts unterrichtete (bis er 2012 entlassen wurde) und mit der HB Station ein Contemporary Art Research Center gründete, das zeitweise vom Guangdong Times Center unterstützt wurde. Die Zusammenarbeit von Huang Xiaopeng und dem Times Art Center begann somit schon in Guangzhou – und fand in Berlin ihren Abschluss. In Berlin ist chinesische Kunst vor allem durch Ai Weiwei bekannt geworden, der lange am Pfefferberg in der Nähe des heutigen Standortes des Times Art Center Berlin sein Atelier hatte, aber seit 2019 in Cambridge lebte. Er wurde mit seinen politischen Arbeiten schnell zum Darling der Berliner (Kunst-)szene und wollte sich gleichzeitig nicht für eine einseitige Kritik an China instrumentalisieren lassen. Ein ähnlich ambivalentes Unterfangen zwischen Kritik und Repräsentation leistet das Times Art Center Berlin als professionell geführte Non-Profit Institution, wenn sie kritische und forschungsbasierte Positionen zeitgenössischer chinesischer Künstler*innen fördert.
Dorothee Albrecht, eine der Kurator*innen erzählt, dass sie Huang Xiaopeng bei ihrer Teilnahme an der Guangzhou Triennale 2008 kennenlernte. (Drei Jahre zuvor war bei einem „D-Lab“ mit den Architekten Rem Koolhaas und Alain Fouraux die Idee für das Times Art Museum geboren worden.) Er habe so etwas wie eine Übersetzerfunktion zwischen den Chines*innen und den internationalen Künstler*innen übernommen. Der Kontakt blieb auch nach der Triennale bestehen und entwickelte sich zu einer Freundschaft, die so weit ging, dass sie ihm bei seinem Umzug bei Behördengängen etc. geholfen hätte. Auch Stefan Rummel und Antje Majewski waren mit ihm befreundet und diese Vertrautheit – zusätzlich zu der Tatsache, dass alle hauptsächlich Künstler*innen und nicht Kurator*innen sind – führte zu dieser speziellen Zusammenarbeit, die im positiven wie negativen Sinne für alle Beteiligten sehr intensiv war. Nicht nur aufgrund der Vielzahl der Teilnehmenden (allein 55 Künstler*innen) und heterogenen Arbeitsweisen, die in der Ausstellung miteinander kombiniert werden mussten, sondern auch aufgrund der unerwarteten, verstörenden Ereignisse, die allen einen langen Atem und Flexibilität im Denken abverlangten.
[1] https://www.timesartcenter.org/de/2020/10/08/in-gedenken-an-huang-xiaopeng/
[2] https://www.timesartcenter.org/wp-content/uploads/2020/02/TACB_D-Tale_PR_DE.pdf