1. Gibt es für dich einen Unterschied zwischen Mitleid und Mitgefühl?
Nadja/Wien: Wenn man abgehärtet ist, meint man, die Gesellschaft solle handeln und fühlt sich nicht als Mensch angesprochen. Politiker äußern ständig ihr Bedauern und ihr Besorgt sein… ohne zu handeln.
Laura/Medellin: Mitleid hat etwas herablassendes, auch im Spanischen. Es hat keine Hoffnung.
2. Bedeutet Mitgefühl zu anderen die Fähigkeit zum Mitgefühl zu sich?
Nadja/Wien: Bewunderung empfinde ich gegenüber einer Frau hier in Wien: Ute Bock. Sie war eine Institution. Sie hat alles, ihr ganzes Leben den Geflüchteten und ihren Problemlagen gewidmet.
Kinder lernen von klein an, dass es nicht allen gut geht. Es muss artikuliert werden. Wenn man darauf nicht aufmerksam macht, wird es schwer zu verstehen, dass es neben uns Menschen gibt, die wirklich bedürftig sind. Und die Aufgabe ist nach solchen Menschen Ausschau zu halten, jeden Tag, im nächsten Umfeld.
Ralf/Zürich: Erst jetzt gelingt es mir den Schmerz oder die Verzerrungserlebnisse der frühen Kindheit aufzulösen. Das Erleben der Gewalt war das stärkste Erlebnis in der Männerwelt, in die ich als Junge hineinwachsen sollte. Theodor Lessing hat über den Philosophen Afrikan Spir promoviert, und beide haben sinngemäß geschrieben: Bewusstsein wird aus Not geboren. Ohne Not keine Sensibilität, kein Bewusstsein. Die verwöhnten Kinder, die die Not nicht kennengelernt haben, die haben auch massive Schwierigkeiten mitzufühlen. Die Frage bleibt: Verleugnet man die eigene Not oder wagt man es, sie anzuschauen? Solange man sie übergeht, lebt man von sich selbst entfremdet. Gerade sitzen, Aufessen, Stillsein. Ich bin noch voll so aufgewachsen. Es war so viel Gewalt in der Familie, ich bin kräftig. Gemeinschaft war da, aber keine Nähe. Das ist ja das erstaunliche!
Laura/Medellin: Nein, das glaube ich nicht. Ich kenne so viele, die an sich selbst einen unglaublich hohen Anspruch haben und nichts empfinden, ständig über die eigenen Bedürfnisse hinweggehen. Ich erlebe es so, dass ich oft viel entfernter von mir bin als von anderen. Vielleicht ist es so ein Frauen- oder Mutterding, sich immer zunächst in die anderen einzufühlen, bis man sich nicht mehr spürt.
3. Wer hat dir das Mitfühlen beigebracht? Kann man es lernen oder ist es eine Gabe?
Laura/Medellin: Bei mir war die Familie sehr groß. Tanten und Onkel waren Erziehungsberechtigte, und ich war ständig umgeben von zig Cousinen und Cousins. Es waren immer Menschen da, die moderierten, nachfragten, sorgten. Zugleich waren wir uns selbst überlassen aber auch immer unter Beobachtung. Für uns ist das heute schwer vorstellbar, wenn du als Kind am Wochenende von zwei Erwachsenen umgeben bist und das deine einzigen Hauptbezugspersonen sind. Ich war von Menschen unterschiedlichster Generationen, Interessen und Befindlichkeiten umgeben. Dieser Familie war ich ausgeliefert. Es stand nicht zur Wahl, ob wir Sonntag zur Oma gehen, die Frage war zu welcher Oma. Wenn du nicht von Kind an mit sehr vielen verschiedenen Menschen aufwächst, ist es für dich nicht selbstverständlich, dass du nicht der Mittelpunkt dieser Welt bist.
Als Kinder haben wir Glühwürmchen gefangen und bewunderten diese, wie sie im Glas in unserer Finca in der Nacht leuchteten. Aber dann: gestern haben sie sich noch bewegt und heute nicht mehr. Wichtig ist, wenn dir jemand dein Handeln nochmal klar macht. Meine Cousine hat uns am nächsten Morgen verboten zu atmen, und gezählt, wer es am längsten aushält. Und dann erklärte sie, dass genau das den Glühwürmchen passiert ist. So haben sie sich gefühlt im Glas ohne Luft. Und als Kind begreifst du, was du getan hast und wie schlimm und wie unnötig es war. Und aus solchen kleinen Puzzlesteinen entsteht diese Fähigkeit.
(Nadja/Wien): Man braucht viel Zeit, um in den anderen und in sich reinzuhorchen, und die nehmen wir uns oft nicht. Nicht für uns und nicht für andere. Alles schnell, schnell, schnell… Ich weiß nicht, wie oft ich als Mutter meinem Kind „Bitte beeil Dich!“ zurufe. Es wird regelrecht zur Eile erzogen.
4. Schließen sich Mitgefühl und kapitalistische Erfolgsstrukturen gegenseitig aus?
Jelena/Berlin: Ich weiß nicht, ob es zusammenhängt, aber ich habe ein seltsames Verhältnis zum Wettkampf oder Wettbewerb. Alle Situationen, die einen Sieger und Verlierer nach sich ziehen, sind mir zuwider. Es hat mir schon als Kind viel abverlangt, an Wettkämpfen im Sportunterricht teilzunehmen. Und dann ein Teil einer Mannschaft zu sein, die gewonnen hat. Den Ärger und die Enttäuschung der anderen Mannschaft zu sehen.
Laura/Medellin: Zugespitzt gesagt „ja“. Aber im Kleinen gibt es ja genug Widersprüche zum Glück. Auch die Tatsache, dass andere für dich langsam anonym werden, wenn du nicht von Menschen umgeben bist. Zum Beispiel habe ich gemerkt, wie schwer es mir fällt, Turnschuhe im Geschäft zu kaufen. Ich bin ohne Turnschuhe und mit schlechtem Gefühl nach Hause gegangen, weil ich das Gefühl hatte, bedrängt zu sein von diesen Auswahlmöglichkeiten und diesen überfreundlichen Verkäufern und ihrer Existenzangst. Es war zu viel für mich zu sehen, dass ich mit meiner kleinen Kaufentscheidung zu ihrer Existenz beitrage oder sie zerstöre, indem ich online bestelle. Es war fundamental anders darüber nachzudenken und nicht bei Amazon bestellen zu wollen oder in die Augen der Verkäufer zu schauen, wenn man sich gegen einen Kauf entscheidet.
5. Wie sieht eine Stadt aus, die Mitgefühl fest in ihren Strukturen verankert hat?
Diana/Israel: Tel Aviv hat kein Mitgefühl mit niemanden. Kein Mensch nimmt den anderen wahr. Hier gibt es kein Mitgefühl. Es wird viel darüber geredet, aber der Alltag sieht ganz anders aus.
Ralf/Zürich: Das ist undenkbar für mich, weil es die Frage des sozialen Zusammenhalts ist. Ich kann mir nicht mal vorstellen, dass Menschen, statt sich gegenseitig umzubringen, versuchen würden sich zu helfen. Wo kommen Menschen her, die das, was niemand tun will, tun? Wie bringt man Menschen dazu sich als Diener zu begreifen und nicht als Herrscher.
Anna/Berlin: Eine Stadt, die ihr Mitgefühl fest verankert hat in Strukturen, ist eine Stadt die von Menschen regiert wird, die die Verletzlichkeit des menschlichen Daseins als Grundbedingung unserer Existenz ansehen. Sie denkt von den Verletzlichsten aus, oder den bereits Verletzten, und überlässt nicht das Feld den vermeintlich Stärkeren. Sie schützt die in ihr Lebenden, und hat immer diese menschliche Grundbedingung im Bewusstsein. Diese Stadt weiß, dass sie nur dann gut ist, wenn sie menschlich ist, zu denen die in unmenschlichen Verhältnissen leben. Die Grundbedürfnisse wie Hygiene, Schlaf unter einem Dach, Schutz, Nahrung und Wärme einem Menschen zustehen, weil er da ist und nicht, weil er es sich erstmal verdienen muss. Sie versteht, dass Umstände- Bedingungen, in denen wir leben, unterschiedlich sind. Und sie verheimlicht oder vertuscht dieses Wissen nicht. Eine Miete ist nicht gleich eine Miete und ein Eigentum ist keine Norm.
6. Was sind deine Grenzen des Mitgefühls? Wem verweigerst du bewusst dein Mitgefühl?
Diana/Tel Aviv: Die Menschen, die eigentlich nichts zum Jammern haben, aber aus Gewohnheit einfach unzufrieden sind, die ignoriere ich. Ich kann es nicht ernst nehmen. Schau, das ist doch alles eine Frage des Maßstabs. Klar, jeder empfindet anders und kann seine Bedürftigkeit artikulieren. Nur wenn man mit halbwegs offenen Auges durch die Welt geht und der Interessenshorizont nicht am eigenen Kühlschrank aufhört, müsste man doch sehen, wie es anderen Menschen geht.
Ralf/Zürich: Allen Mächtigen. Da mache ich keinen Unterschied! Alle, die ihr Vermögen und ihr Geld missbrauchen.
Nadja/Wien: Es gibt in Wien einen jungen Mann, der vorgibt, dass seine Geldbörse gestohlen wurde, und als ich die Geschichte öfters hörte, habe ich ihn erkannt. Aber für mich waren die 5 Euro, die ich ihm gegeben habe, wirklich viel Geld. ich war Studentin und fremd in der Stadt. Es war ein Einkauf, eine Mahlzeit. Als ich ihn paar Wochen später wieder und wieder erlebt habe, musste ich mein Mitgefühl neu rahmen.
8. Kannst du für dich einen Unterschied festlegen zwischen Solidarität und Mitgefühl?
Nadja/Wien: Aus der Schule meiner Tochter ist ein Mädchen abgeschoben worden. Sie war in Wien geboren worden und lebte 13 Jahre hier. Sie musste zurück nach Georgien. Es war schrecklich, die Kinder sind auf die Straße gegangen, mehrmals, aber es hat nichts gebracht. Dieser Einzelfall ging uns nahe, weil wir das Kind kannten und wenn man bedenkt, dass es österreichweit täglich passiert und wir nichts davon hören und sehen?
Diana/Tel Aviv: Oh, Solidarität ist auch so ein Begriff der kommunistischen Ideologie, ein Propagandabegriff! Weder habe ich andere solidarisch erlebt noch war ich selbst jemals solidarisch. Mit 21 habe ich Russland verlassen. Also diese Art der sprachlichen Solidarität, des Kollektivismus ist mir extrem suspekt.
Die Menschen stellen sich als Kollektivisten dar, aber in Realität benehmen sie sich als absolute Egoisten. Das ist auch das Paradoxe in dieser Stadt.
Bei der Arbeit gibt es Neid auf den anderen. Die Arbeitskollegen besprechen, wer welches Telefon hat, welcher Politiker mehr Geld hat, wer wo wohnt. Die Menschen sind voll davon, solidarisch im Lästern und neidisch zu sein. Der Begriff ist politisch völlig missbraucht und in der zwischenmenschlichen Ebene in sein Gegenteil verkehrt.
Yana/Tel Aviv: Mitgefühl ist die Bereitschaft zu helfen, bedingungslos ohne Hoffnung auf Payback.
Laura/Medellin: Solidarität ist in die Tat umgesetzte Empathie. Man kann aber auch solidarisch sein ohne Mitgefühl. Und umgekehrt.
9. Gegenüber wem ist die Stadt in der du lebst unerbittlich oder gefühllos?
Ralf/Zürich: Allen Armen gegenüber…
Nadja/Wien: Allen Alten gegenüber.
Svenja/Berlin: Berlin ist im Vergleich zu fast allen anderen Städten, in denen ich gelebt habe, in manchen Fällen eine mitfühlende Stadt. Es wird teurer und damit in meinem Verständnis weniger mitfühlend. Aber ich habe die letzten zehn Jahre hier mit sehr wenig Geld gut leben können. Das meine ich nicht nur in Bezug auf Wohnraum, denn das ist ja leider schon lange im Wandel begriffen, ich meine das in Bezug auf das Miteinander, das hier ermöglicht wird. Zum Beispiel ist meine Hausarztpraxis auch Methadonpraxis und das Miteinander des Praxispersonals, der Methadon-Kundschaft vom Hermannplatz und der wartenden Patientinnen ist irgendwie gut. Es ist jetzt nicht so, als wäre das ein heiler Ort oder so. Ich meine auch nicht, dass da immer gute Stimmung herrscht oder so etwas. Aber dieser Ort zum Beispiel ist in seiner Gebrochenheit, in dem was alles grundsätzlich falsch ist, so schonungslos ehrlich, dass er für alle funktioniert. Und ich glaube, das liegt daran, dass an diesem Ort niemand wegschauen kann. Hier schauen alle einander in die Augen. Wie gesagt, das ist nicht immer angenehm. Aber es funktioniert. Ich habe schon so vielen meiner Freundinnen, die bei ihrem eigenen Arzt gerade keinen Termin kriegen oder die kein Deutsch sprechen oder keine Krankenversicherungskarte haben, diese Praxis empfohlen und es wurde dort noch nie jemand weggeschickt und es hat sich auch noch nie jemand beschwert. Es ist keineswegs so, dass Berlin gegenüber wohnungslosen oder suchtkranken Menschen wahnsinnig mitfühlend wäre, aber Berlin ist mitfühlender als die meisten anderen Städte. Im Großen und Ganzen ändert sich das ja aber leider bei den meisten angesagten Großstädten schnell.
10. Wann hast du dich für jemanden eingesetzt? Was hast du dabei erlebt?
Nadja/Wien: Für meine ältere Nachbarin habe ich eingekauft, aber ich sehe es nicht so als Einsatz ein. Es ist irgendwie selbstverständlich. Ihr war es hingegen unangenehm Hilfe anzunehmen. Es war definitiv ein Schamgefühl da, dass sie nicht für sich selbst sorgen konnte. Hier ist es ja so, dass für alles um Erlaubnis gebeten werden muss: „Darf ich Ihnen helfen?“ Man will niemanden mit seiner Hilfe überrumpeln.
Diana/Tel Aviv: Mein Kollege ist 35 Jahre alt, Slowake, gutaussehend und schwul, und der andere Kollege ist 62 Jahre alt, Rassist und homophob, alleinlebend, keine Familie. Beide sind gebildet. Wir sitzen zusammen im Großraumbüro. Zunächst machte der Ältere Witze über Schwule, dann waren es keine Witze, dann waren es rassistische Parolen über Asylanten in Süd-Tel Aviv und dann ging er auf diese Menschen los. Das ist ein Mann, deren Eltern als Kinder Auschwitz überlebt haben und heute schimpft er in einem Vokabular, das ich nicht wiederholen möchte… Er sprach über andere, die ausgerottet werden sollen. Das war dann der letzte Tropfen auf den heißen Stein und ich musste ihn zurechtweisen und ihm mit Anzeige drohen. Also habe ich mich für alle Unbekannten, Schwarzen, Eritreer, Südsudanesen oder woher auch immer diese Menschen kommen, eingesetzt. War nicht viel, aber entschieden und unmissverständlich.
Ralf/ Zürich: Also ich war sehr lange nicht zu Hause und habe Menschen, die ich nicht gut kenne, meine Wohnung überlassen. Und die haben sie in einem Zustand hinterlassen – es war unmöglich darin zu wohnen: Bettwanzen, Schimmel, Dreck, Müll, wo du nur hinblickst. Also renovieren und alles neu machen. Und ich war sowas von überfordert damit! Meine Tochter hat es in die Hand genommen und Stück für Stück alles wieder sauber bekommen. Diese Güte und Selbstverständlichkeit, und Fürsorge. Eigentlich hat sie mich adoptiert, nicht ich sie.
11. Wie ist deine erste Erinnerung an Gewalt?
Ralf/Zürich: Wir hatten eine Schmiede im Hof. Vater Schmied, Opa Schmied. Und Getränkeausschank hatten wir… und die Männer standen herum und haben gesoffen und geraucht und gestritten… und wenn es kalt war, standen sie in unserer Küche… das ist allein schon…
Und dann, klar, die Hand meines Vaters. Schlagen gehörte von Anfang an dazu. Und wenn ein Schmied schlägt… nun ja. Und ich habe einen Horror vor Gewalt und die Jungs auf der Straße waren sehr rau. Ich habe eine Schlaghemmung. Ich kann nicht schlagen.