Die Berliner Gazette ist ein 1999 gegründetes Online-Format, das sich als „experimentelle Plattform“ versteht und freien Journalismus im Netz praktiziert. Inhaltliche Schwerpunkte sind Politik/ Aktivismus, Kultur, Arbeit und digitale Welten und Veränderungen. Die Aktivtäten der Berliner Gazette reichen dabei über das „Feuilleton im Netz“ hinaus und umfassen Konferenzen, Ausstellungen, Buchpublikationen und Bildungsangebote, die an verschiedenen Orten in Berlin-Mitte realisiert worden sind: so fand etwa das Projekt SILENT WORKS, das eine Ausstellung und einen Co-Working-Space umfasste 2020 im Haus der Statistik am Alexanderplatz statt, zuvor war drei Jahre nacheinander das Zentrum für Kunst und Urbanistik (ZK/U) in der Nähe des Westhafens Gastgeber und auch mit der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz gab es bereits Kooperationen.
Anna-Lena Wenzel: Die Berliner Gazette besteht aus mehreren Formaten: Es gibt die Webseite mit Beiträgen zu einem Jahresthema oder zu euren Dossiers (wie Zeitung 2.0, Wessen Berlin oder aktuell: Pandemie) sowie eine Kommentarspalte. Dann gibt es die Newsletter (aktuell seid ihr bei Nummer #1034 angelangt), in denen ihr auf aktuelle Artikel und Veranstaltungen hinweist. Was war euer Gründungsimpuls?
Magdalena Taube: In der Anfangszeit war das eine interessante Situation. Zum einen war es eigentlich ziemlich unerhört, dass man ein journalistisches Projekt ehrenamtlich macht. Auf der anderen Seite war da diese Aufbruchstimmung und es gab viele Projekte, die Bürger*innenjournalismus oder Graswurzeljournalismus betrieben. Wir wollten der Auseinandersetzung und einer Vielfalt von Stimmen eine Plattform geben! Es ist die Lust am Diskurs und am Austausch, die uns verbindet. Die Jahresthemen sind insofern super, als dass sie es uns ermöglichen, über einen langen Zeitraum zu einem ausgewählten Thema zu arbeiten, wobei wir nie richtig fertig werden, denn je tiefer man gräbt, desto mehr Dinge findet man.
Ihr veranstaltet zudem einmal jährlich jeweils zum Jahresende eine Konferenz zu eurem Jahresthema.
Ja, unsere Jahreskonferenz gibt es jetzt seit mehr als zehn Jahren. Hier ist es auch so, dass das Ganze irgendwie organisch gewachsen ist. Aus kleineren Veranstaltungen, Events, Parties und Lesungen ist ein Format entstanden, das wir nun seit langer Zeit durchführen. Und eigentlich geht die Veränderung immer weiter. Unser Feuilleton im Netz ist ja deutschsprachig, die Konferenzen sind jedoch sehr international. Sie finden in englischer Sprache statt und haben einen starken Werkstattcharakter. Also da kommen Leute aus ganz vielen Ländern zusammen und erarbeiten etwas gemeinsam. Unsere Konferenz in diesem Jahr fand erneut digital statt – was sehr schade ist. Ich vermisse es sehr, die anderen aus unserer Community zu treffen und auch neue Leute kennenzulernen. Es gibt da ein paar treue Begleiter*innen, die Jahr für Jahr aus Tokio, Los Angeles oder Bukarest anreisen. Und natürlich kommen je nach Thema jedes Jahr wechselnde Beitragende und Teilnehmende dazu.
Auf eurer Webseite kann man lesen, dass ihr ein 17-köpfiges Team seid. Das klingt ganz schön viel! Ist es so wie beim Missy Magazine, dass es relativ viele Mitarbeitende gibt, die aber nur in Teilzeit arbeiten? Und die trotz der schwierigen Arbeitsbedingungen sehr solidarisch mit dem Magazin sind, weil sie das Heft gut finden und es unterstützen wollen?
Hmm, das ist eine schwierige Frage, aber auch eine wichtige. Du kannst dir das so vorstellen, dass alle die mitmachen überall auf der Welt verteilt sind, nicht nur in Berlin. Und alle von uns machen „nebenbei“ noch etwas anderes. Und jede*r trägt bei, soviel er oder sie kann. Krystian Woznicki zum Beispiel, der die Berliner Gazette mitgegründet hat, ist immer noch dabei und wichtiger Teil eines Kernteams, dann gibt es auch Redakteur*innen wie Leonie Geiger oder Andi Weiland, die auch schon sehr lange mitmachen. Und dann finden sich immer wieder neue Mitstreiter*innen, die sich für bestimmte Themen oder Formate interessieren. Oder auch jemand, der voll Bock darauf hat, seine Programmiertalente mal in einem neuen Kontext auszuprobieren. Also klar, das ist auf jeden Fall ein solidarisches Miteinander. Diese Art Beziehungen zu pflegen, Leute zusammenzubringen, das ist jedenfalls ein super wichtiger Bestandteil unserer Arbeit … also die Arbeit in und mit der Community.
… die aber meist unsichtbar bleibt – was klassisch ist für Care-Arbeit – und dadurch schwierig zu finanzieren ist über Förderungen etc.
Ja, das stimmt.
Wie finanziert ihr euch?
Wie schon gesagt, machen wir die redaktionelle Arbeit ehrenamtlich und in unserer „freien Zeit“. Wir haben deshalb alle noch „richtige“ Jobs, über die wir uns finanzieren. Ich bin zum Beispiel Professorin an der Macromedia Fachhochschule hier in Berlin, andere arbeiten auch im Bildungs- oder im IT-Bereich. Es ist auch klar, dass diese Art von Arbeit nicht für alle funktionieren kann. Das ist mit den Jahren so gewachsen und es funktioniert für uns. Ich würde es als Practice Modell bezeichnen, nicht unbedingt als Best Practice, denn das lässt sich nicht auf andere Projekte übertragen.
Für einen bestimmten Bereich unserer Arbeit, nämlich die internationalen Jahreskonferenzen, beantragen wir von Jahr zu Jahr Förderungen. Zuletzt hatten wir auch ein größeres Ausstellungsprojekt, für das wir eine Förderung bekommen haben. Gefördert wurden wir bislang u.a. von der Kulturstiftung des Bundes, der Bundeszentrale für politische Bildung sowie dem Berliner Projektfonds für kulturelle Bildung und auch dem Hauptstadtkulturfonds.
Du siehst an diesem Modell: Es ist möglich, Förderungen zu bekommen – aber das ist immer nur projektbezogen. Solche Förderungen schließen ja eine institutionelle Förderung aus. Das heißt, dass die journalistische Arbeit da immer außen vor ist. Was fehlt, ist so etwas wie eine Basisförderung für unabhängige Medienprojekte. Aber da sind wir dran und haben dazu auch ein Positionspapier entwickelt, mit dem wir an die Politik herantreten.
Das würde ja total Sinn machen, denn ihr leistet nicht nur journalistische und redaktionelle Arbeit und organisiert Veranstaltungen, sondern erarbeitet inhaltlich neue Themen. Dafür braucht man Offenheit und gedankliche Kapazitäten – das ist nicht einfach, wenn man zudem noch einen Job und Familie hat.
Ja, da hast du mein Leben eigentlich ziemlich gut beschrieben. Oft denke ich, ich bräuchte eigentlich drei Mal so viel Zeit für alles! Offenheit ist genauso wie Neugier tatsächlich die Voraussetzung für unser Tun. Auch wenn es gar nicht so einfach ist, sie über die Jahre aufrechtzuerhalten. Ich glaube, dass man spüren kann, dass diese „Leidenschaft“ bei uns dabei ist. Dabei will ich nicht alles nur rosig darstellen. Es ist auch oftmals nicht einfach.
Wie kommen die Autor*innen zu euch? Wie kommt ihr zu den Autor*innen?
Das ist unterschiedlich. Mit einigen arbeiten wir schon lange und immer wieder zusammen, andere schreiben uns an und schlagen konkrete Themen vor. Viele Beiträge ergeben sich aus konkreten Recherchen zu den Jahresschwerpunkten, für die wie viele Interviews führen. Wir veranstalten außerdem Open Calls, wenn wir ein neues Thema starten.
Euer aktuelles Jahresthema lautet BLACK BOX EAST. Der „Osten“ stellt darin den Ausgangspunkt für eine kritische Untersuchung „postkommunistischer“ Räume dar. Auch in anderen Beiträgen finde ich es auffällig, dass immer wieder Osteuropa in den Blick genommen wird, aktuell mit einem Artikel von Sanja Bojanić über den Kampf Kroatiens Zivilgesellschaft gegen Rechtspopulismus und einem Beitrag von Ina Valkanova über die Arbeitsbedingungen in Bulgariens Automobilindustrie.
Ja, das stimmt. Diese Verbindung gibt es schon lange – und wie alles andere auch, ist sie organisch gewachsen! Zum einen gibt es biografische Gründe – ich bin zum Beispiel Ost-sozialisiert, Krystian kommt aus Polen, wir haben einen starken Bezug dazu. Zum anderen haben wir lange und intensiv mit Kulturschaffenden aus dem „Osten“ zusammengearbeitet. Haben Kooperationspartner*innen in Kroatien, in Mazedonien, in Rumänien. Zum anderen hat sich bei unserer Beschäftigung mit dem Thema „unsichtbar gemachte Arbeit“ vieles darauf zugespitzt, dass wir uns dem „Osten“ zuwenden. Denn es sind die Klickarbeiter*innen und Pflegekräfte, die LKW-Fahrer und Logistik-Hub-Arbeiter*innen, die den Westen am Laufen halten. Wir wollen die kritischen und progressiven Stimmen aus diesem Teil Europas stärker sichtbar machen.