Vom Cover der neuesten Ausgabe schaut Hengameh Yaghoobifarah mit orangerot umrandeten Augen und fasst sich an die glitzernden Ohrhänger. Sie* hat den Kopf leicht gehoben und lächelt nicht. Ja, Hengameh Yaghoobifarah ist die Autorin, die mit ihrer offensiven, satirischen Kritik an Polizeigewalt in der taz für eine kontroverse öffentliche Debatte inklusive Androhung einer Klage durch Innenminister Horst Seehofer sorgte. Im Heft gibt es ein Interview mit ihr über ihren Debütroman Ministerium der Träume. Es geht um Rassismus, Bodyshaming, Sexismus und queere Welten und damit um die Themen, die auch das Missy Magazin bewegen. Da wundert es nicht, dass Yaghoobifarah nicht nur gefragte Gesprächspartnerin, sondern auch Mitglied des fünf-köpfigen Redaktionskollektivs ist.
Vor circa einem Jahr hat die Redaktion neue Büroräume in der Anklamer Straße bezogen. Nach der Gründung des Magazins in Hamburg zog die Redaktion erst in die Nähe der Hackeschen Höfe. Als vor einigen Jahren klar wurde, dass sie die dortigen Räumen verlassen müssen, hatten sich alle bereits darauf eingestellt, irgendwo außerhalb des S-Bahnringes zu ziehen, doch dann fand man Unterschlupf in der Anklamer Straße in Räumen der WeiberWirtschaft, die hier Europas größtes Gründerinnen- und Unternehmerinnenzentrum aufgebaut hat. „Hier fühlen wir uns sehr wohl und freuen uns auf Synergieeffekte, wenn wir endlich wieder alle vor Ort im Büro arbeiten können“, sagt Chefredakteurin Dominique Haensell am Telefon, die zur Zeit Anna Mayrhauser in Elternzeit vertritt.
Aber bevor in die Zukunft geschaut wird, soll der Blick zurück zu den Anfängen gehen. 2008 taten sich die Kulturwissenschaftlerinnen Sonja Eismann, Stefanie Lohaus und Chris Köver zusammen, um Popkultur für Frauen zu machen, so der damalige Untertitel. Vorbilder waren die englischsprachigen Magazine Bust und Bitch, die beide einen Popkulturschwerpunkt hatten, und mal eine lockerere, mal politisch-theoretischere feministische Perspektive einnahmen.[1] Es ging darum, vor allem weibliche Musiker*innen vorzustellen. Der Untertitel wurde nach zwei Jahren in Magazin für Pop, Politik und Feminismus geändert – die politisch-strukturelle Dimension, die das Magazin von Anfang an verfolgte, sollte stärker sichtbar werden.
Die Bandbreite der Formate und Themen im Heft ist groß: Neben der Edutainment-Abteilung, in der neben musikalischen Neuveröffentlichung auch Bücher, Zines, Serien und Filme vorgestellt werden, gibt es pro Ausgabe einen thematischen Schwerpunkt, der im Dossier aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet wird (in der aktuellen Ausgabe geht es zum Beispiel um Fetische). Und es gibt wechselnde Kolumnen wie: „Aufschlag“, „Banden bilden“, „Lieblingsstreberin“, „Styleneid“. Das Ergebnis ist eine einzigartige Mischung zwischen feministisch-aufklärerischen Inhalten und (feuilletonistischer) Unterhaltung: Neben Modestrecken und Kochrezepten, gab es auch Rubriken wie „Technik“ und „Mach es selbst“, mit Anleitungen zum Selbermachen, in denen mit dem Klischee der Technik- und Handwerk-unaffinen Feministin aufgeräumt wurde. Mit der Zeit kamen neue Rubriken dazu oder wurden umbenannt. So heißt „Untenrum“ heute „Sex & Körper“ und informiert über das Polyzystische Ovarialsyndrom oder Vulvodynie. Aus dem „Eltern-ABC“ wurde „Hä? – Ein Glossar gegen die Panik der Wörter“, in dem über die (Nicht-)Verwendung von Begriffen wie BpoC oder Abtreibung und über Gender-Schreibweisen aufgeklärt wird.
Schon an den Rubriken und Titeln lässt sich ablesen, dass das Magazin auf Verschiebungen im Diskurs und aktuelle Debatten reagiert. Erneuerung gehört zum Konzept – das betrifft sowohl die Inhalte als auch die Sprachregelungen. Chefredakteurin Dominique Haensell spricht von einer flexiblen, nicht-binären Grundhaltung und der Überzeugung, dass Sprache beweglich ist. Sie sagt: „Wir lernen ständig dazu und sind im stetigen Austausch mit betroffenen Communities, was neue Schreibweisen betrifft.“
Das Missy-Team, Screenshot: Imagefilm Missy Magazine 2020 © Systrar Productions
Flexibel und kollektiv sind auch die Struktur der Missy selber. Das hat sich in der Corona-Krise erneut bewährt. Weil der Verkauf in Kiosken und Bahnhofsbuchhandlungen stark eingebrochen ist, hat das Team kurzfristig umdisponiert und eine Einzelheftaktion gestartet, die dazu führte, dass diverse Ausgaben per Hand verpackt und zur Post gebracht wurden. „Das ist natürlich ein Plus, dass wir so etwas in kurzer Zeit stemmen können, aber es ist wahnsinnig viel Aufwand und nicht nachhaltig“, sagt Haensell. Um langfristig die Strukturen zu ändern und sich an die veränderten Rezeptionsgewohnheiten anzupassen, wurden die digitalen Angebote in den letzten Jahren sukzessive ausgebaut – unter anderem mit Hilfe zweier Crowdfundingkampagnen. Momentan wird daran gearbeitet, mehr Angebote für Abonnent*innen bereitzustellen.
Die Schattenseiten dieser Struktur liegen auf der Hand. Es gibt keine Vollzeitstellen und es ist üblich, dass sich die Mitarbeiter*innen mit anderen Jobs querfinanzieren. Besonders für den großen Pool an freien Autor*innen sind die Honorare eher Soli-Beiträge. Das war von Anfang an so. Stefanie Lohaus erzählt 2016 in einer Radiosendung, dass sie nach der Gründung gesagt habe, dass sie nach einem Jahr wieder aufhören werde, wenn sie nicht davon leben könne. „Tatsache ist, dass ich immer noch nicht davon leben kann, aber nicht aufgehört habe. Aber es wird graduell besser, auch dadurch, dass sich ausgehend von der Missy Aufträge und Anfragen ergeben, mit denen ich Geld verdienen kann.“[2]
Lohaus hat die Redaktion mittlerweile verlassen, an nachhaltigeren Strukturen wird weiter gebastelt. Es ist ein Drahtseilakt, vor allem weil das Magazin nach außen für eine angemessene und gleichberechtige Entlohnung kämpft. „Oft bleibt uns nichts anderes übrig, als die prekären Bedingungen transparent zu machen“, sagt Haensell. Das haben sie auch gemacht, als sie für die Ausschreibung mehrerer Praktikant*innenstellen heftig kritisiert wurden. In einem Statement nehmen sie beherzt und offen Stellung: „Wir verstehen, dass ihr an uns mit einem anderen Gerechtigkeitsanspruch herantretet, weil wir uns inhaltlich mit Fragen von Klassismus und dessen Intersektionen mit anderen Diskriminierungskategorien beschäftigen und gesellschaftliche Kritik üben. Aber: Wenn wir im Heft neoliberale Strukturen kritisieren, geschieht das nicht aus einer Blase heraus, die sich auf magische Weise außerhalb vom Kapitalismus befindet. Leider lebt auch Missy von der Selbstausbeutung vieler engagierter Menschen.“[3]
Immerhin bekommen die Praktikant*innen eine Aufwandsentschädigung von 250 € und dürfen den Newsletter betreuen und unter ihrem Namen verschicken. Dennoch scheint Selbstausbeutung der Preis dafür zu sein, dass das Magazin unabhängig ist. Es verfügt über kein großes Verlagshaus im Hintergrund, das bei Durststrecken aushelfen kann. Stattdessen gibt es eine solidarische Community, die ähnlich wie bei der taz, das Magazin durch Abonnements und bei Bedarf mit Crowdfundig supportet.
Für Mitgründerin Sonja Eismann ist das selbstverständliche Arbeiten auf prekärem finanziellem Niveau bei gleichzeitig großer Unterstützung der ebenfalls prekären Community ein wesentlicher Grund, weshalb es die Missy nach seit 12 Jahren immer noch gibt, während viele anderen Musikzeitschriften eingegangen sind. Als weiteren Vorteil nennt sie, dass das Magazin nicht nur auf Popkulturanalyse, sondern auch auf dezidiert politische Perspektiven gesetzt hat.[4]
Man könnte ergänzen, dass die kollektive Struktur die Missy davor verwahrt, irgendwann einmal zu einer One-Woman-Show zu werden wie die Emma unter Alice Schwarzer – obwohl auch die Missy-Gründerinnen zu Sprachrohren des Feminismus geworden sind und häufig öffentlich auftreten, wobei sie eine andere Generation als Schwarzer vertreten. Diese Auftritte sind eine Möglichkeit, queer-feministische Anliegen in die Öffentlichkeit zu tragen und gleichzeitig keine leichte Aufgabe, weil sich die Herausgeberinnen – obwohl sich der Diskurs in den letzten Jahren merklich verändert hat – oftmals heftiger Kritik und Shitstorms ausgesetzt sehen. Darauf angesprochen, antwortet Haensell, dass es mittlerweile so etwas wie eine Routine im Umgang damit geben würde und sie klar differenziert würden: „Wenn Kritik aus der Community kommt, hören wir genau zu, an undifferenzierter Kritik arbeiten wir uns nicht ab. Manchmal ist Nicht-Reagieren besser, um ein Ausbrennen zu vermeiden.“
Ausbrennen ist ein gutes Stichwort, um noch mal auf den Spagat zu sprechen zu kommen, den die Macher*innen bewältigen müssen. Denn zusätzlich zu den Inhalten, den öffentlichen Auftritten und der medialen Präsenz sowie der Care-Arbeit nach innen muss alle zwei Monate ein neues Heft auf den Weg gebracht werden, muss mit Anzeigen versorgt, lektoriert, gestaltet und vertrieben werden. Das ist viel Arbeit, die zudem koordiniert werden muss. „Bei diesen Prozessen ist es eindeutig von Vorteil, dass es im Team sowohl Kontinuitäten als auch frischen Wind gibt“, sagt Haensell. Die Tatsache, dass einige wie die Grafikerin Daniela Burger schon lange dabei sind oder wie Haensell nach einer Pause wiederkommen, ist ein Zeichen dafür, wie erfüllend diese Arbeit trotz aller Widrigkeiten ist.
[1] Vgl. Stefanie Lohaus in: Feministische Publikationsformate von Courage und Spare Rib über das Missy Magazin bis zu 10 nach 8, Missy Radio, 23.10.2016, https://www.mixcloud.com/rebootfm/missy-radio-34-feministische-publikati…
[2] Ebd.
[3] https://missy-magazine.de/blog/2020/09/17/feedback-zu-eurer-kritik/
[4] Vgl. Sonja Eismann: Die Letzten machen das Heft zu, in: The Big Good Future, Magazin zur Plattform Creative City Berlin, 2019, S. 52-55.