Der schmale langgezogene Raum mit dem großen Schaufenster zur Straße ist voll von Menschen als Regine Ehleiter, Kuratorin der Ausstellung „To Be Read”, einige einführende Worte spricht. Sie steht vor einem gelben Vorhang, hinter dem die Arbeitsplätze des Grafikbüros von Anja Lutz liegen. Lutz hat sich auf Künstlerbücher spezialisiert und betreibt den Verlag The Green Box.
Spielerische Buchstaben
Aufgrund der Vielzahl der Exponate von Mirtha Dermisache ist der Blick ständig am Wandern. Ausgestellt sind ihre Künstlerbücher, Postkarten und Zeitungen sowie Arbeiten, die in Katalogen oder Heften veröffentlicht wurden. An einer Wand hängen mehrere Seiten ihres „Diarios“, das an eine Zeitung erinnert. In unterschiedlicher Größe erstrecken sich Textblöcke über die Seiten, wobei die Buchstaben mal abstrakter, mal spielerischer aussehen, sich wie Linien durch die Zeilen ziehen oder als Strich nach oben weisen.
Ein eigentümlicher Eindruck stellt sich ein: Das Format ist einerseits vertraut und sofort identifizierbar, doch gleichzeitig ist es unlesbar und entzieht sich einem. Die klare Strukturierung wird kontrastiert durch die mitunter wilden Buchstabenimitationen. Mal erinnern diese an arabische Schrift, an anderer Stelle gleichen sie chinesischen Schriftzeichen oder den Symbolen des Morsealphabets. An der zweiten Längswand sind mehrere aufgeschlagene „Libri“ auf einem Regalbrett präsentiert, die man mit Handschuhen durchblättern kann. Hier wurde dem Selbstverständnis der Künstlerin gefolgt, der es wichtig war, dass ihre Werke zum Anfassen sind und eine gewisse Nahbarkeit bzw. Öffentlichkeit haben. Passend dazu ist eine ihrer Aktionen dokumentiert, die sie 1972 durchführte und bei der sie mehrere ihrer Zeitungen an den Lehnen der Sitze in einem öffentlichen Bus befestigte. Die Ausstellung komplementiert eine Regalkonstruktion inklusive Vitrinen, die in der Mitte des Raumes steht. Hier sind Publikationen, eine Postkartenserie und Zeichnungen zu sehen.
Win-Win-Situation
Gerade als ich mich zu wundern beginne, wie diese institutionell anmutende Ausstellung in diesem Raum gelandet ist, erzählt Regine Ehleiter die ungewöhnliche Entstehungsgeschichte der Ausstellung. Es handelt sich um eine Kooperation des Exzellenzclusters „Temporal Communities: Doing Literature in a Global Perspective“ der Freien Universität Berlin mit dem Projektraum A—Z von Anja Lutz und dem Nachlass der Künstlerin Legado Mirtha Dermisache in Buenos Aires. Ehleiter und Lutz kannten sich bereits, als 2022 bei einem Symposium in Halle die Idee entstand, gemeinsam diese Ausstellung zu machen.
Es ist eine Win-Win-Situation: Während die Grafikerin Lutz ein gestalterisches Interesse an Dermisaches Arbeitsweise mitbringt, davon fasziniert ist, wie sie „Schrift“ anordnet, forscht die Kunsthistorikerin Ehleiter am besagten Exzellenzcluster „Temporal Communities“ zu literarischen Schreibpraktiken zeitgenössischer Künstler*innen. Auch ihre Doktorarbeit hat sie über Publikationen als Ausstellungsorte in den 1960er Jahren geschrieben. Ehleiter bringt über das Exzellencluster eine Finanzierung mit, Lutz gestaltete währenddessen die Ausstellungsarchitektur.
Die Künstlerin als Geheimtipp
Für beide war Dermisache, die lange als Geheimtipp galt und auch jetzt noch weitgehend unbekannt ist, eine Entdeckung. Auch weil ihr Schaffen größtenteils unter den Bedingungen politischer Repression während der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 entstand, „als eine widerständige Geste [ge]deutet [werden kann], die die Leere der staatlichen Propaganda widerspiegelt und den Wunsch einer Künstlerin ausdrückt, trotz widriger Umstände zu ‚schreiben‘ und ihr Werk zu verbreiten“, wie es im Pressetext heißt.[1]
Die Verwendung der Anführungszeichen beim Wort „schreiben“ ist kein Versehen. Denn inwieweit lässt sich in Anbetracht der unleserlichen Schrift von einem Schreiben sprechen? Peter Schwenger verwendet für diese Art von „writing that does not attempt to communicate any messages other than its own nature as writing“ den Begriff “asemic writing” und bezieht sich dabei auf Gillo Dorfles, der den Begriff 1974 auf Arbeiten von Irma Blank angewendet und damit für die bildende Kunst erschlossen hat.[2] Das war in einer Zeit, als Umberto Eco das Buch Das offene Kunstwerk (1973) veröffentlichte, Roland Barthes den Tod des Autors (1967) ausrief und sich die Literaturwissenschaft mit Semiotik und dem Reich der Zeichen beschäftigte.
Für Ehleiter zeichnet sich Dermisaches Praxis dadurch aus, dass sie nicht laut, sondern leise ist. Dadurch, dass sie nicht mit politischen Parolen arbeitet, sondern mit einer Haltung, die Leser- und Betrachter*innen etwas zutraut. Sie erzählt, dass Dermisache sich im Laufe ihres Lebens zusehends auf Kunstvermittlung und Erwachsenenbildung konzentriert habe – etwas, das aus Ehleiters Perspektive ebenfalls als politische Praxis verstanden werden kann.
Ein Brief von Roland Barthes
Ein Highlight der Ausstellung, das Demirsaches Einfluss als Künstlerin deutlich macht, ist ein Brief des französischen Autors und Philosophen Roland Barthes. Dieser hatte vom argentinischen Filmemacher Hugo Santiago, der mit Dermisache befreundet war, eines ihrer Bücher bekommen und war so beeindruckt, dass er ihr 1971 schrieb. In seinem Brief lobt er ihre Arbeit und hebt hervor, dass sie durch ihre Unlesbarkeit „die Idee, die Essenz der Schrift“ selbst andeuten würde. Dermisache konnte nicht nur mit dieser Beschreibung viel anfangen und fühlte sich in ihrem Tun bestätigt, sie berichtet zudem, dass Barthes’ Geste ihrer künstlerischen Karriere Auftrieb gegeben habe.[3] In der Ausstellung sind neben dem Brief zwei Bücher Barthes’ ausgestellt und ein Exemplar des experimentellen Magazins Luna-Park aus dem Jahr 1976, in dem beide mit sehr ähnlichen Arbeiten vertreten sind, was die Vermutung bestätigt, dass sie sich gegenseitig inspirierten.
Eine eigens zur Ausstellung entstandene Broschüre auf Englisch enthält umfangreiche Informationen und Abbildungen. Zusätzlich dazu liegen auf dem Fensterbrett Nachdrucke von Postkarten und einer vierseitigen Publikation der Künstlerin zum Mitnehmen aus. Mit dieser großzügigen Geste greifen die Initiator*innen den Gedanken Dermisaches auf, dass ihre Arbeiten durch die Welt reisen und ein breiteres Publikum erreichen als Einzelwerke in Museen oder exklusiven Privatsammlungen.
Die Ausstellung hat übrigens noch einen Satelliten: Auf einem kleinen öffentlichen Aushang in einer Backsteinsiedlung im Wedding, der vom Projektraum oxfordberlin bespielt wird, sind zwei Zeichnungen von Dermisache rund um die Uhr zu sehen.
Infos: Mirtha Dermisache: To Be Read
Orte:
A—Z, Torstraße 93, 10119 Berlin, geöffnet donnerstags von 14 bis 18 Uhr und nach Vereinbarung.
oxfordberlin, Oxforder Straße 3-11, 13349 Berlin (durchgehend zugänglich)
Am Sonntag, den 11.8.2024 findet um 15 Uhr eine geführte Tour mit Regine Ehleiter und Anja Lutz durch die Ausstellung statt.
Weitere Infos:
Ein Mitschnitt der Veranstaltung „Reading Artists’ Books: Asemic Writing“ vom 18.7. ist auf Vimeo veröffentlicht:
[1] https://www.fu-berlin.de/presse/informationen/fup/2024/fup_24_085-temporal-communities-ausstellung/index.html
[2] Vgl. Mirtha Dermisache: To Be Read, Broschüre zur Ausstellung, Berlin 2024, S. 22.
[3] Ebd., S. 24.