HL: Eure Inszenierung spannt einen Bogen von Theweleits Konzept des „soldatischen Mannes“ zu „aktuellen Formen einer toxischen Männlichkeit.“ Du spielst den Jens. Was ist das für einer?
Svenja Liesau: Der Jens ist ein Normi. Also am besten kann ich ihn, glaube ich, damit beschreiben, dass ich nach jeder Vorstellung – und das habe ich noch nie erlebt – immer angesprochen werde von Menschen, die mir sagen: Du hast meinen Nachbarn gespielt. Mit inbrünstiger Überzeugung sagen sie, dass ich absolut genau deren Nachbarn getroffen habe. Und das heißt ja was, wenn so viele Menschen das Gefühl haben, ihren Nachbarn gesehen zu haben. Also der Jens ist überall, aber dieser Jens hat sich auf den Weg gemacht. Der fängt an was zu reflektieren und zu verstehen und nachzudenken über die Gesellschaft, in der wir alle leben. Er ist noch nicht angekommen, aber er ist an was dran, würde Jens sagen. Er ist etwas auf der Spur.
HL: Was oder wem ist er auf der Spur?
SL: Den überwinternden Nazis und dem Wunsch, das Fremde wegzuhalten. Den Fascho-Ideologien, die er um sich herum immer mehr wahrnimmt. Die aber immer da waren. Die Gewalt, die ganz schnell einen ganz hohen Punkt erreicht ist, was ihm Angst macht. Mehr Angst, als das Fremde an sich.
HL: 1200 Seiten. Bilder von Schergen, Schlägern, Fetischisten, Soldatenaufmärschen und Rockstars. Jugendstil-Gemälde von nackten Frauenkörpern und Comics. Die Bilder sind mit der Struktur des Textes verwoben. Es ist kaum zu unterscheiden zwischen Fremd- und Eigentexten, Zitaten und Fußnoten, Quellen und Quellenvereisen. Das Ding erschlägt dich. Ich hatte tatsächlich wiederholt Albträume, nach der nächtlichen Lektüre.
Wie hast du dir den Jens erarbeitet?
SL: Es gibt im Buch Passagen, die man gut versteht, denen man folgen kann, wie einer soziologischen Arbeit. Man beginnt Gedanken dazu zu entwickeln, anhand derer man sich eine Struktur erarbeitet. Mit der Zeit beginnt man Theweleits Thesen zu verstehen, man kommt dem Stoff langsam nahe und hat das Gefühl: jetzt kriege ich langsam den Kopf über Wasser. Und dann kommt wieder so eine Welle an Primärliteratur von diesen Menschen mit diesen grausamen, frauenverachtenden Gewaltfantasien, die einen untertaucht.
Das ist super schwer, weil um das alles verstehen zu können, muss man ganz tief eintauchen in diesen Albtraum, vor allem auch in dieses Unterbewusste. Ich versuche meistens sehr konkret zu arbeiten, weniger poetisch.
HL: Theweleit hat 300 Tagebücher dafür gelesen.
SL: Ja, und Romane. Also auch ganz viel fiktionales Zeug, was dem aber auch in nichts nachsteht. Ich bin durch verschiedene Phasen mit diesem Buch gegangen. Zwischendurch war ich total abgefuckt. Bitte nicht noch ein Beispiel, ich will nicht noch eins. Über längeres Lesen kam ich dann doch zu dem Punkt, an dem es total gut war so beladen zu werden, weil ich wirklich jetzt das Gefühl habe, dass ich das und mich das durchdrungen hat. Und diese intensive Auseinandersetzung wird nie verschwinden. Anders als wären das 150 Seiten gewesen, These, These, These und man hätte dann verstanden, worum es geht.
HL: Theweleit beschäftigt der „Soldatische Köper“, geformt durch frühkindliche Disziplinierung, perfektioniert in wilhelminischen Kadettenschulen. Der „nicht-zu-Ende-geborene Mann“, der, der keiner Distanzierung und Abgrenzungskompetenz habhaft ist, verbarrikadiert seine „frei fließenden Gefühle“ hinter einem „Körperpanzer“. Das Resultat ist eine „gewaltsame Besessenheit gegen den weiblichen Körper.“
SL: Alles, was mit Trockenwerden und sich nicht mehr einnässen oder Tränen zu tun hat, wurde den Jungs damals in allerfrühster Kindheit aberzogen. Flüssigkeiten wurden als strafenswert erfahren.
Die Einflüsse von außen, die Emotionen, Kränkungen, Gewalt, verarbeitet man aber zum Beispiel auch durch Tränen. Wenn man sich das nicht erlaubt, muss man zwangsläufigerweise vermeiden, überhaupt angetastet werden zu können. Und dafür muss man sich einen starken Körperpanzer aufbauen, der all dieses auch Warme und Weiche nicht mehr zulassen kann. Dieser Körperpanzer ist immens wichtig für diese Männer. In diesem Panzer ist aber nichts mehr, auch kein Rückgrat, der ist hohl. Und wenn man diesen Körperpanzer aufbrechen oder einritzen würde, bricht er in sich zusammen und dann können sie nicht überleben.
HL: Der Matsch der Eingeweide wird sichtbar durch die Wunde im Körper des “Nicht-zu-Ende-Geborenen”. Der beherrscht wird von der psychotischen Angst vor Auflösung, dem Ich-Zerfall, vor dem Fließenden, Weichen, vor jeder Form des Weiblichen.
SL: Weil eben beides in der Mutter vereint ist, das Verbot des Weinens, des sich Einnässens und die Strafen und gleichzeitig auch die Liebe und die Wärme. Wenn sie überhaupt in diesem Zeitalter zu suchen waren, dann noch eher bei der Mutter als bei einem abwesenden, strafenden, schlagenden Vater. Die Mutter ist die Hassfigur Nummer eins, weil sie am ehesten dazu in der Lage ist, diesen Körperpanzer zu beschädigen. Über die Mutter hinausgehend wird später alles, was zum Beispiel Liebe zu anderen Frauen angeht, die diesen Männern in ihrem Leben begegnen, verunmöglicht. Sie können nichts anderes außer Gewaltphantasien zuzulassen. Wenn die Frauen das Feuchte, Weibliche, die Flüssigkeiten repräsentieren, müssen sie natürlich auch absolut gemieden werden.
HL: Theweleit denkt auch über die Wichtigkeit des Sterbenlernens nach.
SL: Den jungen männlichen Körpern wurden über Jahre hinweg Schmerzen zu gefügt, bis der Körper in diesem Körperpanzer im Schmerz etwas identifiziert, was als Gefühl erkannt wird. Ein Sichselberspüren über den Schmerz sozusagen, als anderes Angebot für schöne Gefühle wie Liebe, Zuneigung, sich kümmern um andere. Der Schmerz wird eingesetzt damit sich diese Männer noch spüren können, auch noch Lust empfinden können, oder überhaupt ihren eigenen Körper wahrnehmen können über Schmerz und Gewalt. Ich fühle Schmerz, also bin ich. Das ist so unglaublich traurig. Genug Liebe kann es ja gar nicht geben. Und Verständnis und Zuhören und sich der Anstrengung aussetzen, den oder die andere unbedingt verstehen zu wollen auch nicht. Das ist der Prozess, durch den der Jens geht.
HL: Aus dem Jens spricht diese tiefe Angst vor dem eigenen Inneren, die Angst vor dem Fremden in einem selber. Die projiziert er zwar nach außen, er versucht das Außen aber nicht zu bekämpfen, weil er selber mit sich noch nicht im Reinen ist. Er erkennt die Wahl zwischen Leben oder Sterbenlernen.
Und denkt dabei zum Beispiel über die Farben der Deutschen Reichsfahne nach: Weiß, Rot, Schwarz.
SL: Auch in der Reichsfahne spiegeln sich ja die Triebziele dieser soldatischen Männer. Der blutige Brei, der entleerte Platz und der Blackout des Kampfrausches. Das Weiß, der entleerte Platz, die Ruhe vor der Angst, dass der Körperpanzer zerstört werden könnte, wird durch die Republik ausgetauscht. Das Weiß wird ersetzt durch das Gold. Durch das Geld, durch den Kapitalismus, durch das Hamsterrad, in dem der kleine Mann gefangen ist.
HL: Der Jens ist auch Teil eines Chors.
SL: Das ist der Bro Chor, Bro wie Brothers. Wir haben nach vier Männertypen gesucht, die vom Publikum schnell wiedererkannt werden können. Stereotypen, um die sich alle versammeln können, so unterschiedlich sie auch sind in ihren Lebensweisen. Die vielleicht bei Junggesellenabschieden zusammenkommen und sich über Klassen hinweg einig sind, in ihrem geteilten Frauenhass und ihrer gemeinsamen Männlichkeit, die Welt zu regieren. Im Chor kommen sie zusammen und verbreiten ihre hassgetränkten Sätze.
Und finden Nachkommende. Das sind sie, die neuen Weichen, Schönen Gepflegten. Unfertig geboren gebären wir uns wieder.
HL: Jens tritt freiweillig aus dem Chor aus.
SL: Ja. Und sein letzter Satz lautet: Und was, wenn wir uns auflösten, alleine atmen?
HL: Der Jens schlüpft auch gerne in die Rolle des Mackers. Er holt sich an einer Stelle des Stücks Verstärkung aus dem Publikum, jemanden der ihm dabei hilft, das Bühnenbild umzubauen.
SL: Genau, er holt sich jemanden aus dem Publikum, um sich dann hinzustellen, so auf die Art: du machst und ich gucke. Am Ende sind es eben doch nicht die Anpacker, sondern die Beschwerer, die, die sich die Welt so und so vorstellen. Und mir müsste es eigentlich viel besser gehen usw.
Und wenn man dann fragt: Ja, aber wie versuchst du das denn zu erreichen? Was ist denn mit Abendschule? Ja nee, das kann ich sowieso nicht erreichen. Und die da oben und irgendwelche anderen Schuldigen usw.
HL: Also, die Verantwortung immer abgeben.
SL: Das ist einfach ein ganz typisch männeriges Ding. Der Jens sagt dann auch, während er zuguckt und der Zuschauer das alleine macht: Wenn das jetzt abfällt, ist das deine Schuld.
HL: Die Person aus dem Publikum hantiert an einem Bühnenprospekt. Auf der Vorderseite ist der Angelus Novus von Paul Klee zu sehen, ein Sinnbild des Nachdenkens über die Geschichte.
SL: Auf der Rückseite ist das Eismeer von Caspar David Friedrich. Deutsche Romantik. Etwas worauf sich alle Deutschen einigen können. Mirjam Schaal, die Bühnenbildnerin hat die Bilder in Neonfarben neu aufgelegt. Es sieht alles vergiftet aus, so als würde sich ein Schimmelpilz da durchfressen. Das Ganze wird unterstützt durch die Sound-Collagen von Oskar Mayböck aus Vogelgezwitscher und verzerrten Gitarrenriffs. Das ist alles ein bisschen unheimlich düster und atomkatastrophenartig.
HL: Der Jens sächselt.
SL: Es ist so ein bisschen gemischt: Magdeburgerisch, Sächsisch, Berlinerisch. Eigentlich wollte ich gerne alle deutschen Dialekte sprechen innerhalb dieses Monologs, dass die sich abwechseln. Ich versuche das über die Vorstellungen noch zu schaffen, oder alle Dialekte abzubauen. Irgendwie muss ich mich noch entscheiden, da bin ich noch nicht ganz am Ziel angelangt.
HL: Für seinen Schlussmonolog schiebt er einen übergroßen Grill auf die Bühne, den er, wie er sogleich mitteilt, im Adventskalender gefunden hat.
SL: Den hat er aber von eBay. Wie wir den in der Produktion auch. Wohlstand ja, aber es gibt dann immer noch die Reicheren und die Mächtigeren. Und dann gibt es Kredite abzuzahlen und die kleine Rente, vor der man dann Angst hat, obwohl man sich das ganze Leben abgemüht hat. Jens fühlt sich schlecht behandelt vom System und vernachlässigt. Aber dieser Jens will keine Gewalt und das hat er über das Stück sozusagen gesehen.
HL: Woher kommen wir? Wohin gehen wir? – Theweleits Kernfragen. Der Jens hat vielleicht kapiert, dass es nicht ganz unwichtig ist, wie er geht.
SL: Jens hält seinen Monolog am Ende auch so, als hätte er Theweleit gelesen und diesen Abend durchlebt, der auch gewaltvoll war. Er hat gespielt und am Ende verstanden, dass es nicht das ist, was er will. Ich glaube nicht, dass er schon weiß, was er will oder wie er mit Zuwanderung oder Geflüchteten umgehen soll.
Ich wollte aus dem Abend mit einer Utopie herausgehen und die stärkste mögliche, die ich mir vorstellen kann ist, dass so ein Normi, der nicht der Extremste von allen ist, aber eben in einem Alltagsrassismus und in einer alltäglichen Misogynie drinsteckt, einer, der die Masse repräsentiert, dass gerade der sich auf den Weg macht.
HL: Am Ende holt er Ketchup aus dem Kofferraum.
SL: Als eine einladende, willkommen heißende Geste. (lacht)