„Die Galerie ist für mich wie ein ganz langes Schiff, das hier in Moabit auf der Turmstraße vor Anker liegt.“
Veronika Witte ist seit Juni 2017 künstlerische Leiterin der Galerie Nord und des Kunstvereins Tiergarten und somit die neue Kapitänin des Galerieschiffes.
Tatsächlich hat die lang gestreckte Fensterfront der Galerie Nord etwas von einem großen Dampfer. Vor den Galeriefenstern auf dem Gehweg stehen Bänke wie auf einer Uferpromenade und laden neugierige Passanten dazu ein, sich zu setzen und Einblick ins Innere des Schiffsrumpfes zu nehmen. Für Veronika Witte ist der Vitrinencharakter so direkt im Kontakt mit der Straße einmalig: „Die Leute kommen nicht daran vorbei und es findet per se eine Auseinandersetzung statt.“
Für das Interview begeben wir uns in die Küche, also in die Kajüte des Galerieschiffes. Es geht vorbei an Exponaten rund ums Thema Tiefsee. Wie passend, denke ich und tauche weiter ab in die nautischen Erlebniswelten der Galerie. „dark, liquid“ ist der Titel der von Julia Heunemann kuratierten Ausstellung und der Untertitel verrät, dass es ums Wissen und Nicht-Wissen über das Meer geht. Bei vielen Objekten weiß man wirklich nicht, ob es sich um Fundstücke, naturwissenschaftliche Objekte oder um Werke eines bildenden Künstlers handelt. „Ich mag diese Verunsicherung der Kontexte“, sagt Witte und schließt an: „Kunst generiert Wissen und Wissen generiert Bilder. Es geht um Schnittstellen von Kunst und Wissenschaft und das Meer als etwas, über das wir noch weniger wissen als über den Kosmos.“
Ausstellungsansicht “dark, liquid” mit künstlerischen Arbeiten von Angela Glajcar (Mitte, courtesy Angela Glajcar und Galerie Nanna Preußners) und Rona Lee (rechts) sowie Leihgaben vom GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel (Vitrine)
Ich frage Veronika Witte, ob sie sich eher zu einer Expedition ins All oder auf eine Forschungsreise in die Tiefsee begeben würde. Eben noch ganz im Nautischen verhaftet, erstaunt sie mich mit einer klaren Entscheidung für den Kosmos. Wegen der schlechten Sichtverhältnisse auf dem Meeresgrund bevorzuge sie das All.
Also stelle ich mir die Galerie unter der Leitung von Veronika Witte nun doch eher als Raumschiff vor und möchte wissen, zu welcher Art künstlerischer Welträume die Galerie künftig Kurs aufnimmt.
Ihre Vorliebe für spartenübergreifende Ansätze möchte sie als neue Handschrift der Galerie einbringen, verrät mir Veronika Witte. Neben den Positionen zeitgenössischer Bildender Kunst, die weiterhin Programm-Schwerpunkt bleiben, möchte sie in der Galerie künftig auch Positionen aus Theater und Musik in Form einer künstlerischen Ausstellung zeigen. Geplant seien Konzerte und Inszenierungen dramaturgischer Räume. Ihre Vorliebe für interdisziplinäre Ansätze führt sie zurück auf ihre frühe Begeisterung für die Inszenierungen und Konzerte von Laurie Anderson. „Die Totalität des künstlerischen Aktes war so überzeugend, dass sich keine Frage nach Sparte gestellt hat.“ Witte beeindruckte es stark, wie sich Anderson gleichzeitig durch Musik, Sprache und Performance ausdrückte und sie versuchte selbst über lange Jahre hinweg zusammen mit einer Tänzerin, Bildende Kunst mit Bewegung zu verbinden. Auch im szenischen Raum ist Witte zuhause. Bühnenbildnerin sei ihr erstes Berufsziel gewesen, verrät sie mir.
Gefragt nach ihren ersten prägenden Begegnungen mit Bildender Kunst muss Witte einen Moment überlegen. Sie sei auf dem Land großgeworden, antwortet sie zögerlich, fernab von jeglicher Kunst und es sei eher die Musik gewesen, mit der sie zuerst in Kontakt kam. Als Tochter und Enkelin eines Kunstschmiedes war ihr allerdings die Frage der Gestaltung von Form in die Wiege gelegt worden. Als Kind tobte sie auf dem Schrottplatz herum und durfte Schrottplastiken schweißen. Mit sichtlichem Stolz erklärt sie: „Mit zwölf Jahren konnte ich schon schweißen.“
Künstlerisch inspiriert fühlte sie sich durch den Butoh-Tänzer Kazuo Ono und die japanische Gruppe Dumb Type aus den 80ern. „Mit ihren Performances haben sie viele Fragen rund um das Thema von Transformation, Auflösung, Digitalisierung und Entseelung von Körpern aufgeworfen, die mich geprägt haben und seitdem immer noch begleiten.“
Im Zeitalter völliger Offenlegung aller Daten bis hin zum genetischen Code bewegt Veronika Witte heute am meisten die Frage: „Wenn unser Körper kein Schicksal mehr ist, modifizierbar ist und mit der Entschlüsselung des genetischen Codes in der Keimzelle erforschbar ist, wer bestimmt dann, wie der Mensch zu sein hat, was gut und was schlecht ist?“ Witte gibt zu bedenken, dass das Potential von Mangel, von Imperfektion unterschätzt werde. Mit dem Thema Gentechnologie hat sie sich auch in der für sie wichtigsten eigenen Arbeit mit dem Titel „ISF – Institut für sozio-ästhetische Feldforschung“ auseinandergesetzt, die ein Meinungsforschungsinstitut simuliert. Die Installation beruht auf über 2000 ausgefüllten Fragebögen und Zeichnungen, in denen Menschen über die Zukunft des eigenen Körpers nachgedacht haben.
Ob es ihr schwer falle, die eigene künstlerische Praxis zurückzustellen, jetzt, wo die Arbeit als Leiterin und Kuratorin sie zeitlich voll in Beschlag nehme, möchte ich wissen. „Ich wusste ja, worauf ich mich einlasse und habe es mir gründlich überlegt“, antwortet sie. Sie betrachte die Galerie-Arbeit nicht als Gegenstück oder in Konkurrenz zu ihrer künstlerischen Praxis. „Kuratieren ist für mich auch eine Form künstlerischer Praxis, ich sehe sie als Erweiterung meiner persönlichen künstlerischen Praxis.“
Nun bitte ich Frau Witte um einen Ausblick auf das kommende Programm. Geplant sei eine Ausstellung mit dem Titel „Vom Wald“, verrät sie. Begleitet werden soll diese Ausstellung von einem umfangreichen Kunstvermittlungsprogramm. Witte erklärt: „Schüler werden durch die Ausstellung zur Auseinandersetzung mit dem Thema veranlasst und entwickeln ein eigenes Projekt, das dann später in der Galerie präsentiert wird.“ Die neue Leiterin der Galerie möchte dafür einen separaten Raum schaffen. Auf Kunstvermittlung legt sie besonderen Wert, vielleicht liegt es daran, dass sie vor ihrem Kunststudium einen Hochschulabschluss als Sozialpädagogin gemacht hat. Außerdem werde es in näherer Zukunft eine Ausstellung geben, die sich um den soziologischen Begriff der „Bubbles“ dreht, also um Identitätskonstruktionen, sowie eine Ausstellung, die sich dem Thema „Vietnam & 68“ widmet. Den gesellschaftspolitischen Geist ihres Vorgängers Ralf Hartmann möchte Witte bei alledem unbedingt weitertragen: „Es ist gut, wenn das Programm aneckt, denn die Galerie soll ein Ort der Auseinandersetzung sein und es ist wichtig, dass es eine Reibungsfläche gibt. Wenn wir immer nur sagen ‘Oh ja, wunderschön!’, ist der Gesprächsbedarf schnell erschöpft. Durch Streit entsteht eine Form lebendiger Kommunikation.“
Ausstellungsansicht “dark, liquid” mit künstlerischen Arbeiten von Reiner Maria Matysik (Vordergrund und Sockel), Rona Lee (Mitte oben) und Jenny Michel (hintere Wand) sowie Leihgaben vom GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel (Mitte unten)
Veronika Witte erinnert sich zurück. Sie kennt die Galerie Nord seit der Gründung und war bei der ersten Ausstellung als Künstlerin beteiligt. Moabit galt damals als ein kunstferner Ort. „In Mitte rümpften die Leute die Nase. Was hatte eine Galerie bloß in Moabit verloren?“
Inzwischen hat sich die Galerie etabliert und zieht viele Besucher aus der ganzen Stadt sowie auch Berlin-Besucher an. Auch erfreut sich die Galerie Nord inzwischen der Nachbarschaft einiger kleiner, aber feiner Kunst- und Projekträume. Witte findet das begrüßenswert.
„Es gibt sehr viele Künstler, die hier in Moabit arbeiten und ihre Ateliers haben.“ Einen Einblick in das reiche künstlerische Treiben Moabits erhält man beim Ortstermin, den der Kunstverein Tiergarten jedes Jahr veranstaltet. „Man erhält Zugang zu den Ateliers. Das ist etwas ganz Besonderes, wenn Künstler ihre Ateliers öffnen“, sagt Witte und ihre Augen leuchten.
Moabit findet sie spannend und lebt hier schon seit fast 20 Jahren. „Ein Viertel mit so vielen verschiedenen Menschen und Kulturen, das ist eine Bereicherung. Moabit ist noch gesund, ein ehrlicher und gut durchmischter Bezirk, trotz voranschreitender Gentrifizierung immer noch auf wunderbare Weise unaufgeregt.“
Für mich ist es nun Zeit, das aufregende Galerie-Raum-Schiff wieder zu verlassen. Als ich aus der Tür nach draußen ins Freie trete, leuchtet mir das Reklameschild der Spielothek „Merkur“ von nebenan entgegen. Das ist der bunte Mix Moabits, denke ich und stelle auch hier in direkter Nachbarschaft zur Galerie eine kosmische Verortung mitten auf der Turmstraße fest. Bald ist es 13 Uhr. Dann öffnet die Galerie Nord für reiselustige Passagiere, die sich auf Expedition begeben möchten hin zu einem Ort der Auseinandersetzung mit Formen der künstlerischen Strategien und gesellschaftspolitischen Themen.